REV 15.07.2023

Beyer, Andreas: Künstler, Leib und Eigensinn

Rezensiert von Philipp Zitzlsperger, Universität Innsbruck
Redaktion: Livia Cárdenas
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Die Kontextualisierung der Kunstschaffenden steht seit geraumer Zeit im Fokus der Kunst- und Bildwissenschaften, wenn nach den Entstehungsbedingungen von Kunstwerken im Spannungsfeld von Auftraggeber:innen, Rezeptionsgeschichte, Netzwerken, Institutionskritik oder etwa politischem Mikro- und Makrokosmos zu fragen ist. Andreas Beyer nun tritt absichtlich noch einmal einen Schritt zurück und wendet sich wieder dem Künstlerindividuum zu, um nach der Synthese von Physis und Psyche, von Leib und Seele zu suchen. „Es ist der Eigensinn des Künstlers selbst, der sich dem Determinismus widersetzt; Eigensinn in der wohlwollenden Lesart des Begriffs, der persönliche Eigenschaften und eigene Bedürfnisse ebenso erschließt wie Geist und Sinnlichkeit, Selbstbewusstsein und Selbstaufmerksamkeit, dazu Beharrungsvermögen und Widerstandskraft.“ (S. 9-10)

Das neue Buch von Andreas Beyer über „Künstler, Leib und Eigensinn“ plädiert für die intensive Beachtung des Künstlerleibs, dessen Beitrag zur Verflechtung von Künstler und Welt und zum Werkprozess durch die Überwindung der ewigen Leib-Seele-Dichotomie zu erschließen ist. Es geht also um den Künstler und seine Selbstzeugnisse, seine gesellschaftliche Selbstverortung, seine diätetische Arbeit am Kunstwerk und am Künstlerkörper gleichermaßen. Einzuordnen ist Beyers Ansatz in eine schon länger verfolgte Beschäftigung mit Körperkonzepten und einer semiologischen Aufwertung des Körpers, in Verkörperungstheorien (Embodiment), Körperschemata der Ästhetik bis hin zu den kunsthistorischen Ansätzen der Bildakttheorie und erotisch-körperlichen Kreativitätstheorie.[1] Beyer lenkt vor diesem Hintergrund die Perspektive von der Werk-Betrachter-Relation auf die Künstler-Werk-Relation und dort insbesondere auf den Künstlerkörper selbst, seine Selbstbetrachtung im Dienste des Werkprozesses, die in Michelangelos Bonmot gipfelt: „In meinen Werken scheiße ich Blut“. (S. 5).

Damit ist metaphorisch die Leiblichkeit des frühneuzeitlichen Kunstwerks adressiert. Die Künstlerhand (bisweilen sogar auch der Künstlerfuß) avancierte zum wichtigsten Organ, deren Übung zur Formvollendung der Kunst und zum Stil als Künstlersignatur führt. Darüber hinaus hebt Beyer auch immer wieder auf den Werkprozess als Zeugungsakt ab, dem Ulrich Pfisterer 2014 eine kurzweilige Studie widmete, die nun ergänzt wird um die Verleiblichung des Kunstwerks im Verhältnis zur Selbsttechnik des Künstlers bis hin zum Suizid. Dazu zählt auch der Habitus des Künstlers, das heißt dessen Selbstrepräsentation, die die thematische Klammer des Buches bildet und von Dürers Self-fashioning bis zu Federico Zuccaris „Graphic Novel“ um 1595 erörtert wird, einer visuellen Kunsttheorie, die künftigen Künstlergenerationen Anleitung zur Arbeit am eigenen Habitus sein sollte.

Mit Dürer beginnt Beyer seine Tiefenbohrungen. Überhaupt ist festzustellen, dass sich mehr als die Hälfte des Buchs Dürer widmet. Zurecht – denn nur über wenige Künstler sind wir durch Bild-, Schrift- und Selbstzeugnisse so gut informiert wie über den Nürnberger Künstler. Legende ist sein Äußeres, seine Frisur und Barttracht, die bei Zeitgenossen nicht selten für Spott sorgten. Akkurat arrangiert war auch Dürers vestimentärer Auftritt, den man in den Selbstporträts gut studieren kann, so wie seine kommentierte Entwurfszeichnung eines Schuhs über seine detaillierten Kenntnisse des Schusterhandwerks informiert. Dürer kuratierte seinen Körper und dessen Hülle mit großer Sorgfalt, auch um seinen sozialen Status zu markieren. Er steht exemplarisch für die „cura sui“, die den Künstlerkörper inszeniert. Markant als Pionierleistung der autobiografischen Selbstbeobachtung ist aber auch Dürers „Traumgesicht“ (1525), die Analyse eines Alptraums. Es ist eine Bild-Text-Synthese als Aquarell, das Dürers Traum von einem Sturzregen nachzeichnet und kommentiert. Beyers geistreicher Brückenschlag führt dann zurück zu Dürers sechs Kissenzeichnungen (1493), deren Faltenwürfe anthropomorphe Formationen aufweisen, in denen selbstreferentielle „Dämonen“ der Nacht zu erkennen sind.

