Vor 150 Jahren besuchten geschätzte 50.000 Besucher das Bergens Museum in Bergen/Norwegen pro Jahr (heute Universitätsmuseum zu Bergen), heute stehen die Interessent/innen vor verschlossener Tür. Daran wird sich absehbar nichts ändern, denn das Museum ist auf lange Zeit wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Umso erfreulicher, dass Justin Kroesen und Stephan Kuhn einen Katalog der bedeutenden „Sammlung mittelalterlicher Kirchenkunst“ des Museums vorgelegt haben, den der Verlag Schnell+Steiner als dreisprachige Ausgabe (norwegisch, englisch, deutsch) in sein Programm aufgenommen hat. An den Verlag geht dabei direkt am Anfang ein ernsthaftes Monitum: Es hätte dringend ein/e Lektor/in über den deutschen Text schauen müssen. Es gibt zahlreiche sprachliche Ungeschicklichkeiten, grammatikalische Fehler oder falsche Beschreibungen, die das Lesen erschweren.
Die Sammlung verdankt ihre Bestände besonders zwei Männern, W.F. K. Christie (1778-1849), erster Präsident des norwegischen Parlaments und 1825 Gründer des Museums, und J. Neumann (1772-1848), Bischof von Bergen. Die beiden Männer gaben den Anstoß für die Überführung vornehmlich mittelalterlicher Kunstwerke in das Museum, da im 19. Jahrhundert die für die wachsende Bevölkerung zu kleinen Kirchen abgerissen wurden. Der Armut der Gemeinden und dem äußerst milden Verlauf der Reformation in Norwegen verdanken sie ihren Erhalt, in wenigen Fällen mit nachreformatorischen Veränderungen.
Im Katalog werden 100 Werke aus der Zeit zwischen 1050 und dem Anfang des 16. Jahrhunderts vorgestellt, darunter einige herausragende Exemplare, wie z.B. ein Crucifixus Dolorosus (2.V.14. Jh., Nr. 59) oder ein Altarfrontale aus der gleichen Zeit (Nr. 71), das es mit seiner exquisiten Malerei durchaus mit der Pariser oder Londoner Malerei der Zeit aufnehmen kann. Auch von der Ikonografie sticht diese Tafel heraus; die Marienszenen betreffen nur Maria und ihre Eltern Anna und Joachim, hier wäre zu überlegen, ob dies dem ab 1300 aufkommenden Annenkult geschuldet ist. Eine exzellente Skulptur stellt die Madonna aus Hove dar (Nr. 27), die um 1230/1240 nach der etwas ungewöhnlichen Formulierung der Autoren „um die Straße von Dover (Nordfrankreich, Flandern, Südengland?)“ entstand. Sowohl die schnitz- als auch fasstechnische Herstellung zeichnen sie aus, ebenso die vielfältige Ikonografie als Himmelskönigin, Sedes Sapientiae und apokalyptische Frau. Kroesen weist zu Recht auf die stilistische Ähnlichkeit mit der sog. Notre-Dame des Miracles in der Kathedrale von Saint-Omer hin; weitere Madonnen dieses Typus befinden sich in Gaillac/Tarn und Brindisi/Apulien. Ein Grund für diese weitgespannte Verbreitung könnte die Wundertätigkeit der Figur aus Saint-Omer gewesen sein, die ein Reliquiendepositorium besitzt ebenso wie die Madonna aus Hove.
Vier Punkte machen die Besonderheit der Sammlung aus. Zum ersten liegt sie in der Vielzahl der aus Kirchen im Westen Norwegens stammenden Kunstwerke, die ein erhellendes Licht auf die vielfältige Ausstattung mittelalterlicher Kirchen werfen, das wir vielerorts in Europa so nicht gewinnen können. Dazu zählen neben Skulpturen, Gemälden, Schreinen oder Kelchen auch selten erhaltene Stücke wie bemalte Kirchenfahnen oder Wandlungskerzenhalter. Die meisten Stücke lassen sich bestimmten Kirchen zuordnen, in etlichen Fällen sogar mehrere Kunstwerke einer Kirche, wie z.B. den Kirchen in Rødal, Årdal oder Urnes. Dies sind Glücksfälle, wenn man bedenkt, wie viele Werke aus Museen in aller Welt sich in keine Kirche lokalisieren lassen.
