Kontinuität und Neubeginn. Kunstgeschichte im westlichen Nachkriegsdeutschland
Das Fach Kunstgeschichte hat sich in den letzten Jahren verstärkt mit der Geschichte der eigenen Fachdisziplin im Nationalsozialismus auseinandergesetzt, wobei die Frage nach personeller, institutioneller, methodischer und thematischer Kontinuität und Diskontinuität nach dem immer noch als „Stunde Null“ bezeichnetem Jahr 1945 bislang weitgehend unbeantwortet blieb. Die Organisatoren der Tagung wollten diesem Defizit begegnen und die fachspezifischen, weltanschaulichen und methodischen Grundlagen der westdeutschen Kunstgeschichte vor und insbesondere nach 1945 im zeitgeschichtlichen Kontext diskutieren. Die Beiträge der einzelnen Referenten gingen dabei über die rein universitäre Kunstgeschichte hinaus und beinhalteten auch Themen des Ausstellungswesens und der Kunstpublizistik, so dass wichtige Aspekte der Kunstgeschichte von etwa 1920-1960 nachgezeichnet werden konnten.
Eröffnet wurde die Tagung am Donnerstag Abend mit einem Vortrag von Otto Karl Werckmeister (Berlin), der, insofern er eine kritische Betrachtung der heutigen Kunstgeschichte vornahm, grundsätzliche Fragestellungen jenseits des spezifischen Tagungsthemas aufwarf. Werckmeister konstatierte für die Kunstgeschichte einen Modernisierungsdruck, der mit einer durch zunehmende Technologisierung vorangetriebene Ästhetisierung der Lebensverhältnisse einhergehe und zu einer Entgrenzung des Faches führe. Als ein Beispiel nannte er die von einigen Vertretern des Faches angestrebte „Bildwissenschaft“. Im Gegensatz dazu plädierte Werckmeister für eine „radikale Kunstgeschichte“ (so der Titel seines Vortrags), womit eine unbedingte Hinwendung zu den traditionellen Gegenständen und Methoden des Faches gemeint sei. Dazu gehöre auch die Wiedereinführung desästhetischen Urteils, das durch seine Abdankung die eigentliche Bestimmung der Kunstgeschichte habe verloren gehen lassen. Anstatt sich einem politischen Leistungsdruck zu beugen, sollten ältere wissenschaftliche Forschungsmethoden einer „radikalen Revision“ im Hinblick auf ihre heutige Anwendbarkeit unterzogen werden. Im Zuge einer „radikalen Historisierung“ müsse man auch gegenwärtige Kunst nach ihren Entstehungs-, Rezeptions- und Funktionsbedingungen und den machtpolitischen Hintergründen befragen, wie es insbesondere von der marxistischen Kunstgeschichte geleistet würde.
Der Freitag morgen wurde mit einem Vortrag von Veronica Davies (London)über die deutsch-britische Zusammenarbeit im Nachkriegsdeutschland eröffnet. Der Fokus lag hier auf der Beziehung zwischen den britischen Kunstoffizieren und den deutschen Verantwortlichen in Kunst und Kultur, wobei letztere häufig die Initiative ergriffen hätten, um in den diversen Kulturbereichen weiterarbeiten zu können. Davis stellte dar, wie sich einzelne kulturpolitische Schwerpunkte innerhalb der Re-education im Zuge des sich abzeichnenden Kalten Krieges verändert haben.