Die Introspektion in Jacopo Pontormos „Libro mio“ (1554-1556) bezeichnet die nächste Entwicklungsstufe der autobiografischen Selbstbeobachtung, die die Seele und den Körper des Künstlers ins Verhältnis zur Welt setzt.[2] Das Tagebuch zählt zu den Gründungstexten der europäischen Autobiografik und nimmt an drastischer Körperselbstbeobachtung den viel bekannteren Essays (1572-1592) Michel de Montaignes vorweg. Trotz seiner geistes- und kunstgeschichtlichen Pionierstellung hat es in der Wissenschaft bislang wenig Beachtung gefunden, die Beyer mit gewitzter Prosa zu generieren versteht. Denn hier entpuppt sich „Kunst als digestiver Prozess“, der im Kreislauf von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung zu erleben ist. Während Pontormo an seinem (heute verlorenen) Florentiner Freskenzyklus im Chor von San Lorenzo arbeitete, notierte er akribisch sein vegetatives Körperbefinden in Relation zum Fortschritt am Kunstwerk. Im April 1555 hatte er mehrere Tage an Durchfall und Arbeitsausfall gelitten, bis er schließlich notierte, dass er eine seiner Figuren im Fresko vollenden konnte: „Mittwoch, zwei Spiegeleier. Donnerstagfrüh zwei feste Würste gekackt, sie kamen raus, als wären’s lange, weiße Baumwolldochte, das heißt aus weißem Fett; ziemlich gut war das Abendessen in San Lorenzo, vortreffliches Siedfleisch und die Figur wurde fertig.“ (S. 138)

Ungleich bekannter ist, wie Michelangelo sich als asketischer Künstler stilisierte, der körperliche und kulinarische Genüsse angeblich nicht kannte. Meist habe ihn die viele Arbeit vom Essen und Schlafen abgehalten. Doch ganz so genügsam, wie er sich in seinen Sonetten betrauert und wie es das Ideal vom rastlos tätigen Künstler will, war sein Alltag nicht. Ein erhaltener ‚Einkaufszettel‘ Michelangelos bezeugt vielmehr seine Vorliebe für Florentiner Delikatessen, die ihm sein Neffe aus der Arnostadt nach Pietrasanta bringen sollte. Ohnehin scheint die Essensverweigerung in der frühneuzeitlichen Künstlerszene wenig beliebt gewesen zu sein, sonst hätte Vasari in seinen Viten nicht so viel über die „Eat Art“, wie sie in der Gegenwartskunst heißt, geschrieben – ebenjene Kunst, die durch den Magen geht. Sie feierte ihre Urständ bei Michelangelos und Benvenuto Cellinis Belohnungsspeisen, den Omelettes, Kapaunen und Salaten, oder bei kulinarischen Großereignissen im Hause Gianfrancesco Rusticis und der Einverleibung von in Essen nachgebildeter Kunst. So wie andere metaphorisch Bücher verschlingen, verschlangen die Künstler nachgekochte Kunst und betrieben Kunstkannibalismus (Ikonophagie). Der Einnahme von Kunst folgte deren Verdauung – weniger im biologischen als im kreativen Sinn. Nicht umsonst, das wäre hier zu ergänzen, hebt Paul Fréart de Chantelou auf diese Theorie des körperlich-digestiven Kunstwerks ab, wenn er über Gianlorenzo Bernini in Paris berichtet, dass dieser den Sonnenkönig von allen Seiten skizzierte, nicht aber, um dann nach den Skizzen zu arbeiten, sondern mittels der Zeichnungen das geistige Bild, die Idea, zu formen. Bernini saugte sich buchstäblich mit dem Antlitz Ludwigs XIV. voll, nahm es in sich auf („insuppato et rinvenuto“, Chantelou 30.7.1665), um es am Ende verdaut und verarbeitet als wahre Kunst in der Porträtbüste auszuscheiden – eine andere Variante der Kunst-Geburten.

