Hana Gründlers Buch, das auf ihrer Dissertation basiert, ist der Beziehung zwischen Kunst, Sehen und Ethik gewidmet. Dieses umfangreiche Thema wird weniger deskriptiv und analytisch als normativ und programmatisch behandelt: Die Autorin plädiert für eine „Etho-Ästhetik des Visuellen“ und eine „Ethik der Aufmerksamkeit“ (13). Das aufmerksame Sehen soll der Bedeutung des Besonderen und Partikulären gerecht werden und zur „Kritik an den verallgemeinernden und totalisierenden Tendenzen des westlichen Denkens“ (12) beitragen. Hier haben wir es bereits mit einem Parodoxon zu tun, denn „das westliche Denken“ (auch 151) ist sicherlich als Verallgemeinerung zu betrachten, und die zahlreichen Denker:innen, die im Buch zur Unterstützung seiner These zitiert werden, stammen alle aus Westeuropa oder den USA. Eine von ihnen, Hanna Arendt, wird für ihre Kritik am Mitgefühl zitiert, das „keine Fähigkeit zur Generalisierung“ besitzt und daher „prinzipiell unpolitisch sei“ (196); der Widerspruch wird nicht aufgegriffen.
Das Buch besteht aus vier Kapiteln, deren Struktur Wiederholungen nicht vermeidet, z.B. über das Ideal der konturlosen, unvollendeten, man könnte auch sagen inchoativen Zeichnung bei Künstlern wie Leonardo, Cézanne oder Giacometti (60-63, 166-169). Zahlreiche Autor:innen werden diskutiert und zurate gezogen, Klassiker wie Wittgenstein (für das „Aspektsehen“ und seine Architektur), Foucault (Ethik als Lebenskunst), Arendt (Theorie als Sehen), Riegl (Reziprozität der Blickbeziehungen), Adorno (Kunst und die Möglichkeit einer Zeugenschaft), Levinas (für seine radikale Kritik der Repräsentation) sowie Zeitgenoss:innen wie Mieke Bal, Judith Butler, Martha Nussbaum, W.J.T. Mitchell, Susan Sontag und Georges Didi-Huberman. Sorgfältige Zusammenfassungen und ausführliche Kommentare reihen sich bis zur historiographischen Überforderung aneinander, und doch bleibt ein Gefühl des Mangels. In Bezug auf den Begriff der Aufmerksamkeit stimmt Hana Gründler Michael Hagner zu, wenn er bedauert, dass „stillschweigend die Trennung zwischen einem physiologisch-experimentellen und einem philosophischen Zuständigkeitsbereich perpetuiert wird“ (74). Genau eine solche Trennung akzeptiert die Autorin jedoch, indem sie zugunsten der Philosophie fast alles vernachlässigt, was der experimentelle Ansatz zur Untersuchung ihres Themas beigetragen hat, von der Psychophysik des 19. Jahrhunderts bis zu den Kognitions- und Neurowissenschaften – man denke nur an die Einfühlungstheorie und ihre Rezeption bei Kunsthistorikern wie August Schmarsow und Heinrich Wölfflin.
Ein „Künstler/Philosoph“ soll über dieses einseitige Reich herrschen: der Titel wird Wittgenstein (55) und Foucault (135) verliehen. Dennoch hätte Wittgensteins „Unbehagen gegenüber der Theorie“ (55), der er vorwarf, blind und farblos zu sein, als Vorbild und Warnung dienen können, denn Gründlers Buch vermeidet im Allgemeinen das Konkrete und lässt kaum Raum für Empirie. Selbst im „philosophischen Zuständigkeitsbereich“ fehlt die Ästhetik (z.B. die „reine Sichtbarkeit“), und Phänomenolog:innen werden nur beiläufig oder über Verweise von Levinas oder Sontag erwähnt. Ebenfalls ignoriert werden der Pragmatismus und ein Autor wie John Dewey, für den Philosophie und Ethik untrennbar miteinander verbunden waren und der zusammen mit dem Kunstsammler Albert C. Barnes eine „Schule des Sehens“ (127) nicht nur für Ästheten, sondern auch für sozial benachteiligte Menschen gründete [1].
