REV-CONF 10.01.2004

Buchmalerei, Schatzkunst und Skulptur

Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart, 12.07.2003

Bericht von Miriam Gepp
Redaktion: Achim Timmermann

Buchmalerei, Schatzkunst und Skulptur in ottonischer und frühsalischer Zeit

Seit geraumer Zeit lässt sich in der deutschen Forschungslandschaft ein verstärktes Interesse an der Zeit der Ottonen feststellen. Dies äußerte sich neben vier großen Ausstellungen in den vergangenen zehn Jahren mit umfangreichen Katalogbänden ["Bernward von Hildesheim" (Hildesheim, 1993), "Europas Mitte um 1000" (vom Reiss-Museum Mannheim organisierte Wanderausstellung, 2000-2002), "Otto der Große und Magdeburg" (Magdeburg, 2001) und "Kaiser Heinrich II." (Bamberg, 2002)] vor allem in zahlreichen Einzeluntersuchungen und Aufsatzbänden. Neue methodische Ansätze schienen dabei die klassischen Fragestellungen nach Stil und Ikonographie weitgehend zu überlagern. So rückte etwa die Frage nach der Funktion von sakralen Gegenständen, Bildwerken und Handschriften ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Auch die seit den 1970er Jahren von Seiten der Historiker formulierte Diskussion um "Memorialaspekte" wurde von der kunsthistorischen Forschung aufgenommen und weitergeführt. Zu diesen konstruktiven Neuansätzen gesellte sich aber auch die Forderung, tradierte Forschungsgewissheiten von Schulzusammenhängen oder Vorlagenvermittlung neu zu überdenken.

Um diese Fragen aufzugreifen sowie über Aspekte und Perspektiven der Forschung zur ottonischen und frühsalischen Kunst zu diskutieren, fand am 12. Juli 2003 unter der wissenschaftlichen Leitung von Klaus Gereon Beuckers ein internationales Arbeitstreffen am Kunsthistorischen Institut der Universität Stuttgart statt, zu dem Wissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz, den Vereinigten Staaten und Italien zusammentrafen.

Den Auftakt in der Vormittagssektion zum Themenkomplex Buchmalerei bildete der Vortrag von Thomas Labusiak, der sich mit dem Problem der Schulfrage in der ottonischen Buchmalerei beschäftigte.

Da in frühmittelalterlichen Handschriften in der Regel direkte Hinweise auf Ort und Zeit ihrer Entstehung fehlen, basieren Definition und Strukturierung einzelner Malerschulen im wesentlichen auf den Ergebnissen stilistischer und ikonographischer Untersuchungen. Paläographische und textuelle Anhaltspunkte können weitere Aufschlüsse geben. Die ältere Forschung ging dabei tendenziell von hermetisch abgeschlossenen Herstellungsorten aus. Dass diese Vorstellung heute nicht mehr grundsätzlich gelten kann, sondern dass vielmehr enge Kooperationen zwischen verschiedenen Skriptorien - und damit auch eine gewisse Mobilität der Künstler - angenommen werden müssen, zeigt das Beispiel des vatikanischen Evangelistars (BAV, Ms. Vat. Barb. 711), dessen Schreiber eindeutig dem St. Galler Skriptorium zugewiesen werden konnten, die Miniaturenausstattung dagegen eng mit der Reichenau verbunden ist. Einen ähnlichen Befund liefert das bilderreiche Evangelistar des Trierer Erzbischofs Egbert (Stadtbibliothek Trier, Ms. 24), der die Entstehung der Handschrift als Gemeinschaftswerk von Malern bzw. Schreibern aus Trier und der Reichenau nahe legt. Auf den Austausch von Vorlagen deuten überdies motivische Parallelen in einer Reihe Reichenauer und Einsiedeler Handschriften hin.