Anschließend stellte Christian Fuhrmeister (München) mit einem biographischen Ansatz die Personal- und Wissenschaftspolitik der Nachkriegszeit für das Kunsthistorische Institut in München vor. So konnte der Kunsthistoriker Hugo Kehrer, der ohne große wissenschaftliche Profilierung 1935 auf Fürsprache des Reichserziehungsministeriums eine außerordentliche Professur erhalten hatte, nach 1945 behaupten, er habe sich unter Hitler nie politisch verhalten, sondern lediglich der Wissenschaft gedient, die per se unpolitisch sei. Die Spruchkammerverfahren folgten seiner Argumentationsfigur der „reinen Wissenschaft“ und stuften Kehrer als Mitläufer (Klasse 4) ein. Auch wenn er nicht mehr lehren durfte, verlor er seine Pensionsansprüche nicht und erhielt alle Würdigungen eines emeritierten akademischen Professors. Dem Privatdozent Ernst Strauß hingegen, der 1933 als „Nicht-Arier“ beurlaubt worden war und emigrierte, blieb nach 1945 eine Rückkehr an die Universität untersagt. Mit der Begründung, er habe nach 1933 nicht mehr viel publiziert, wurde ihm die wissenschaftliche Qualifikation abgesprochen und zudem bis 1957 Pensionsansprüche vorenthalten. Inwieweit diese Biographien exemplarisch für die Kontinuität des Lehrpersonals auf der einen Seite und für die Schwierigkeiten der Remigranten und dem ihnen entgegengeschlagenen Misstrauen seien, war Bestandteil der anschließenden Diskussion. Weiterhin wurde die Frage nach den Ursachen der nicht erfolgten Rehabilitation von Strauß gestellt, und ob diese eher bei den Behörden oder tatsächlich bei der Wissenschaft selbst zu finden seien.
Weniger auf biographische Daten als auf inhaltliche Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Publikationen einzelner Kunsthistoriker zielte der darauffolgende Beitrag von Ruth Heftrig (Bonn) ab. Am Beispiel von Texten des Kunsthistorikers Heinrich Lützeler, der vor seiner Entlassung 1933 Privatdozent am Bonner Institut war und dort nach 1945 Ordinarius wurde, verdeutlichte Heftrig die unterschiedliche Beurteilung der Moderne und hier insbesondere des Impressionismus vor und nach 1945. So bezeichnete Lützeler in früheren Publikationen Eduard Munch und Otto Dix in christlicher Erlösungs-Metaphorik als Retter der Kunst, die aufgrund eines neuen Realismus die Krise der Moderne überwunden hätten. Nach 1945 stand Lützeler der abstrakten Kunst jedoch aufgeschlossen gegenüber, sie wurde von ihm nun als folgerichtige Entwicklung des Impressionismus bezeichnet. Dennoch erfolgte seinerseits keine unbedingte Bejahung abstrakter und gegenstandsloser Kunst wie etwa bei Baumeister in dem 1. Darmstädter Gespräch von 1950, aber eben auch keine religiös und weltanschaulich begründete Ablehnung wie etwa bei Sedlmayr. Ob die deutlich gemachte Verschiebung der Positionierung Lützelers vor und nach 1945 zeitgeschichtlich oder aus persönlichen Umständen zu begründen sei, muss, so Heftrig, letztlich offen bleiben. Jedoch lässt sich nach 1945 insgesamt eine größere Offenheit und eine abnehmende Skepsis gegenüber dem Feld der Moderne feststellen, deren Rolle in der universitären Forschung vor 1933 eher unbedeutend und nach 1933 weiter marginalisiert worden war.
Im Anschluss an diesen Vortrag thematisierte Susanne Leeb (Berlin) die Auffassung von Kunst als etwas „universal Menschlichem“, die der„Unmenschlichkeit“ der NS-Zeit entgegengesetzt wurde. Leeb konkretisierte dies am Beispiel von Willi Baumeister, der 1947 seine Kunsttheorie „Das Unbekannte in der Kunst“ veröffentlicht hatte. Baumeister reihte sich damit dahingehend in die Beobachtungen über die Nachkriegszeit ein, als dass zu diesem Zeitpunkt der Fokus von Exotismen als Referenz auf Urgeschichte und außereuropäische Kunst auf Archaismen wechselte. Baumeister verband unter anderem im Rückgriff auf die Höhlenmalereien aus Altamira die Moderne mit dem Urhistorischen unter dem Aspekt der Menschlichkeit. Seiner These zufolge existiere ein ureigener menschlicher Schöpfungstrieb, demnach die Kunst als urmenschlich gelte und somit aus jeglichem zeithistorischen Kontext herausgenommen werden könne. Es wurde die Frage aufgegriffen, ob in dem anthropologisch-paläontologischen Ansatz Baumeisters nicht nur eine Abwandlung zu Ansätzen aus den 20er Jahren, sondern auch eine Kontinuität zu dem im NS metaphysisch aufgeladenen Kunstbegriff zu erkennen sei. Zwar wäre Baumeisters Kunstverständnis keineswegs national oder völkisch aufgeladen gewesen, jedoch habe er sich in seinen Schriften immer wieder auf im NS gelittene Kunsthistoriker bezogen.