Zum zweiten zeichnet die Sammlung aus, dass sich bei zahlreichen der Skulpturen weitgehend die originale Fassung oder große Teile davon erhalten haben. Dies ermöglicht einen Zugewinn an Kenntnis mittelalterlicher Fassung, der an anderen Orten mit gründlich abgelaugten (Museen) oder vielen Farbschichten überzogenen Skulpturen (Kirchen) oft nicht möglich ist. Interessant sind die bereits im Mittelalter erfolgten Veränderungen an der Fassung, z.T. einer sich wandelnden Frömmigkeit geschuldet, so die spätmittelalterlichen Blutströme unterhalb der Seitenwunde bei einem romanischen Gekreuzigten (Nr. 4; Kroesen/Kuhn gehen auf veränderte Frömmigkeitsformen selten ein). Nicht neu, aber immer wieder erhellend, wie viele Madonnen der Sammlung goldene Gewänder tragen, die ehemalige Wirkung des metallenen Glanzes im Kerzenschein lässt sich leicht imaginieren.
Zum dritten stellen Kroesen/Kuhn mit ihrem Katalog eine Vielzahl von Tabernakelschreinfiguren vor, die sich nur in Norwegen in dieser großen Anzahl erhalten haben. Diese Fülle gibt der Überlegung, nach der sich der Typus des Flügelschreins ab dem frühen 14. Jahrhundert aus den Tabernakelschreinen entwickelt haben könnte, neue Nahrung. Bei dem Tabernakelschrein aus Urnes (Nr. 9) handelt es sich um eines der frühesten Stücke überhaupt aus der Zeit 1150 bis 1200, der die Madonna aus Urnes (Nr. 8) aufgenommen haben könnte. Den Untersuchungen der Restauratorin Alexandra Böhme verdankt sich [1], dass die Madonna aus Kyrkjebø (Nr. 30) und der Tabernakelschrein aus derselben Kirche (Nr. 31) als Ensemble erkannt wurden. Auch einer der wenigen in Nordeuropa erhaltenen Altarbaldachine (Nr. 43) befindet sich im Museum und stützt die Annahme, dass diese weiter verbreitet waren, selbst wenn sich die meisten in Italien erhalten haben. Ebenso besitzt das Museum zwei der seltenen großen Kirchenmodelle aus dem 13. Jahrhundert (Nr. 38), die als Bekrönung der Tabernakelschreine dienten.
Des Weiteren werden zahlreiche Altarfrontalien vorgestellt, die in größerer Anzahl nur in Norwegen und Katalonien erhalten geblieben sind, ohne dass zwischen beiden Landschaften eine künstlerische Verbindung existiert hätte.[2] Die architektonische Einteilung und die Ikonografie der Frontalien ist vielfältig; hier hätte man sich etwas mehr Informationen der Katalogbearbeiter gewünscht (z.B. für das frühe Auftreten eines Passionsprogramms in Medaillons (Nr. 36) oder für den umfangreichen Passionszyklus um 1300 ohne zentrale Mittelszene (Nr. 61), der an jüngere Kölner Passionszyklen erinnert). Eine ungewöhnliche Ikonografie weist auch das Frontale mit Marienszenen aus der Zeit um 1300 auf (Nr. 60), wo der Hinweis auf den Einfluss der „altnordischen“ Marīu Saga (auch bei Nr. 62) und den „zentraleuropäischen Ursprung“ (was ist damit gemeint?) sehr im Vagen bleibt. Ebenfalls aus dem Kanon der traditionellen Ikonografie fällt ein Frontale mit einem Heilig-Kreuz-Zyklus heraus (Nr. 65), mit „altnordischen“ Inschriften und feiner, kleinteiliger Malerei, die an Buchmalerei erinnert. Kroesen verweist auf die Glasfenster der Sainte-Chapelle von 1248, zu nennen wäre noch der zeitgleiche Wandmalereizyklus im Braunschweiger Dom. Ungewöhnlich ist die alleinige Darstellung des Heraklius-Teils der Kreuzlegende; wenn nicht ursprünglich eine zweite Tafel mit dem Helena-Zyklus vorhanden gewesen ist, wäre dies weiterer Untersuchungen bzgl. Heilig-Kreuz-Zyklen wert.