Die innere, meist chronologische Gliederung einzelner Malerschulen basiert hauptsächlich auf der Vorstellung linearer Entwicklungsreihen bzw. der Unterteilung in Gruppen, die bestimmte Entwicklungsstufen vertreten. Dieses System chronologischer Gruppenbildungen produziert jedoch fast zwangsläufig Anachronismen, die weitere Unterteilungen erfordern. Wie sind etwa Handschriften zu bewerten, die wie das Reichenauer Sakramentar aus Petershausen (Heidelberg, UB, Cod. Sal. IX b) Elemente ornamentaler Ausstattung sowohl der vermeintlich früheren Anno- als auch der Ruodprechtgruppe enthalten? Oder Codices, bei denen ganz offensichtliche chronologische Divergenzen zwischen Schreiberhand und malerischer Ausstattung festzustellen sind? Solche Verschiebungen sind in einem kontinuierlich arbeitenden Skriptorium, in dem jederzeit (auch und gerade durch Einflüsse von außen) verschiedene Entwicklungsstufen aufeinander treffen können, üblicher, als es das Gruppenmodell wahrhaben möchte bzw. berücksichtigen kann. Hinzu treten bewusst gesetzte Unterschiede im Ausstattungsniveau, die von Auftraggeber, Bestimmungsort und ähnlichem abhängig sein können.

Anthony Cutler versucht diesem Problem auf dem Gebiet der mittelbyzantinischen Elfenbeinskulptur zu begegnen, indem er - unabhängig von der seit Adolph Goldschmidt und Kurt Weitzmann üblichen Gruppeneinteilung - sogenannte Cluster bildet, kleine Gruppen weniger Stücke, die er nach stilistischen, vor allem aber nach technischen Erwägungen miteinander verbindet. Auf das Problem der ottonischen Malerschulen übertragen, könnte diese Methodik etwa zur Klärung der Stellung der Reichenauer Schulhandschriften beitragen. Eine horizontale Verknüpfung mit den "Leitfossilien" der Liuthargruppe ist hier ein möglicher Weg, technische Untersuchungen (Pigmentanalyse etc.) und die systematische Analyse der ornamentalen Ausstattungen könnten ein differenzierteres Bild über die Arbeitsweise des augenscheinlich wohl organisierten Reichenauer Skriptoriums ergeben.

Mit der Rezeption karolingischer Vorbilder in ottonischer Zeit beschäftigte sich am Beispiel des in der Hofschule Karls des Großen entstandenen Lorscher Evangeliars (Alba Julia, Bibl. Batthyáneum, Ms. R. II. I, bzw. Vatikan, BAV, Pal. Lat. 50) Ulrich Knapp. Der Buchschmuck des Reichenauer Sakramentars (Heidelberg, UB, Cod. Sal. IX b), das zur frühen Ausstattung des 986 von dem Konstanzer Bischof Gebhard II. gegründeten Klosters Petershausen gehörte, umfaßt eine Doppelseite mit ganzseitigen Miniaturen der Ecclesia und des Salvator. Beide stehen in formaler Abhängigkeit zu der Majestas-Domini-Miniatur des kurz zuvor gleichfalls auf der Reichenau entstandenen Gero-Codex (Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Hs. 1948), die ihrerseits eine Nachschöpfung der Majestas-Domini-Miniatur des Lorscher Evangeliars darstellt. Trotz stilistischer Unterschiede wie der höhere Abstraktionsgrad der Figuren oder die reduzierte Formensprache der Ziermotive ist Lorsch als Vorbild unbestritten. Neben den beiden Reichenauer Handschriften steht das sog. Guntbald-Evangeliar (Hildesheim, Dom- und Diözesanmuseum, DS 33) in Nachfolge der Lorscher Miniaturen. Es gehörte mit weiteren Handschriften und liturgischen Gegenständen zum Stiftungsumfang der bernwardinischen Neugründung St. Michael in Hildesheim. Die entsprechende Majestas-Domini-Darstellung befindet sich hier zwischen dem Prolog und dem Haupttext des Matthäus-Evangeliums, unmittelbar hinter dem Autorenbild des Evangelisten. Freier in der Umsetzung weist auch sie markante Übereinstimmungen mit der Majestas Domini des Lorscher Evangeliars auf, die auf eine detaillierte Kenntnis des karolingischen Vorbilds hindeuten. Dies gilt noch stärker für eine verworfene Vorzeichnung des Evangelisten Johannes, die deutlich größer als das in Deckfarben ausgeführte Autorenbild der Handschrift ist. Linienführung und Komposition stehen der Johannes-Miniatur im Lorscher Evangeliar wesentlich näher als die Miniatur. Offensichtlich hat man sich für die Anfertigung des Buchschmucks in Hildesheim Vorlagenzeichnungen nach dem Lorscher Evangeliar beschafft. Die Motivation für die breite Rezeption des Lorscher Evangeliars sieht Knapp darin, dass das Aufgreifen besonders prestige- oder symbolträchtiger Vorlagen die eigene Stiftung aufwertete. Darüber hinaus machte das Zitieren prominenter Vorbilder die intendierte Rangstellung der Stiftung nach außen sichtbar.