Weitere Beispiele zu universalistischen Begründungsversuchen von Gegenwartskunst wurden im Folgendem von Gregor Wedekind (Paris) genannt. Er konzentrierte sich in seinem Vortrag auf den Begriff des Abendlandes u.a. im Zusammenhang der beiden documenta-Ausstellungen 1955 und 1959. Der für die Organisation der ersten Ausstellung gegründete Verein trug zunächst den Namen „Abendländische Kunst des 20. Jahrhunderts“, der aber nicht nur den Vorwurf einer taktischen Raffinesse einbrachte (da sich damit auch amerikanische Leihgeber angesprochen fühlen sollten), sondern auch als zu pathosgeladen und konservativ betrachtet wurde. Letztendlich setzte sich der Titel documenta durch. Gleichwohl basierte die Ausstellung auf der Grundidee von abstrakter Kunst als einer universalen Sprache, die das Ergebnis europäischer Entwicklungen gewesen sei. Um eine Art Rehabilitierung der während der NS-Zeit verunglimpften Kunst sei es den Ausstellungsmachern nicht gegangen, vielmehr hätten sie die Internationalität von Kunst jenseits von nationalen Motiven betonen wollen. Der modernen abstrakten Kunst als „erstem Modellfall von Menschheitskultur“ (Werner Haftmann zur documenta 1959) wurde hier„universale Wahrheit“ bescheinigt und als internationales Verständigungsmedium präsentiert, in dem jenseits von politischen Streitigkeiten kommuniziert werden könne.
Die nach der Mittagspause gehaltenen Vorträge beschäftigten sich mit den verschiedenen in- und ausländischen Versuchen, abstrakte und gegenstandslose Kunst in der Nachkriegszeit in Westdeutschland zu etablieren und mit ihrer Hilfe den Anschluss an die westliche Kunstentwicklung zu finden. Dorothee Wimmer (Bremen) begann mit einem Vortrag über die 1946 in der französischen Besatzungszone gegründete Zeitschrift „Das Kunstwerk“, die zu einem der wichtigsten Publikationsorgane für die Kunst der Moderne und Gegenwart in Westdeutschland werden sollte. Als Förderer abstrakter und gegenstandsloser Kunst rezipierte sie nicht nur die Diskurse über dieselbige, sondern prägte sie auch entscheidend mit. In der Zeitschrift wurde abstrakte Kunst in bewusster Abgrenzung zu der von den Nationalsozialisten propagierten Kunstauffassung als unabhängig von Zeit und Form und als frei von gesellschaftspolitischen Bedingungen betrachtet. Die wissenschaftliche Deutung von Kunst, die hier als reines Seherlebnis begriffen und in die Nähe physikalischer Erscheinungsformen gerückt wurde, wurde somit erschwert und die „Freiheit“ zum höchsten Wert von Kunst emporgehoben. Als eine durch die französische Besatzungsmacht lizenzierte Zeitschrift nahm die französische Gegenwartskunst einen großen Teil ein; insgesamt fällt eine stark westeuropäische Ausrichtung auf, innerhalb derer die deutsche Kunst ihren Platz findet. Ab etwa 1950 lässt sich jedoch eine stärkere Konzentration auf föderal-regionale Zuschreibungen feststellen, innerhalb derer der Versuch unternommen wurde, zeitgenössische Kunst in regionale Schulen (wie z.B. „Rheinlandpfälzische Kunst“) zu fassen.