Viertens stellt der Katalog ein erhellendes Beispiel dar für die transregionalen Verbindungen Norwegens. Die Kunstwerke belegen enge Kontakte nach England, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden, was bei den Handelsbeziehungen, besonders der Stadt Bergen, nicht näher verwundert. Dabei lässt sich oft nicht sagen, ob ein Kunstwerk z.B. englischer Import war, ob der Künstler aus England kam oder ob es von einem norwegischen Künstler mit intimer Kenntnis englischer Kunst geschaffen wurde. Zu konstatieren bleiben die engen Verbindungen nach England, wobei vice versa auch auf Exporte aus Norwegen nach England hinzuweisen wäre wie das sog. Lewis-Schachspiel aus Trondheim im British Museum; Miri Rubin betont in diesem Zusammenhang, dass England mit Mitteleuropa weniger vernetzt war als mit dem Nordseeraum, so dass sie von einem „nördlichen Commonwealth“ spricht.[3] In einzelnen Fällen spielten die Restauratoren Detektive: so fanden sie in der ausgehöhlten Rückseite einer Madonna (Nr. 30) Pergamentreste, die sich als Teile eines nordfranzösischen Missale entpuppten und damit die Herstellung der Figur in dieser Gegend nahelegen, oder in den Zwischenräumen der Tafeln eines Frontale Pergamentfragment aus der königlichen Kanzlei in Bergen, womit sich eine Herstellung in Bergen erhärtet. Im 15. Jahrhundert werden dann Lokalisierungen erleichtert durch Stifterinschriften, wie die des Lübecker Kaufmanns Gerdt Alandt, der die Bildtafel (Nr. 95) wohl aus Lübeck mitbrachte. Übereinstimmungen in der Schreinkonstruktion sowie der Fassmalerei legen eine Herstellung zweier Flügelaltäre (Nr. 96, 98) in Utrecht nahe; da aufgrund des calvinistischen Bildersturms sich in den Niederlanden kaum Altäre erhalten haben, öffnet sich plötzlich über den Umweg Bergen ein Fenster auf die dortige Produktion um 1500.
Insgesamt ist dieses Buch der mittelalterlichen Kunst im Bergener Museum ein ausgezeichnetes Kompendium, um die wichtige Sammlung bekannt zu machen und sich relativ rasch einen Überblick über die mittelalterliche Kunst in Norwegen zu verschaffen. Etliche Werke werden seit über hundert Jahren das erste Mal wieder vorgestellt, so dass der Katalog selbst für Spezialisten nützlich ist. Gewünscht hätte man sich zur besseren Einordnung einen kurzen Abriss über die norwegische Geschichte dieser Zeit und bei den Kunstwerken oft einige weiterführende Bemerkungen zu Stilistik, Thematik und Ikonografie anstelle der manchmal etwas langatmigen Beschreibung. Um mehr Informationen zu erhalten, muss man zum Ausst.Kat. North & South, der zwei Jahre früher u.a. von Kroesen publiziert wurde, greifen, womit aber nur eine beschränkte Zeitspanne des Sammlungskataloges abgedeckt ist.
[1] Mündl. Mitteilung an die Rezensentin
[2] Justin Kroesen/Micha Leeflang/Marc Sureda i Jubany (Hrsg.): Auss.Kat. North & South. Medieval art from Norway and Catalonia 1100 – 1350, Zwolle 2020.
[3] Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München 2011, S. 465, wo er Miri Rubin zum Lewis Schachspiel befragt hat.
Kroesen, Justin E. A.; Kuhn, Stephan (Hrsg.): Die Sammlung mittelalterlicher Kirchenkunst. Universitätsmuseum zu Bergen (Norwegen), Regensburg: Schnell & Steiner 2022
ISBN-13: 978-3-7954-3604-9, 223 Seiten, 25 Euro, table of contents
Recommended Citation:
Verena Kessel: [Review of:] Kroesen, Justin E. A.; Kuhn, Stephan (Hrsg.): Die Sammlung mittelalterlicher Kirchenkunst. Universitätsmuseum zu Bergen (Norwegen), Regensburg 2022. In: ArtHist.net, Jul 7, 2024 (accessed Dec 23, 2024), <https://arthist.net/reviews/41969>.
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International License. For the conditions under which you may distribute, copy and transmit the work, please go to https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/