Gründler ist nicht immer mit den von ihr ausgewählten Autor:innen einverstanden. So wirft sie Mieke Bal vor, das Versprechen einer „kritischen Freiheit“ weder künstlerisch noch theoretisch einzulösen (40-42), und sie lehnt Levinas‘ „Auffassung des Bildes als Idol“ als „polemisch und zutiefst reduktionistisch“ ab (215). Solche Vorbehalte werden jedoch stets zugunsten einer grundlegenden Übereinstimmung über die Möglichkeit und Notwendigkeit der „Etho-Ästhetik des Visuellen“ ausgeräumt, so dass die Autor:innen weniger als Gesprächspartner oder gar Widersacher, sondern vielmehr als Autoritäten fungieren. Durch diese Anhäufung von Legitimationen wird Gründlers Argumentation eher geschwächt als verstärkt. Trotz ständiger Wiederholungen bleibt unklar, was hier mit „ethisch“ gemeint ist und warum ein „aufmerksames Sehen“ diese Voraussetzung erfüllen soll. Zwischen einer zweckorientierter Objektidentifikation und einer für das Aktuelle, Partikuläre und Rätselhafte offenen Wahrnehmung zu unterscheiden, ist nicht neu: ein Denker (und Zeichner) wie Paul Valéry, zum Beispiel, der im Buch nur durch ein Epigraph vertreten ist, hat viel Erhellendes dazu geschrieben [2]. Epistemologen wie Hans-Jörg Rheinberger haben anhand konkreter Beispiele gezeigt, wie man sich von konventionellen Wahrnehmungen und Vorstellungen befreit, während hier „anders“ (anders sehen, anders sein) einfach grundsätzlich mit „besser“ gleichgesetzt wird (z.B. 136). Paul Ricœur hatte eine differenziertere und dialektischere Sicht auf die kritische Utopie, die für ihn, ebenso wie ihr Gegenteil, die Ideologie, eine „pathologische“ Dimension haben kann [3].
Der interessanteste und originellste Aspekt des Buches ist die Einbeziehung von Theoretikern und Künstlern der Florentiner Renaissance, insbesondere Alberti, Vasari und Pontormo, was Gründlers fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut belegt. Zitiert werden nicht nur Albertis Abhandlungen über Malerei und Architektur, sondern auch seine Bemerkungen über die Förderung von Wahrnehmung und Tugend durch die Architektur im vorangegangenen Della tranquillità dell’animo (78-80). Vasaris Vite liefern aufschlussreiche Einblicke in die verschiedenen „Modi der Aufmerksamkeit“ (82) und die intrinsische Ambivalenz der (visuellen) Neugier (85-89). Und obwohl Vasari Pontormos subjektive Kunst kritisch als Ausdruck seiner „Melancholie“ interpretierte, schlägt Gründler vor, die obsessive Beschäftigung des Malers mit seinen Körperfunktionen im Tagebuch Il libro mio nicht als „hypochondrische Dimension“ zu verstehen, sondern als „Versuch einer Harmonisierung zwischen Körper und Geist“, inspiriert von seinem Freund dem Humanist Benedetto Varchi (162-180) [4]. Die Tatsache, dass der kulturelle und soziale Kontext dieser Äußerungen wenig mit dem der anderen im Buch erwähnten Diskurse gemein hat, die größtenteils aus dem 20. Jahrhundert stammen, hätte eine Diskussion verdient.
Eine weitere willkommene Passage in Die Dunkelheit der Episteme ist der Abschnitt über das Palais Stonborough-Wittgenstein (1926-1928) in Wien, das der Philosoph für seine Schwester Margaret entwarf (110-134). Es handelt sich um die einzige eingehende Analyse eines Kunstobjekts im Buch, und als solche erwartet man, dass sie die heuristischen und ethischen Vorzüge des „aufmerksamen Sehens“ demonstriert. Die Fallstudie enthält aufschlussreiche Informationen und Beobachtungen, u.a. über die puristische Rezeption des Gebäudes, die dazu führte, dass seine materielle und farbliche Dimension vernachlässigt und im Zuge einer Restaurierung sogar unsichtbar gemacht wurde (116-117, 121, 124-125). Sie erklärt jedoch nicht, warum die von Wittgenstein vorgenommene formale Reduktion unerlässlich sein soll, um eine nicht „gewöhnliche“, sondern ästhetische und ethische Betrachtungsweise hervorzurufen (119), und warum diese, nach den verfügbaren visuellen Dokumenten zu urteilen, alle Spuren der Nutzung, des Mobiliars und der Bewohner beseitigen muss. Das Gebäude wird stillschweigend als autonomes Kunstwerk behandelt, und es ist bezeichnend, dass die Präsenz eines winzigen „Diener-Zimmers“ auf dem Grundriss keine Untersuchung oder Reflexion über die Rolle und den Platz des Hauspersonals in diesem Stadtpalais auslöst. Das Soziale und Politische sind in der Studie tatsächlich abwesend, was der Relevanz ihres Versprechens, Ästhetik und Ethik miteinander zu verbinden, abträglich ist. Auffällig ist auch, dass ihre Behandlung der Aufmerksamkeit weder die Entwicklung der „Aufmerksamkeitsökonomie“ in den letzten Jahrzehnten noch die tiefgreifenden Veränderungen durch die digitale Wende thematisiert. Die Tatsache, dass Menschen und Denkmäler heute unter anderem deshalb ausgelöscht werden können, um die Bilder ihrer Zerstörung (sofort und weltweit) zu verbreiten, fehlt in Gründlers Untersuchung der Frage, wie man sich angesichts solcher Bilder verhalten soll (186-188).