Der Vortrag von Christoph Zuschlag (Berlin/Heidelberg) thematisierte ebenfalls das Bemühen, der ungegenständlichen Kunst in Westdeutschland ein„gutes Zeugnis“ von „ausländischen Experten und deutschen Kunstkritikern“ ausstellen zu lassen, wie es in dem bisher von der Forschung noch nicht wahrgenommenen, damals aber stark rezipierten „Leverkusener Gespräch“ von 1957 anlässlich einer Ausstellung „Malerei und Plastik in Westdeutschland“ im Museum Morsbroich der Stadt Leverkusen geschah. Anders als in dem heute vielbeachteten „1. Darmstädter Gespräch“ von 1950 ging es in Leverkusen weniger kontrovers zu, die renommierten Teilnehmer (Künstler, Kunsthistoriker und Galeristen aus dem In- und Ausland) waren größtenteils Befürworter einer ungegenständlichen Kunst. Die Ausstellung und das im Rundfunk gesendete Gespräch waren mit der Absicht verbunden, die deutsche Kunst nach ersten Erfolgen im Ausland nach 1945 international aufzuwerten und sich insbesondere von ausländischen Fachleuten ihre Qualität bescheinigen zu lassen Das Ergebnis fiel positiv für die deutsche Gegenwartskunst aus: Sie habe die durch die NS-Zeit bedingte Phase der Isolierung überwunden und Anschluß gefunden an eine internationale Entwicklung einer ungegenständlichen Kunst als Ausdruck einer „freien“ Gesellschaftsordnung, so der Tenor des Gespräches. Obwohl jedoch der Versuch einer Rehabilitation der deutschen Kunst auf internationaler Ebene durch Angleichung an eine westliche Entwicklung unternommen wurde, stand in Leverkusen ebenfalls schon wieder die Frage nach nationalen Charakteristika von Kunst zur Diskussion.
Der anschließende Vortrag von Martin Schieder (Berlin/Paris) hatte nicht„ausländische Gutachter“ in Deutschland zum Thema, sondern umgekehrt das Wirken deutscher Kunsthistoriker im Ausland. Besonders groß sei das Interesse in der Nachkriegszeit an einem regen Austausch mit dem ehemaligen Antipoden Frankreich gewesen. Schieder verdeutlichte an Beiträgen von namhaften deutschen Kunsthistorikern wie Will Grohmann, Werner Haftmann und Franz Roh in den drei Zeitschriften „Cahiers d’Art“, „Art d’aujourd’hui“ und „Documents“ die von ihnen unternommenen Versuche, den Vorbehalten der französischen konservativen Bildungselite in Bezug auf die gegenwärtige Kunst in Deutschland zu begegnen und das Bild von einer gleichgeschalteten und nationalistischen Wissenschaft und Kunst in Deutschland zu korrigieren. Mit dem Verweis auf einzelne herausgehobene Werke der deutschen Gegenwartskunst wurde die Weiterentwicklung der modernen Kunst in Deutschland von vor 1933 auch unter den erschwerten Bedingungen des Nationalsozialismus behauptet und die Bedeutung Paul Klees und Wassily Kandinskys als Väter der Abstraktion hervorgehoben. Der von deutscher Seite initiierte Austausch mit Frankreich, der eine Wiedereingliederung Deutschlands in das internationale Kunstgeschehen intendierte und ein modernes, international ausgerichtetes und intellektuell geprägtes Bild von Deutschland vermitteln wollte, wurde auch von Frankreich gesucht: es gab nur wenig französische Kenner der deutschen Gegenwartskunst und zugleich ein starkes Interesse an den nach Frankreich emigrierten Künstlern Klee und Kandinsky.
