REV 05.10.2024

Bohde/Zenkert: Der Wald in der Frühen Neuzeit zwischen Erfahrung und Erfindung

Rezensiert von Christa Syrer, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Kunstgeschichte
Redaktion: Anke Blümm
Click to enlarge

Der Wald spielte in der Frühen Neuzeit sowohl als Motiv als auch als Ressource eine bemerkenswerte Doppelrolle: In der bildenden Kunst und Literatur fungierte er als Gegenbild zur Zivilisation, das entweder bedrohlich erschien oder als idealisierter Sehnsuchtsort dargestellt wurde. Gleichzeitig war der reale Wald ein hart umkämpfter Wirtschaftsraum, in dem gejagt, Weidewirtschaft betrieben, Holz gewonnen und verschiedene Gewerbe ausgeübt wurden. Der Sammelband Der Wald in der Frühen Neuzeit widmet sich dieser Dichotomie aus einer interdisziplinären Perspektive und bringt, basierend auf den Ergebnissen einer Tagung von 2019, neun Beiträge aus Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Biologie, Musik- und Theaterwissenschaften in vier thematischen Sektionen zusammen. Der Band schließt an den aus der amerikanischen Literaturwissenschaft stammenden Ecocriticism an, erweitert diesen bisher vor allem auf Werke des 19. bis 21. Jahrhunderts angewandten Ansatz aber explizit auf Darstellungen von Wald in verschiedenen frühneuzeitlichen Medien und Bildgattungen. Besonders fruchtbar erscheint hierbei der Dialog von Natur- und Kulturwissenschaften, der selbst bei ökologischen Fragestellungen nicht selbstverständlich ist.

In diesem Sinne kommt dem einleitenden Beitrag des Biologen Hansjörg Küster über Waldentwicklung, Forstnutzung und Nutzungsspuren eine Schlüsselrolle für das Verständnis der weiteren Beiträge zu. Küster widmet sich der Waldgeschichte aus Sicht der Geobotanik und erklärt den durch Tacitus „Germania“ begründeten Topos eines germanischen Urwaldes vor dem Hintergrund der verschiedenen antiken Landnutzungssysteme und den damit verbundenen ökologischen Veränderungen, wie z. B. der Ausbreitung von Buchenwäldern in Gebieten mit temporären Siedlungen. Daran anschließend beschreibt Küster anschaulich die Auswirkungen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Waldnutzung, deren Folgeschäden sich bereits vielfach in Landschafts- und Walddarstellungen des 15. bis 18. Jahrhunderts zeigen.

An Küsters Ausführungen knüpft unmittelbar der Beitrag von Pierre Vaisse über den Mythos vom germanischen Urwald in der bildenden Kunst des frühen 16. Jahrhunderts an. Er arbeitet zunächst heraus, wie sehr selbst die jüngere Kunstgeschichte von Erklärungsmustern geprägt ist, die sich auf die Instrumentalisierung des Mythos vom ‚Deutschen Wald‘ in der Zeit des Nationalsozialismus zurückführen lassen. Vaisse zeigt anhand von Werken Albrecht Altdorfers und anderer Künstler der sogenannten Donauschule, dass diese häufig gerade nicht (Ur-)Wälder darstellten, sondern unspezifische Baumgruppen, Solitärbäume und von der Forstwirtschaft geprägte Kulturlandschaften. Damit gelingt es Vaisse, Deutungen dieser gemalten Vegetation als Verbildlichung von Tacitus „Germania“ und ihrer humanistischen Rezeption zu relativieren und zu entmystifizieren.

Auch der Beitrag von Daniela Bohde, einer der zwei Herausgeberinnen des Bandes, ist Baumdarstellungen bei Albrecht Altdorfer und Wolf Huber gewidmet. Bohde verbindet kunsthistorische Analysen mit historischen Erkenntnissen über die Waldnutzung im 16. Jahrhundert und verdeutlicht, dass sich in den Landschaften Altdorfers und Hubers zeitgenössische ökologische und ökonomische Praktiken widerspiegeln. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich Motive wie Altdorfers „Fichte und Holzfäller“ von 1522 umfassend deuten.

Anna Christina Schütz erweitert diesen Ansatz, indem sie Wald- und Baumdarstellungen bei Künstlern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie Salomon Gessner und Carl Wilhelm Kolbe, untersucht. Ihr Fokus liegt auf dem Verhältnis von idyllischen Landschaftsdarstellungen und der tatsächlichen holzwirtschaftlichen Nutzung. Schütz zeigt, wie Gessner, der in Zürich für die städtische Holzversorgung zuständig war, praktische Erfahrungen in seine künstlerischen Werke einfließen ließ. Gleichzeitig wird ersichtlich, dass die Kunstgeschichte den Grad der Idealisierung und die Komposition einer gemalten Landschaft nur mit Wissen um den Zustand der frühneuzeitlichen Wälder bewerten kann.