Über Wege und Beweggründe für eine Rezeption von Vorlagen in der ottonischen Buchmalerei sprach Irmgard Siede. Im Gegensatz zur früheren Forschungsmeinung, die in den frühmittelalterlichen Skriptorien gleichbleibende und dauerhaft verwendete Hauptvorlagen voraussetzte, haben Untersuchungen der letzten Zeit ein weitaus differenzierteres Bild von Organisation und Betrieb ergeben, die der Rolle von Auftraggebern, Arbeitsteilungen in der Werkstatt, der Mobilität der Künstler und dem Austausch von Vorlagen mehr Gewicht zusprechen. Siede strukturiert die Rezeption von Vorlagen auf die drei möglichen Übertragungswege eines Transports der Vorlage selbst, der Wanderschaft eines Malers mit Musterblättern sowie dem virtuellen Transfer mittels des Könnens und des Gedächtnisses des Malers oder auch des Auftraggebers. Der dritte Übertragungsweg ist etwa bei der Übernahme motivischer Details denkbar. So treten die für die Reichenauer Liuthargruppe typischen Schleifchendächer gegen Ende des 11. Jahrhunderts in der Buchmalerei der mittelitalienischen Abtei Farfa auf. Dass auch komplexere, vermeintlich ortsabhängige, stilistische Eigenheiten und Motive an andere Orte übertragen wurden, lässt sich an drei Handschriften aus Fleury zeigen, die seit Carl Nordenfalk mit dem lombardischen Buchkünstler Nivardus verbunden werden. Die oberitalienischen Züge der Handschriften in Figurenstil und Paläographie sind durch die Wanderung des Nivardus an die Loire erklärbar, aber auch die alemannischen Züge ihrer Ornamentik: stand doch die Buchmalerei im lombardischen Zentrum Mailand ihrerseits unter dem Einfluss nordalpiner Skriptorien (Reichenau, St. Gallen).
Die Übertragung konkreter Vorlagen in Form von Handschriften kann verschiedene Ursachen haben. So gelangten kostbar ausgestattete Codices durch Stiftungen, etwa im Rahmen von Gebetsverbrüderungen, an andere Orte. Das Evangeliar aus Regensburg, das Heinrich II. nach Montecassino schenkte (Vatikan, BAV, Ottob. Lat. 74), beeinflusste auf diesem Weg die Buchmalerei des Benediktinerklosters nachhaltig. Die Rezeption der Reichenauer Bernulphusgruppe in Farfa lässt sich ebenfalls auf eine Schenkung zurückführen. Im Zuge liturgischer Reformen wurden Handschriften wegen ihrer Texte gezielt verteilt und fanden dann im eigenen Skriptoriumsbetrieb Nachfolge, etwa in der Abtei Pfäfers, die ihre liturgische Grundausstattung von der Reichenau erhielt. Ebenso ist an kirchenrechtliche Verbindlichkeiten wie den sogenannten Reichenau-Zins zu denken, der es dem Bodenseekloster zur Auflage machte, nach jeder Abtswahl einen Handschriftenornat nach Rom zu liefern. Daneben mag der Austausch von Handschriften auch auf das (Bildungs- bzw. Liebhaber)Interesse einzelner Persönlichkeiten zurückgegangen sein, wie es die Briefe Gerberts von Aurillac eindrucksvoll dokumentieren.

Die Gebrauchsfunktion von Miniaturen im Verwendungskontext der jeweiligen Handschrift stand im Mittelpunkt der Ausführungen von Christoph Winterer. Die Miniaturenausstattung von Handschriften ist gegenüber dem Text zunächst sekundär, da dieser seine Funktion auch ohne Bebilderung besitzt. Die Funktion der Bilder erschließt sich demnach erst durch eine eingehende Analyse des Beziehungsgeflechts von Text und Bild.