Die zwei verbleibenden Beiträge am Donnerstag Abend setzten sich explizit mit zwei nach 1945 erschienenen Aufsätzen auseinander, wobei Andreas Zeising (Wuppertal) das Beharrungsvermögen kulturpessimistischer Deutungsmuster nach 1945 an einem Text von Karl Scheffler, Olaf Peters (Bonn) eine Fort- und Umschreibung konservativer Kunstgeschichtsschreibung an einem theoretischen Beitrag des Künstlers Rudolf Schlichter verdeutlichte. Zeising veranschaulichte, wie der in den 1910er und 1920er Jahren vielgelesene Kunstschriftsteller Karl Scheffler in dem programmatischen Aufsatz „Das Phantom Großstadt“ von 1947 in der Architekturzeitschrift „Baumeister“ an seine frühere Großstadtkritik anknüpfte, deren Aktualität er trotz der gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Systemwechsel weiterhin behaupten konnte. Die Großstadt wurde darin von Scheffler als Verfallserscheinung und die beiden Weltkriege als zwangsläufige Konsequenzen eines uferlosen kapitalistischen Expansionstriebes und als„Selbstzerstörung“ der Großstädte gedeutet. Damit bot er nach 1945 eine begierig aufgenommene Deutung von der Katastrophe des Nationalsozialismus an, die sie als den Endpunkt einer langfristigen gesamteuropäischen Dekadenz erschienen ließ und jede tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder die Frage nach der eigenen Verantwortung ausblendete. Auch Peters zeigte am Beispiel Rudolf Schlichters Kontinuitäten auf, wobei sich bei Schlichter ein bis 1945 aufrechterhaltener antidemokratischer Nationalismus nach Beendigung des Krieges aufgrund der zu integrierenden Erfahrung des „Dritten Reiches“ in einen gemäßigten Konservatismus transformierte. Der Maler, der seine eigene künstlerische Position der 1920er Jahre zwischen Dada, Surrealismus und Neuer Sachlichkeit schon ab den 1930er Jahren scharf zu hinterfragen begann und eine zunehmende Gegnerschaft zur ungegenständlichen Kunst aufbaute, lieferte mit seinem 1949 veröffentlichten Essay „Das Abenteuer der Kunst“ einen theoretischen Beitrag zu der Debatten um moderne Kunst in der Nachkriegszeit. Peters zeigte am Beispiel Schlichters eine mögliche und bislang wenig beachtete Position innerhalb konservativer Kunstbetrachtungen der Nachtkriegszeit auf, die sich, zudem vom eigenen Künstlertum geprägt, von radikaleren Positionen wie der Sedlmayrs in mehreren Punkten unterscheidet.
Carsten Fleischhauer (Schleswig) begann den Samstag Vormittag mit einem Vortrag über das in der Nachkriegszeit regelrecht zu einem Modethema avancierenden Forschungsgebiet der „Zisterzienserarchitektur“. Die dezidiert übernationale Organisation der mittelalterlichen Zisterzienserorden diente der Kunstgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit als geradezu ideales Beispiel für eine europäische Kulturtradition. Indem Gemeinsamkeiten betont und nationale Abgrenzungen bewusst vermieden wurden, erhofften sich insbesondere deutsche Kunsthistoriker, die politische Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland auch auf dem Gebiet der Wissenschaften durch deutsch-französische Tagungen und Publikationen erproben und nachvollziehen zu können. Als eine der bezeichnendsten und folgenreichsten Neuschöpfungen dieser Zeit war die Aufstellung des „Bernhardinischen Plans“, wonach der heilige Bernhard persönlich einen idealen Kirchengrundriss bestimmt habe, der für viele hundert Klostergründungen in ganz Europa verbindlich gewesen sei. Das Konstrukt eines „Masterplans“, der in dieser Form nie existierte, hielt sich hingegen hartnäckig in der deutschen Kunstgeschichtsforschung und spiegelt die von der Nachkriegskonstellation geprägte Wunschvorstellung westdeutscher Wissenschaftler von einer mittelalterlichen Präfiguration der europäischen Einigungsidee wieder.