Auf methodologischer und disziplinärer Ebene wirft die Autorin der Kunstgeschichte vor, das Sehen auf „einen epistemischen Akt des Erkennens“ reduziert zu haben, während die Philosophie, die Visual Culture Studies und die Photography Studies verstanden hätten, dass es sich auch um „einen ethischen Akt des Erkennens“ handelt (13, 225). Diese Kritik kann nur auf einer sehr begrenzten Sicht der Disziplin beruhen, und es überrascht nicht, dass Gründler auf den Versuch verzichtet, „einen detaillierten Überblick über die Bedeutung des Sehens in der und für die Kunstgeschichte zu entwerfen“ (16). Es ist schwer zu verstehen, dass der Riegl vom Holländischen Gruppenportrait (1902) mehr oder weniger allein für die Disziplin steht, die seit zwei Jahrhunderten mehr als jede andere das „aufmerksame Sehen“ fördert und fordert, und man vermisst Hinweise auf die zahlreichen Studien, die die visuellen Formen und künstlerischen Techniken des „Perspektivwechsels“ (49) und der „Polyperspektivität“ (57) erforscht und theoretisiert haben [5]. Das Buch endet mit einem Aufruf an die Kunstgeschichte, „eine kritische Instanz für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen dar[zu]stellen, in denen das Nachdenken über die Grenzbereiche des Sichtbaren dringlicher ist denn je“ (228). Warum diese „Grenzbereiche“ bevorzugt werden, ist unklar, wie übrigens auch die „Dunkelheit der Episteme“ selbst, die trotz ihrer Funktion im Titel nur apophatisch definiert wird (S. 11, 198, 216, 226).
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[1] S. u.a. Mary Ann Meyers, Art, Education, and African-American Culture: Albert C. Barnes and the Science of Philanthropy, New Brunswick, NJ: Transaction, 2004.
[2] S. D. Gamboni, „For a Science of the ‚Preservation of Sensory Subtlety and Instability‘“, in: Oskar Bätschmann et al. (Hg.), Art History on Demand? Dienstleistung Kunstgeschichte? 100 Jahre Institut für Kunstgeschichte Universität Bern, Festschrift, Bd. 2, Emsdetten/Berlin: Imorde, 2008, S. 81-91, 137-139.
[3] Paul Ricœur, „Ideology and Utopia as Cultural Imagination“, in: Philosophical Exchange 7, Nr. 1, Sommer 1976, S. 17-30; revidierte Fassung „L’idéologie et l’utopie : deux expressions de l’imaginaire social“, in: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris: Seuil, 1986, S. 379-392.
[4] S. eine andere aktuelle Interpretation in Andreas Beyer, Künstler, Leib und Eigensinn. Die vergessene Signatur des Lebens in der Kunst, Berlin: Wagenbach, 2022.
[5] S. z.B. Jean-Claude Lebensztejn, L’Art de la tache. Introduction à la “Nouvelle méthode” d’Alexander Cozens, Paris, Éd. du Limon, 1990; D. Gamboni, Potential Images: Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London: Reaktion, 2002; Michel Weemans, „Herri met de Bles’s Sleeping Peddler: An Exegetical and Anthropomorphic Landscape“, in: The Art Bulletin 88, Nr. 3, 2006, S. 459-481; Raphael Rosenberg, „Verzögertes Formerkennen als ästhetische Erfahrung“, in: Franz Engel/ Yannis Hadjinicolaou (Hg.), Formwerdung und Formentzug, Berlin/Boston: De Gruyter, 2016, S. 109-121.
Gründler, Hana: Die Dunkelheit der Episteme. Zur Kunst des aufmerksamen Sehens (= Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst; Band 19), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2019
ISBN-13: 978-3-7861-2804-5, 272 Seiten, : circa EUR 59.00 (DE), circa EUR 60.70 (AT), Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Dario Gamboni: [Rezension zu:] Gründler, Hana: Die Dunkelheit der Episteme. Zur Kunst des aufmerksamen Sehens (= Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst; Band 19), Berlin 2019. In: ArtHist.net, 03.09.2024. Letzter Zugriff 21.11.2024. <https://arthist.net/reviews/42472>.
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