Nils Büttner ergänzt die kunsthistorische Perspektive mit einem Beitrag zum Zoniënwoud bei Brüssel und spannt dabei einen medialen Bogen von Tafelmalerei und Grafik über Tapisserien bis hin zu visuellen Rechtsdokumenten wie einem Grenzplan aus dem 16. Jahrhundert. Büttner verbindet den „spatial turn“ mit dem „ecological turn“ und zeigt am konkreten Ort, wie sich ökologische, ökonomische, politische und juristische Interessen im Wald kreuzten. Damit leitet er über zu den Beiträgen der zweiten Hälfte des Bandes, die dem Wald als Rechts-, Wirtschafts- und Herrschaftsraum gewidmet sind.

Im nachfolgenden Beitrag von Annette Baumann steht die Bildgattung der sogenannten Augenscheinkarten im Fokus. Diese visuellen Erfassungen von topografischen Situationen dienten vor allem als Beweismittel in Rechtsstreitigkeiten und sollten häufig Grundstücksgrenzen und Besitzverhältnisse veranschaulichen. Mit dieser „Gebrauchsmalerei“ tritt eine große Gruppe von Malern in Erscheinung, die von der Kunstgeschichte bisher vernachlässigt wurde und die zu einer Einbeziehung der kunsthistorischen Perspektive einlädt.

Der anschließende Beitrag von Sabine Holtz nimmt die Waldnutzung im deutschen Südwesten um 1500 in den Blick und zeigt, wie sich die Forstkultur im Kontext der regionalen Wirtschaftsstrukturen entwickelte und reglementiert wurde. Sie analysiert historische Forstordnungen und erläutert, wie die Ressourcenverknappung bereits um 1500 zu vermehrten Konflikten zwischen Landesherr, Klöstern und bäuerlicher Bevölkerung führte. Ihre Ausführung werden von Karten des Herzogtums Württemberg begleitet, welche die schwindenden Waldbestände des 16. und 17. Jahrhunderts dokumentierten.

Astrid Zenkert, die zweite Herausgeberin des Bandes, untersucht in ihrem Beitrag am Beispiel der Medici-Herzöge die politische Bedeutung von Wäldern außer- und innerhalb von Gärten des 16. Jahrhunderts. Zenkert argumentiert, dass der Wald durch die Überführung in die Gärten nicht nur ästhetisch aufgewertet wurde, sondern auch als Teil einer politischen Landschaft im Sinne Martin Warnkes zu verstehen ist, die die positiven Auswirkungen der herrschaftlichen Verfügungsgewalt über die Natur demonstrieren sollte.

Helena Langewitz schließt den Band mit einer Untersuchung der Darstellung von Wäldern auf der höfischen Opernbühne des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Kurpfalz ab. Ihr Beitrag zeigt, dass die zunehmende Inszenierung des Waldes auf der Bühne als idyllischer Ort einem sich verschärfenden Holzmangel entgegenstand, der sich auch durch forstwirtschaftliche Maßnahmen kaum beheben ließ. Eine tabellarische Auswertung der Häufigkeit von Waldszenen in Hofopern des 18. Jahrhunderts in der Kurpfalz liefert interessante Einblicke in die ästhetische Bedeutung des Waldes in dieser Zeit.

Der Sammelband überzeugt insgesamt durch seine interdisziplinäre Herangehensweise und die sorgfältige Auswahl der Beiträge, die ein breites Spektrum an Themen und Methoden abdecken. Besonders hervorzuheben ist die Verknüpfung von naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Perspektive, die eine Analyse des Waldes als kulturelles Motiv, als ökonomische Ressource und als Ökosystem ermöglicht. Aus kunsthistorischer Sicht wäre eine zusätzliche Reflexion der Nutzung des Waldes in der Kunstproduktion (Malgrund, Skulptur, Baukunst, Glas usw.) wünschenswert gewesen, da sich die Fragen nach „Naturästhetik und Naturnutzung“ auch besonders anhand von Materialbeschaffung, -auswahl und -verarbeitung vertiefen lassen. Die Beiträge laden daher dazu ein, insbesondere hinsichtlich der methodischen Verbindung von Natur- und Kulturgeschichte, manchen skizzierten Problemen und offenen Fragen weiter nachzugehen und neue Forschungsansätze für weitere Studien in Kunst-, Kultur- und Umweltgeschichte zu entwickeln.

Bohde, Daniela; Zenkert, Astrid (Hrsg.): Der Wald in der Frühen Neuzeit zwischen Erfahrung und Erfindung. Naturästhetik und Naturnutzung in transdisziplinärer Perspektive, Köln: Böhlau Verlag 2023
ISBN-13: 978-3-412-52618-4, 297 S., 117 farb. Abb, 50 €, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Christa Syrer: [Rezension zu:] Bohde, Daniela; Zenkert, Astrid (Hrsg.): Der Wald in der Frühen Neuzeit zwischen Erfahrung und Erfindung. Naturästhetik und Naturnutzung in transdisziplinärer Perspektive, Köln 2023. In: ArtHist.net, 05.10.2024. Letzter Zugriff 05.10.2024. <https://arthist.net/reviews/42848>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^