Der moderne Kirchenbau des 20. Jh. gilt trotz einer inzwischen fast unüberschaubaren Zahl an Publikationen – von der Architektenmonografie über regionale Katalogisierungen bis zu großformatigen Coffeetable-Bildbänden – nach wie vor als ein Randthema der Architekturgeschichte. Aufgrund der akuten Bedrohungssituation des Baubestands durch Sanierungsstaus, Kirchenmitgliederschwund und Reduzierung der finanziellen Mittel in den Landeskirchen und Bistümern steht nunmehr nicht allein die architektur- und kulturhistorische Bedeutung der oftmals hochrangigen Bauten im Fokus, sondern ihr soziokulturelles Einbindungspotential, ihr Einfluss auf ihre städtebauliche Umgebung, kurz die Möglichkeit, diese Räume erweitert zu nutzen. Vorbildlich für den Schweizer Kirchenbau seit 1945 (und darüber hinaus) demonstrieren dies nun die vielschichtige Perspektiven behandelnden Beiträge des Tagungsbands Moderner Kirchenbau in der Schweiz, herausgegeben von dem Kunsthistoriker und Kirchenbauspezialisten Johannes Stückelberger. Einerseits verdeutlichen die interdisziplinären Beiträge die intensive Verflechtung moderner Sakralarchitektur mit heutigen Strukturen aktiven Gemeindelebens, andererseits veranschaulichen sie die architektonischen und akustischen Besonderheiten der Bauten bis hin zu ihrem Glockenklang. Ein Fokus liegt auf den Gemeindezentren der 1970er und 1980er Jahre, die gemeinhin als sowohl architektonisch als auch pastoral ungeliebt gelten und doch gerade heute in ihrem wegweisenden Potential der Multifunktionalität und der Anschlussfähigkeit an ihr Umfeld wiederentdeckt werden müssen.
Der rund 150 Seiten umfassende, schlanke Paperback-Band enthält neun überarbeitete Vorträge, die von den Autorinnen und Autoren anlässlich des dritten Schweizer Kirchenbautags in Bern 2019 gehalten wurden. Er erschien 2022 im Theologischen Verlag Zürich (tvz). Weder der Band noch die einzelnen Beiträge streben eine Dokumentation des Kirchenbestands in der Schweiz nach 1945 an, sondern behandeln gezielt ausgewählte Perspektiven, beispielsweise Anke Köth in ihrem Beitrag „Alltag und Atmosphäre“ (10–24), Johannes Stückelberger in zwei Beiträgen „Bilderlosigkeit und Bilder“ (25–42) sowie „Kirchengemeindezentren“ (106–120), Katrin Kusmierz „Gestalt gewordene Theologie […]“ (61–74) oder Bernhard Furrer „Denkmalpflegerischer Umgang mit Kirchen der Nachkriegszeit“ (121–141). Beiträge zu Glockengeläut, Orgelspiel und moderner Liturgie von Matthias Walter (75–87), Michael Meyer (88–105) und Urban Fink (43–60) runden das Kaleidoskop der Themen rund um moderne Sakralbauten fachlich ab. Am Ende des Bands findet sich das Transkript eines Gesprächs, das Johannes Stückelberger auf dem Kirchenbautag 2019 mit Pfarrerinnen und Pfarrern aus drei bedeutenden Kirchen bzw. Kirchenzentren der Schweiz (Ökumenische Kirche Halden in St. Gallen, Reformiertes Kirchenzentrum Kradolf, St. Konrad Schaffhausen) führte (142–152).
Alle Beiträge enthalten wertvolle Hinweise und Schlüssel zum Verständnis von und zum Umgang mit modernen Sakralbauten – zu den Konflikten atmosphärischer und rein praktischer Natur, zu theologischen und architekturgeschichtlichen Charakteristika und nicht zuletzt zu den Sorgen um ihre Erhaltung und zukünftige Nutzung. Anke Köth demonstriert anhand verschiedener Grundtypen wie Zelt, Skulptur und Alltag nicht nur die Vielfalt des architektonischen Ausdrucks, sondern zugleich den permanenten Wandel im theologischen, liturgischen und pastoralen Verständnis des 20. Jh., als dessen Spiegel die Architektur verstanden werden will und muss. Schon in der nach dem Krieg als Notbautyp eingeführten und dann architektonisch etablierten Zeltkirche drückt sich für Köth eine wesentliche Symbolik des Aufbruchs, der Wanderschaft und auch der Bescheidenheit und Einfachheit im Kirchenbau aus (10–12).
