Comics sind visuell-taktile Medien, die als solche wahrnehmungsorientiert zu begreifen sind. Dies ist die Kernaussage in Nina Eckhoff-Heindls Dissertationsschrift „Comics Begreifen. Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories“ (Reimer 2023). Dort nähert sie sich dem Medium Comic aus einer dezidiert kunstwissenschaftlichen Perspektive. Dies allein ist immer noch eine Seltenheit in der deutschen Comicforschung, die auch weiterhin literaturwissenschaftlich und medienwissenschaftlich dominiert wird.[1] Eckhoff-Heindl legt eine methodisch versierte wie monografisch detaillierte Studie zur körperlichen Rezeption von Comics im Generellen sowie am Beispiel von Chris Wares Ausnahmepublikation Building Stories (2012) vor.[2] Letzteres ist ein komplexes Comicprojekt, das aus mehreren Heft- und Buchformaten sowie Brettspielelementen besteht und vielschichtige, oft offene Erzählstränge im Kontext der Bewohner:innen eines Mehrfamilienhauses in Chicago über viele Jahrzehnte verfolgt.
Mit ihrem wahrnehmungsorientierten Ansatz definiert Eckhoff-Heindl Comics als „visuell-taktiles Medium“ (13) und befragt sie als „ästhetische Erfahrungsmöglichkeit“ (65). Damit baut sie im besonderen Maße auf Ian Hagues multisensorischer Analyse von Comics auf.[3] Die Einordnung in die Forschungslandschaft nimmt Eckhoff-Heindl umfassend und reflektiert im einleitenden Kapitel vor. Schon hier zeigt sich die parallel adressierte Leser:innenschaft: zum einen die deutsche interdisziplinäre Comicforschung, die von einer Aufbereitung der Möglichkeiten kunstwissenschaftlicher Ansätze für die Analyse von Comics weiterhin profitieren kann. Sie breitet diese daher umfangreich aus und bereitet sie didaktisch für eine nicht-kunstwissenschaftliche Leser:innenschaft auf. Zum anderen richtet sie sich mit der Anwendung kunstwissenschaftlicher Ansätze auf Comics an die Kunstwissenschaft, die Comics als Forschungsgegenstand noch immer vernachlässigt. Eckhoff-Heindl versteht es, differenziert die Forschungslage der letzten Jahrzehnte einzuordnen. Hier findet die präzise vorgenommene eigene Standortbestimmung eine harmonische Entsprechung zur Besprechung einer subjektivierten, wahrnehmenden Handhabung von Comics. Ihr phänomenologischer Ansatz wird durch die feministische Standpunkttheorie aktualisiert; rezeptionsästhetische Methoden entwickelt sie mit Janneke Wesseling weiter und dehnt sie auf Fragen nach der Materialität und der körperlichen Rezeption von Artefakten aus.[4] Besonders harmonisch und produktiv ist dabei das Zwiegespräch des Textes mit Björn Hochschilds filmwissenschaftlicher Doktorarbeit zu Figurenrezeption in Comics (vgl. 67–68).[5] Beide aktualisieren und erweitern phänomenologische Ansätze, setzen aber andere Schwerpunkte.
Ihrer Leitfrage – „Wie kann in Comics durch Sinneswahrnehmung Erfahrung sowie Bedeutung generiert werden?“ (305) – geht Eckhoff-Heindl nach einem Einleitungskapitel in zwei theoretisch und methodisch orientierten Kapiteln nach: Im ersten Kapitel „Comics als narrative Artefakte eines visuell-taktilen Mediums“ wird die Beziehung der Kunstwissenschaft zu Comics ausgelotet und Comics werden als Artefakte etabliert. Eckhoff-Heindl positioniert sich hier entgegen dem Trend sich auf die Beziehung zwischen Bild und Text zu konzentrieren auf das Visuelle beider Zeichensysteme anhand von W.J.T. Mitchells Begriff der „mixed media“ (43); konkret fokussiert sie das visuell-taktile Erzählen des Comics (vgl. 56–65).[6] Eckhoff-Heindls umfangreichen Vorerklärungen sind ein Resultat des prekären Stands von Comics in der Kunstwissenschaft sowie des ähnlich schwierigen Standes von Kunstwissenschaft in der Comicforschung. Durch diesen Prolog gerät Eckhoff-Heindl jedoch schon zu Beginn ihrer Arbeit in die Defensive. Es wäre wünschenswert, wenn dies in Zukunft für kunstwissenschaftliche Comicforschung – ebenso wie für Comicforschung in anderen Disziplinen – nicht mehr vonnöten erschiene. Eckhoff-Heindls Dissertationsschrift trägt ihren Teil dazu bei, diese vermeintliche Erklärungsnot abzubauen. Im zweiten Theoriekapitel „Ästhetische Erfahrung durch und mit Comics“ steht die Frage im Mittelpunkt, wie Comics erfahren werden. Dies erfolgt aus philosophischer und phänomenologischer Perspektive. Eckhoff-Heindl spricht dabei das Problem der Reflexivität an und deren exzessiven Gebrauch im kunstwissenschaftlichen Diskurs. Die Frage bleibt offen, ab wann Bildern Reflexivität zugesprochen muss oder überhaupt abgesprochen werden kann (vgl. 73–78).[7] Dennoch sieht sie Reflexivität als notwendige Komponente ästhetischer Erfahrung, welche sie als „dialogische[s] Verhältnis von Artefakt und Rezipierenden“ (101) definiert.