Die letzten drei Beiträge widmeten sich der Frage nach der Kontinuität von kunsthistorischen Methoden bzw. nach methodologischen Neuaufbrüchen nach 1945. Karin Hellwig (München) begann mit einem Vortrag über die Künstlerbiographie als wissenschaftliche Darstellungsform, die im NS eine Konjunktur erlebt hatte und sich auch nach 1945 behaupten konnte. Die zumeist populärwissenschaftlich gehaltenen Biographien der Nachkriegszeit erfuhren von namhaften Kunsthistorikern in Rezensionen eine affirmative Zustimmung, bis Herbert von Einem 1959 die zunehmende Menge von„Scheinbiographien“ kritisierte. Ein Misstrauen an dem biographischen Forschungsansatz aufgrund ihrer Beliebtheit im NS hat es nach 1945 demnach nicht gegeben. Im „Dritten Reich“ waren mit Hilfe von Biographien deutsche Künstleridentitäten konstruiert worden, die das deutsche Kunstwollen repräsentieren sollten. Die völkische Interpretation ihrer „großen Taten“ sollte sie zu vorbildhaften Helden und Erzieher des Volkes machen.
Ulrich Rehm (Bonn) stellte in seinem Vortrag „Vom Sehen zum Lesen. Eine Fallstudie zur Rezeption der Ikonologie in der Nachkriegszeit“ eine punktuelle Betrachtung in den Vordergrund. Ausgehend von zwei 1956 erschienen Aufsätzen Willibald Sauerländers (einer über frühgotische Skulptur in Frankreich und ein anderer zu den ‚Vier Jahreszeiten’ Nicolas Poussins) wies Rehm auf eine methodische Neuorientierung des Autors hin, die sich – so seine These – auch für die gesamte deutsche Kunstgeschichtsschreibung der 1950er Jahre beobachten lasse. Im Gegenzug zu Sauerländers erstem Aufsatz über die frühgotischen Skulpturen, in dem er im einfühlenden „Sehen“ den adäquaten Weg zu ihrem Verständnis sah, hob er in seinem zweiten Aufsatz das rationale „Lesen“ zur Symbolentschlüsselung von Gemälden hervor. Letzterer lehnte sich damit an die bis dahin wenig rezipierte Ikonologie Panofskys an. Das Jahr 1956 ist alleine schon dahingehend ein signifikanter Punkt, als dass Sauerländer sich in zwei unterschiedlichen Rollen probierte, und das in extremer Art und Weise. Seine Methodenfindung versucht zweierlei Bedürfnissen zu genügen, zum einem nach der Rückorientierung auf die abendländische„Wiege“ des christlichen Mittelalters und zum anderen nach einem methodischen Neubeginn. Ein Wiederaufgreifen des im NS verhinderten Forschungsansatzes der Ikonologie ist damit nicht 1945, sondern erst in den späten 50ern erfolgt.
Claus Volkenandt (Basel) beendete die Vortragsreihe der Tagung am frühen Samstag Nachmittag. Er stellte anhand den Schriften des Kunsthistorikers Günther Fiensch einen „dritten Weg“ der Bildbetrachtung vor, der laut Volkenandt zwischen neukantianischen Ansätzen und einer metaphysisch aufgeladenen Stilgeschichte zu verorten sei. Fiensch, der bei Wackernagel in Münster 1937 promoviert hatte, dort Mentor Max Imdahls war und anschließend in Gießen lehrte, hat lediglich ein geringes kunsthistorisches Oeuvre geschaffen und ist heute fast vergessen. In seinem 1961 erschienenen Hauptwerk über die niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts thematisierte Fiensch das Verhältnis von Form und Gegenstand und entwickelte eine Betrachtungsweise, die in strenger Opposition zu der zuvor angesprochenen Ikonologie Panofskys stand. Fiensch begriff darin ein einzelnes Werk schon sehr früh als autonomes, in sich schlüssiges Formgebilde: Der Sinninhalt eines Bildes sei allein durch Form und Fläche gebildet, wobei die reine Form etwas a priori akausales sei, also keinen außerbildlichen Gesetzen gehorche. Durch die von Fiensch betonte Selbstbegründungsleistung sei die Situierung eines Kunstwerks in seinem historischen Kontext jedoch ignoriert, um nicht zu sagen ausgeschlossen worden. Anschließend an den Vortrag wurde diskutiert, ob die Beschäftigung mit einer bildimmanenten Betrachtungsweise in den 1950er Jahren zeithistorisch zu erklären sei. Es wurde zudem die Frage aufgeworfen, warum der Ansatz Fienschs so wenig beachtet wurde, aber gerade dort Wirkung entfalten konnte, wo die Grenze seiner kunsthistorischen Arbeit lag: in der Diskussion um die moderne und zeitgenössische Kunst.