Die Ergebnisse zur Erforschung der frühmittelalterlichen Memoria vermochten ein komplexes Handlungsgefüge aufzudecken, dem Bildtypen wie Herrscher- und Stifterbilder zugeordnet waren. Eine weitere Möglichkeit, Bildausstattungen ottonischer Handschriften in einen funktionalen Kontext zu setzen, bietet ihre Interpretation im Lichte der klösterlichen Praxis von Lectio divina bzw. meditatio. Aufbauend auf der Studie vom Adam S. Cohen zeigte Winterer am Regensburger Uota-Evangelistar (München, BSB, Clm. 13601), dass die Bildseiten tatsächlich auch Objekte der meditatio waren. So enthält der Titulus der Kreuzigungsseite (fol. 3v) die Anweisung, der "ideale" Betrachter solle die Form des Kreuzes zum Anlass der meditatio nehmen: Scema crucis typicum meditatur vita bonorum. Als ein Vorläufer dieses komplexen Bild-Text-Bezugs gilt der karolingische Liber de laudibus sanctae crucis des Hrabanus Maurus. Gerade dieser Codex mit seinen vielschichtigen Text- und Bildebenen fordert eine äußerst intensive Lese- und Rezeptionspraktik, die etwa durch schriftliche Zeugnisse aus dem Bereich des Klosters Fulda belegt ist. Auch das Widmungsbild des Aachener Evangeliars Ottos III. lässt sich im Sinn der monastischen meditatio interpretieren. Formal ist es an die erste Dedikationsdarstellung im Liber de laudibus angebunden. Die inhaltliche Tragweite aber erschließt sich erst durch seine Widmungsverse und ihre textlichen Parallelen mit denen des Herrscherbildes Ludwigs des Frommen in der Hrabanus-Handschrift. So sind die an den Kaiser gerichteten Aachener Verse möglicherweise als konkrete Aufforderung zu verstehen, die Evangelienhandschrift im Sinn der monastischen meditatio zu verwenden.

Beate Fricke stellte Thesen zur "Wiedergeburt" von Großskulptur in nachantiker Zeit und ihrer theologischen Rechtfertigung vor. Die in frühchristlicher Zeit geltende Tabuisierung monumentaler Skulptur, die stets vom Ruch des Götzenhaften begleitet war, wurde im 9. Jahrhundert sukzessive aufgebrochen. Monumentale Vollplastik hat sich zwar aus dieser Zeit nicht erhalten, doch vermitteln Quellen durchaus das Bild einer gewissen Verbreitung. Bezeugt sind etwa Großkruzifixe in Conques und Auxerre sowie mehrere Kruzifixe im Petersdom, wie die Schenkung eines monumentalen silbernen Kruzifixus durch Karl den Kahlen (877) und die Stiftung des sog. Karolingerkreuzes unter Papst Leo III. (795-816) oder Leo IV. (847-855). Für die theologische Rechtfertigung der Herstellung von dreidimensionalen Bildern im 9. Jahrhundert sind die Worte des Jonas von Orléans repräsentativ, der sich zu Beginn des 9. Jahrhunderts in seiner Schrift De cultu imaginum wie selbstverständlich zu Kruzifixen aus Gold und Silber äußert, die man "zur Erinnerung an die Passion des Herrn" herstelle (...ob memoriam passionis dominicae imaginem crucifixi in auro argentove exprimimus ... (PL 106, 340)). Ein weiteres Argument der Bilderbefürworter war das Rekurrieren auf die alttestamentarische Figur der Ehernen Schlange, deren explizites Anblicken die Juden sogar vom Götzendienst abgehalten (sic!) und zudem vor den Schlangenbissen bewahrt habe (Heilungscharakter). Mit der Gleichsetzung von Eherner Schlange mit Christus schließlich (bereits von Ambrosius formuliert und von Isidor von Sevilla explizit positiv gedeutet) war das höchste Argument für die Legitimation der dreidimensionalen Darstellung des Gekreuzigten gefunden.

Offensichtlich spielte auch das Material für die Überwindung des götzenhaften Charakters der Großskulptur eine wesentliche Rolle, denn frühe Quellen sprechen stets von silbernen oder goldenen "imagines crucifixi": hochwertige Materialien schufen gleichsam eine Aura des Heiligen. Als sich die Akzeptanz großformatiger Skulptur in ottonischer Zeit allmählich verbreitet hatte, war offensichtlich auch die Verkleidung des Holzkerns mit edlen Materialien nicht mehr zwingend notwendig. So wird in der Synode von Arras, um 1025, zum ersten Mal ganz eindeutig von hölzernen bzw. holzsichtigen Kruzifixen und Ehernen Schlangen gesprochen. Ottonische Kruzifixe wie der Gerokruzifixus oder der Ringelheimer Kruzifix belegen die Praxis des Verzichts auf Verkleidungen mit Edelmetall schon einige Jahrzehnte zuvor.