Schließlich entdeckt Beyer eine weitere Variante der Kunstgeburt im Künstler-Suizid. Mit dieser „ultimativen Selbstformung“ gelang es Francesco Borromini, den eigenen Tod 1667 als finales Kunstwerk zu inszenieren. Diese Deutung ist ebenso überraschend wie überzeugend vor dem Hintergrund, dass Borrominis Selbstmord immer zwischen Melancholie und Schizophrenie eingeordnet wurde, nunmehr aber, bereinigt von Künstlerlegenden und im Rekurs auf Seneca, Cato oder Plinius den Jüngeren, als Körperkunst eine neue Bedeutung gewinnt. Zwischen Leben und Tod oszilliert also das Künstler-Ich, dessen Leib sich am Ende eben auch in das überlieferte Kunstwerk selbst einprägt und als Kunstpraxis bis in die Moderne und Gegenwart reicht – von Marcel Duchamps Ejakulat bis hin zu Marina Abramovićs Körpereinsätzen in der Performancekunst. Beyer sieht die facettenreiche Inszenierung des Künstlerleibs zurecht als Longue durée des leiblichen und künstlerischen Selbst.

Übergreifend nimmt Beyer einen instruktiven Perspektivenwechsel auf den frühneuzeitlichen Künstler und dessen Werk vor. Gerade in seiner erhellenden Einbeziehung der Vestimentären Kunstgeschichte als Methode bleiben jedoch manche Passagen widersprüchlich, etwa wenn Beyer Dürers Pelzschaube in dessen Münchner Selbstporträt kurzerhand bescheinigt, keine Standesinsignie zu sein (S. 90), sondern Ausdruck individueller Stilisierung. An dieser Gelenkstelle der vestimentären Argumentation, der er ansonsten in seinem Buch zurecht viel Raum gibt, sitzt er falschen Behauptungen auf und vergibt die Chance, Selbstinszenierung und Prosopografie methodisch zu verknüpfen.[3] Man könnte darüber hinaus kritisieren, dass mit der Künstlerleiblichkeit der Kunst die Individualität des Unikats zu dogmatisch ausfällt. Denn mit dem vormodernen Individuumsbegriff (S. 19-20) trifft Beyer zwar den richtigen Ton. Aus heutiger Sicht wäre dennoch etwas mehr Distanz zum Individuums- und Unikatsklischee hilfreich, um dem ewigen Unikatsfetischismus und der irrwitzigen Kopie- und Serienfeindlichkeit westlicher Prägung den Schwung zu nehmen. Die Reproduzierbarkeit des vermeintlichen Unikats verursacht eben keinen Auraverlust, sondern – dies ist nun nach der Lektüre des Buches zu konstatieren – setzt die Leib-Seele-Einheit und Leibhaftigkeit des Kunstwerks fort.

[1] Spätestens seit Edgar Wind (1900-1971) ist „Verkörperung“ Teil der kunsthistorischen Theoriebildung. Weiterführend: Horst Bredekamp/ Bernhard Buschendorf/ Freia Hartung/ John Michael Krois (Hg.), Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998. Marion Lauschke (Hg.), 23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung, Berlin 2018. Zur erotisch-körperlichen Kreativitätstheorie vgl. Ulrich Pfisterer, Kunst-Geburten. Kreativität, Erotik, Körper in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014.
[2] Für die Erforschung von Pontormos „Libro mio“ grundlegend sind die Studien von Hana Gründler, im Besonderen: Hana Gründler: „Die Mühen der Tätigen“. Haltung in Pontormos „Libro mio“, in: Johannes Bilstein, Guido Reuter (Hg.): Haltung und Affekt, Wien u.a. 2020, S. 23-36. Hana Gründler: Die Mühen des Körpers. Ethos und physis in Pontormos Libro mio, in: dies.: Die Dunkelheit der Episteme. Zur Kunst des aufmerksamen Sehens, Berlin 2019, S. 162-180.
[3] Zu Dürers Schaube und den Rückenmarderpelz ausführlich Philipp Zitzlsperger, Dürers Pelz und das Recht im Bild, Berlin 2008, v.a. S. 30-31. Zur Pelzschaube als Standesinsignie im ausgehenden 15. Jahrhundert vgl. etwa die Nürnberger Polizeiordnungen von 1496 (Joseph Baader, Nürnberger Polizeiordnungen aus dem 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 1861, S. 104).

Beyer, Andreas: Künstler, Leib und Eigensinn. Die vergessene Signatur des Lebens in der Kunst, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2022
ISBN-13: 978-3-8031-3719-7, 336 Seiten, EUR 36,00, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Philipp Zitzlsperger: [Rezension zu:] Beyer, Andreas: Künstler, Leib und Eigensinn. Die vergessene Signatur des Lebens in der Kunst, Berlin 2022. In: ArtHist.net, 15.07.2023. Letzter Zugriff 22.11.2024. <https://arthist.net/reviews/39791>.

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