In der die Tagung abschließenden Diskussion wurde festgestellt, dass sich in den meisten Vorträgen eher eine Kontinuität als ein Bruch in der Kunstgeschichte nach 1945 abgezeichnet habe. Größere Änderungen seien anscheinend auch nicht unmittelbar nach 1945 erfolgt – hier hätten ältere Vertreter der Kunstgeschichte das Ruder übernommen und mit einer sprachlichen, methodischen und inhaltlichen Gemengelage aus den 1920er und 1930er Jahren die Kunstgeschichte fortgeschrieben. Erst ab etwa 1950 scheint eine Ablösung dieser Generation und damit eine Neuorientierung stattgefunden zu haben. Es wurde angemerkt, dass es noch einer umfassenden Untersuchung bedürfe, wie und wo sich Kontinuität genau fortschreibt und an welcher Stelle sich tatsächlich Neuerungen finden lassen, wofür auch eine genaue Sprachanalyse stattfinden müsse. Zudem sollte künftig auch Ostdeutschland in die Untersuchungen miteinbezogen werden. Die Anregung, den Zeitraum auf die 1960er bis 1980er Jahre auszuweiten, wurde mit der Kritik bedacht, dass aufgrund der zeitlichen Nähe eine historische Betrachtung erschwert werden würde. An dieser Stelle wurde kurz auf einzelne Projekte anderer Geisteswissenschaften verwiesen, in denen es bereits eine stärkere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gegeben hätte (z.B. „Semantische Umbauten“ der Germanistik in Siegen). Darüber hinaus wurde von einzelnen Teilnehmern ein „gewisses Unbehagen“ an der Beschäftigung mit der eigenen Fachgeschichte formuliert und die Frage gestellt, ob dies eine Aufgabe der Kunstgeschichte 2004 sein sollte. Es wurde in diesem Zusammenhang auf die von Werckmeister zu Beginn der Tagung aufgestellten Forderung verwiesen, nicht in einer reinen Historiographie stecken zu bleiben, sondern immer auch einen Bezug für das eigene heutige kunsthistorische Tun herzustellen und/oder die Kunst der Nachkriegszeit stärker mit einzubeziehen . Dem wurde entgegnet, dass eine Diskussion über die „richtige Methode“ (mit Rückgriff auf ältere Ansätze) zu trennen sei von der historischen Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte. Letztere könne aber Aufschluss über versteckte und heute noch prägende Kontinuitäten geben und ein besseres Verständnis über die Mechanismen und das Funktionieren von Wissenschaft herstellen, also eine höhere Reflektionsebene des eigenen wissenschaftlichen Tuns liefern. Jedoch müsse hierfür noch viel Grundlagenforschung betrieben werden; einige Bereiche, wie z.B. die Verbandsebene sowohl in der NS-Zeit als auch in der Nachkriegszeit seien noch gar nicht untersucht worden. Die Notwendigkeit einer weiteren, intensiven Aufarbeitung der eigenen Fachdisziplin ist damit auch nach dieser Tagung weiterhin gegeben. Insgesamt wurde die Tagung als sehr gelungen, kenntnisreich und anregend bewertet. Ein Tagungsband wird im nächsten Jahr erscheinen.
Recommended Citation:
Julia Krings, Kathleen Schröter: [Conference Report of:] Kontinuität und Neubeginn (Kunsthistorisches Institut der Universität Bonn, Oct 7–09, 2004). In: ArtHist.net, Dec 22, 2004 (accessed Oct 15, 2024), <https://arthist.net/reviews/431>.
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