Den Kruzifixen stellte Fricke die Entstehung monumentaler Heiligenfiguren gegenüber, die andere theologische Argumentationswege erforderte. Die Libri Carolini (791-794), als Stellungnahme zu den byzantinischen Bilderbeschlüssen verfasst, erlauben zwar die Herstellung, lehnen aber ausdrücklich die Verehrung der Bildwerke ab (Permittimus imagines sanctorum quicumque eas formare voluerint, tam in ecclesiae quam extra ecclesiam, propter amorem Dei et sanctorum eius, adorare vero eas nequaquam cogimus, qui voluerit non permittimus (Libri Carolini lib. IV)). Die maßgebliche Rolle in der theologischen Diskussion um die Rechtfertigung von Heiligenfiguren spielen die Reliquien: Die menschliche Gestalt, nach denen die Heiligenfiguren gebildet wurden, bilde lediglich die Hülle für die in ihnen verborgenen, Wunder wirkenden Reliquien. Im ersten Viertel des 11. Jahrhunderts vollzog sich eine Loslösung der figürlichen Heiligendarstellung von ihrer ursprünglichen Funktion als Reliquiendepositum, Reliquien waren fortan als Begründung für die Schaffung figürlicher Skulptur nicht mehr nötig.

Dem Problem der Lokalisierung von Goldschmiedewerken am Beispiel der ottonischen Goldemails widmete sich Sibylle Eckenfels-Kunst. Die Mobilität, die für frühmittelalterliche Buchilluminatoren erschlossen werden kann, gilt in noch weitergehendem Maße für Goldschmiede. Im Gegensatz zu diesen ist die Herstellung qualitativ hochstehender Goldemails aber ortsgebunden, da dafür ein genau temperierbarer Brennofen benötigt wird, dessen Bau und Austestung nur bei sehr umfangreichen Aufträgen sinnvoll war. Daraus folgt, dass Emailwerke überregional gehandelt wurden, was die Lokalisierung ihrer Entstehung und damit auch ihre Datierung sehr erschwert, zumal der Wert des Emails häufig zu Zweitverwendungen führte, die Rückschlüsse auf den Kontext, auf den sie montiert waren, problematisch machen. Zudem geben die meist ornamentalen Stücke in der Regel keine Hinweise auf Stifter bzw. Auftraggeber. Ein Ausnahmefall ist die Egbertwerkstatt in Trier, deren zentrale Stücke des Petrusstabs (Limburg, Diözesanmuseum) und des Andreas-Tragaltars (Trier, Domschatz) als Stiftungen des Trierer Erzbischofs Egbert (977-993) ausgewiesen sind, der Stab darüber hinaus in das Jahr 980 datiert werden kann. Dass die Werkstatt, der aufgrund stilkritischer Argumente weitere Arbeiten zugeordnet werden können, tatsächlich in Trier arbeitete, ist durch Quellen belegt.

Die ganze Problematik der Lokalisierung und Datierung zeigt sich an den vier im Essener Münsterschatz aufbewahrten Vortragekreuzen, die zwischen den 980er Jahren und der Mitte des 11. Jahrhunderts mit zum Teil wiederverwendeten Emails ausgestattet wurden. Eckenfels-Kunst stellte auf der Basis stilkritischer Beobachtungen (Gesichtsbildung, Ornamentik etc.) und technischer Details eine Zuordnung der Emails des Otto-Mathilden-Kreuzes zur Egbert-Werkstatt sowie eine Datierung nach 982 zur Diskussion. Zur stark umstrittenen Datierung der Wiener Reichskrone erwägt Eckenfels-Kunst - ausgehend von der ungewöhnlichen Form der vier figürlichen Emailplatten - eine Zweitverwendung, die nach den vergleichbaren Stücken zumindest eine Montage der heutigen Krone vor dem 11. Jahrhundert eher unwahrscheinlich machen würde.