Erst jetzt – nach über hundert Seiten – folgt die intensive Auseinandersetzung mit dem spezifischen Forschungsgegenstand in der „umfassende[n] Fallstudie“ (10). Für diese nimmt sich Eckhoff-Heindl über 150 Seiten Raum und Zeit, um Chris Wares Building Stories gerecht zu werden und nicht nur als Anschauungsmodell zu instrumentalisieren. Zum Schluss folgt dann noch ein abschließendes Kapitel, in dem weitere sehr unterschiedliche Comics wie unter anderem Art Spiegelmans In the Shadows of No Tower (2004) oder Hawkeye #3 (2013) herangezogen werden, um die Allgemeingültigkeit der von ihr entwickelten Methodik zu unterstreichen.[8]
Der gewählte Textaufbau ermöglicht es Eckhoff-Heindl, neue methodische Herangehensweisen präzise zu entwickeln und diese gleichsam praktisch anzuwenden, ohne dabei auf die detaillierte Analyse und ein Close-Reading von Building Stories zu verzichten. Sie jongliert gekonnt mit den Doppeladressat:innen (Kunstwissenschaft und interdisziplinäre Comicforschung) sowie mit der doppelten inhaltlichen Ausrichtung (Methodik und Monografie). Der Wermutstropfen dieses Textaufbaus: Wenngleich Eckhoff-Heindl versucht, immer wieder auch anwendungspraktische Einschübe in den dichten Theorieteil einfließen zu lassen, so benötigt die Leserin doch einen langen Atem, um zum anwendungsorientierten Kern der Arbeit, dem Fallbeispiel, zu gelangen. Die Aufteilung der Arbeit in Theorie und Methodik auf der einen und Praxis im Sinne eines Fallbeispiels auf der anderen Seite schafft eine Trennung, die aus pragmatischer Perspektive sinnvoll erscheint, unter der aber Verständnis und Nachvollziehbarkeit leiden. Auch die abschließenden „Exemplifikationen“ (269) erscheinen strategisch sinnvoll, um die Methodik eben nicht nur an einem sehr spezifischen Beispiel zur Anwendung zu bringen. Dem Spannungsbogen des Textes sind sie jedoch nicht unbedingt dienlich.
Auf der Grundlage ihrer zwei Prämissen – Comics sind visuell-taktile Medien und der Rezeptionsprozess ist ein dialogisches Verhältnis zwischen Comic und Rezipient:in – erarbeitet Eckhoff-Heindl die wahrnehmungsorientierten Wirkweisen aus dem Visuellen – der Beziehung zwischen dem Tiefenraum und der Planimetrie von Darstellung und Dargestelltem – sowie dem Haptischen – der Beziehung zwischen der Materialität und der Handhabung (vgl. 305). Besonders gelungen ist dabei die Analyse von Building Stories anhand des dialogischen Verhältnisses zwischen der Körperlichkeit des Artefakts und der körperlichen Rezeption. Fragen nach der visuell-taktilen Handhabung der Trägermaterialien, zum Beispiel im Kontext von Klappeffekten,[9] dem Blättern, veränderten Perspektiven und Beziehungen aufgrund der Positionierung von Bildelementen an prägnanten Topografien des Artefakts oder der hier sehr sinnigen „Bastelbarkeit“ (252) gehen erkenntnisreich in der Analyse der grafischen Erzählung auf. Darüber hinaus bettet Eckhoff-Heindl Building Stories in Wares Werk ein und nutzt verbindende sowie kontrastierende Vergleiche konstruktiv.
Eckhoff-Heindls Fokus auf die visuell-taktile Wahrnehmung von Comics unter rezeptionsästhetischen und phänomenologischen Gesichtspunkten ist zukunftsweisend für die Comicforschung. Aus diesem Grund wurde ihr 2023 auch der Roland-Faelske Preis für die beste Dissertationsschrift aus dem Bereich Comic und Animationsfilm verliehen, der alle zwei Jahre von der Roland-Faelske Stiftung und der Arbeitsgemeinschaft für grafische Literatur der Universität Hamburg ausgelobt wird.[10] Denn – so können wir mit Nina Eckhoff-Heindl schließen – „ohne die visuell-taktile Auseinandersetzung wird die Erzählung im Inneren des Comics [und Comics im Allgemeinen, Anm. d. Rez.] nicht zugänglich“ (305).
Anmerkungen:
[1] Vorarbeiten, auf die sich Eckhoff-Heindl bezieht, sind Jacqueline Berndt, Manga: Medium, Kunst und Material. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015; Maggie Gray u. Ian Hague (Hg.), Seeing comics through art history. Alternative approaches to the form. London: Palgrave Macmillan, 2022; Dietrich Grünewald, Die Kraft der narrativen Bilder. In: Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der Graphik Novel, hg. v. Susanne Hochreiter u. Ursula Klingenböck, Bielefeld: transcript, 2014, 17–52; Alexander Press, Die Bilder des Comics. Funktionsweisen aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive. Bielefeld: transcript, 2018.
[2] Chris Ware, Building Stories. New York: Pantheon, 2012.
[3] Ian Hague, Comics and the senses. A multisensory approach to comics and graphic novels. New York: Routledge, 2014.
[4] Vgl. Donna Haraway, Situated knowledges. The science question in feminism and the privilege of partial perspective. In: Feminist studies 14.3 (1988), 575–599; Janneke Wesseling, The perfect spectator. The experience of the art work and reception. Amsterdam: Valiz, 2017.
[5] Björn Hochschild, Figuren begegnen in Filmen und Comics. Berlin u. Boston: De Gruyter, 2024.
[6] Vgl. zu Bild-Text-Beziehung (Thon/Wilde), zu Bild-Bild-Gefüge (Postema) und „mixed media“ (Mitchell): W.J.T. Mitchell, There are no visual media. In: Journal of visual culture 4.2 (2005), 257; Barbara Postema, Making sense of fragments. Narrative structures in comics. Rochester: RIT, 2013; Jan-Noël Thon u. Lukas R.A. Wilde, Mediality and materiality of contemporary comics. In: Journal of graphic novel and comics 7.3 (2016), 233–241.
[7] Vgl. Eva Geulen u. Peter Geimer, Was leistet Selbstreflexivität in Kunst, Literatur und ihren Wissenschaften? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaften und Geistesgeschichte 89.4 (2015), 521–533.
[8] Matt Fraction, David Aja u. Matt Hollingsworth, Hawkeye #3. New York: Marvel, 2013; Art Spiegelman, In the Shadow of No Tower. New York: Pantheon, 2004.
[9] Hier greift Eckhoff-Heindl zu kunstwissenschaftlichen Ansätzen aus Mediävistik und früher Neuzeit: Vgl. z. B. Helga Lutz u. Bernhard Sieger, In der Mixed Zone. Klapp- und faltbare Bildobjekte als Operatoren hybrider Realitäten. In: Klappeffekte. Faltbare Bildträger in der Vormoderne. Hg. v. David Ganz u. Marius Rimmele. Berlin: Reimer, 2016, 109–138.
[10] https://www.slm.uni-hamburg.de/imk/forschung/arbeitsstellen-zentren/argl/roland-faelske-preis.html (Letzter Aufruf: 7.02.2024).
Eckhoff-Heindl, Nina: Comics begreifen. Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories (= Bild+Bild; Band 8), Berlin: Reimer-Verlag 2023
ISBN-13: 978-3-496-01685-4, auch als e-book erhältlich
Empfohlene Zitation:
Helene Bongers: [Rezension zu:] Eckhoff-Heindl, Nina: Comics begreifen. Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories (= Bild+Bild; Band 8), Berlin 2023. In: ArtHist.net, 25.02.2024. Letzter Zugriff 19.11.2024. <https://arthist.net/reviews/40058>.
Dieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.