Zum Abschluss des Programms lenkte Martina Junghans den Blick auf die Verwendung und Funktion von Reliquiaren. Sie betonte die Vielfältigkeit der Verwendung, die von der Segenshandlung bei Krankenheilungen bis zum Einsatz bei Feuerausbrüchen, Flurumgängen oder Feldsegnungen reichte. Eine bedeutende Funktion hatten die Reliquiare in der Rechtsprechung sowie beim weit verbreiten Reliquieneid. Eingebunden in den liturgisch-kirchlichen Rahmen des Kirchenjahres wurden Reliquiare ausgestellt und bei Prozessionen mitgeführt. Unter den anthropomorphen Reliquiaren sind Kopf- bzw. Büstenreliquiare zusammen mit Armreliquiaren von karolingischer Zeit bis zur Romanik bestimmend, doch ist in der Regel die Art der Reliquie für die Form des Reliquiars sekundär. Dennoch hat es Kulthandlungen gegeben, für die sich bestimmte Reliquiarformen besonders eigneten. So ist beispielsweise bei Segnungen auffällig oft von der Verwendung armförmiger Reliquiare die Rede, bei denen sie gleichsam als Verlängerung des priesterlichen Armes dienten und so der Gebärde des Segensspenders zusätzliche Autorität verliehen. Dass dies auch ganz bildhaft so beabsichtigt war, zeigt sich darin, dass Armreliquiare fast immer eine Bekleidung zeigen und die Hände meist einen Pontifikalhandschuh tragen. Bei jedem Stück ist aber einzeln zu prüfen, ob die Segenshandlung wirklich praktisch durchführbar war: einige Armreliquiare sind schlichtweg zu groß bzw. zu schwer oder zu instabil dafür, bei vielen finden sich keinerlei Gebrauchsspuren.

Armreliquiare wurden auch symbolisch als Hand Gottes gedeutet (dextera domini inschriftlich auf einem Armreliquiar des 13. Jahrhunderts). Von der Verehrung von Armreliquiaren zeugen Votivgaben, wie vor allem aufgesteckte Fingerringe, die zum Teil mit Bitt- oder Dankinschriften versehen waren, beispielsweise beim Blasiusreliquiar im Herzog-Anton-Ulrich Museum zu Braunschweig (um 1040). Über ihre Funktion als Aufbewahrungs- und Zeigegefäße hinaus ist es der symbolische und der anagogische Gehalt der Reliquiare, der ihren Einsatz innerhalb des Kults nicht nur legitimierte, sondern ein Garant für die Wirksamkeit der Handlungen war.

Den Abschluß der Internationalen Ottonentagung bildete ein öffentlicher Vortrag von Holger Klein, Columbia University, New York, zum Thema "Byzanz und das Abendland im Zeitalter der Ottonen. Eine (kunst)historisch-historiographische Bestandsaufnahme". Klein erinnerte in diesem Zusammenhang an die vielfältigen Byzantinismen in der ottonischen Kunst (Majestas Domini des Codex Aureus Escorialensis, Hochzeitsurkunde der Theophanu u. a.) sowie die Wiederverwendung bzw. Inkorporierung byzantinischer Stücke der Kleinkunst in Kunstwerke westlicher Provenienz (Evangeliar Ottos III, Koimesiselfenbein des Buchdeckels) - Ausdruck der Hochschätzung der byzantinischen Kunst zur Zeit der Ottonenkaiser. Dass im Gegensatz dazu die Wertschätzung in der Forschungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sehr wechselvoll ausfiel, zeigte Klein in auch für einen größeren Zuhörerkreis anregender Weise, indem er dem Forschungsweg und seinen Paradigmenwechseln bis in jüngste Zeit nachging. Am Beispiel von Byzanz zeigte er damit eindringlich, wie sehr die Zugänge zur mittelalterlichen Kunst von der jeweiligen Geisteshaltung einer Zeit und Generation abhängen.

Das gelungene Arbeitstreffen war durch eine offene, vorbehaltlose Atmosphäre des wissenschaftlichen Austauschs geprägt. Das Konzept, nach dem die Hinführung zu den verschiedenen Themenkomplexen nicht in Form von Vorträgen, sondern durch pointierte Einführungen geleistet wurde, erwies sich als fruchtbar, da dadurch ein breiter Raum für umfassende und allseitige Diskussionen geschaffen wurde. Zur Vertiefung der Themen und Weiterführung der Diskussionen wäre eine Fortsetzung in ähnlichem Rahmen sicher wünschenswert.

Empfohlene Zitation:
Miriam Gepp: [Tagungsbericht zu:] Buchmalerei, Schatzkunst und Skulptur (Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart, 12.07.2003). In: ArtHist.net, 10.01.2004. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/440>.

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