Die mitunter sehr unterschiedlichen skulpturalen Betonbauen von Schweizer Architekten wie Hermann Baur, Justus Dahinden, Hanns A. Brütsch, Walter Maria Förderer u. a. verweisen einerseits auf die nach Köth in der Schweiz besonders intensive Rezeption der Wallfahrtskirche Notre-Dame du Haut in Ronchamp des Schweizer Architekten Le Corbusier, die einen besonderen Spannungsbogen zwischen künstlerischer Autonomie und spiritueller Bauaufgabe erzeugte. Andererseits greift diese Generation auf eine intensive Auseinandersetzung mit den expressiven Gesamtkunstwerkidealen des Kirchenbaus seit den 1920er Jahren zurück. Insbesondere die Bauten Förderers lassen sich auf die einst von Bruno Taut (1880–1938) definierte Stadtkrone zurückführen. Seine Kirchenbauten sind weniger als soziologisches denn als strukturelles Zentrum des Ortsgefüges zu verstehen. Mit Blick auf heutige Diskussionen um die Bedeutung von Kirchen im Stadtbild sind Förderers Gedanken zu gesellschaftlichen Zentren und Orten der Auseinandersetzung (17) neu zu entdecken. In diesem Kontext verweist Köth auf den 1968 erschienenen Band „Kirchen in nachsakraler Zeit“[1].
Im Zusammenhang mit akuten Themen der Nach- und Umnutzung von Kirchengebäuden sei besonders auf die Beiträge von Katrin Kusmierz und Johannes Stückelberger zu Kirchengemeindezentren verwiesen. Kusmierz spürt ihrer besonderen Rolle als Vermittlungsorten zwischen Gemeindeleben und Alltag nach und skizziert die Entwicklung dieses Konzepts, während Stückelberger exemplarisch ihre Wandlungs-und Anpassungsfähigkeit an Veränderungen in der pastoralen und in der liturgischen Nutzung nachweist. Die bereits 1960 in Berlin eröffnete Ladenkirche des evangelischen Theologen Ernst Lange förderte als Kirche für die Welt innergemeindlich partizipative Prozesse, organisierte nach außen Nachbarschaftshilfen und diverse Aktivitäten und versuchte früh, sich als Quartierzentrum zu etablieren (65). Dem Kirchenraum wurde dabei zumindest aus künstlerisch-architektonischer Perspektive eine sekundäre Bedeutung zugewiesen. Theologische Gegenpositionen zu dieser Grundhaltung wollten dagegen Kirche und insbesondere das Evangelium als Gegenüber zur Welt verstanden wissen und dieses u. a. in einem gerichteten Kirchenraum (z. B. Wegekirche) ausgedrückt sehen (72f.).
Lehrreich erscheint aus der zeitlichen Distanz betrachtet, dass diese Standpunkte wesentlich auf die architektonischen Formulierungen von Kirchenbauten als Bild gewordene Theologie bezogen waren und ein Für und Wider bestimmter Bautypen, insbesondere Längsbau versus Zentralbau ausgetauscht wurde (73). Kirche in der Welt und Kirche als Gegenüber zur Welt sollten jedoch nicht gegeneinander ausgespielt, sondern der sich daraus ergebende Spannungsbogen produktiv auf den Gebäudebestand übertragen werden. Multifunktionalität und sakrale Bescheidenheit sollten darüber hinaus nicht als atmosphärisches, ästhetisches Defizit oder besser als Indifferenz verstanden werden, sondern vielmehr als grundlegende Haltung eine künstlerische wie theologische Aufwertung erfahren (74). Es ist gerade die Anpassungs- und Erweiterungsfähigkeit kirchlicher Zentren, die sie architektonisch als Bauten der zweiten Hälfte des 20. und inzwischen auch des 21. Jh. ausweisen, in denen Transformation und Wandel nach wie vor größte Beständigkeit haben (119f.). Das transkribierte Gespräch Stückelbergers mit Pfarrerinnen und Pfarrern verschiedener moderner Kirchenstandorte lässt deutlich werden, dass Kirchenzentren in der Praxis längst größere Wertschätzung erfahren, als dies gemeinhin angenommen wird (151). Sie fordern ein hohes Maß an Flexibilität ein und definieren sich in erster Linie über ihre Nutzung als besondere sakrale Orte, was als herausfordernd und oft anstrengend empfunden wird. Nicht jedes Gemeindemitglied ist bereit, diesen Weg mitzugehen und Orte mit einer tradierten liturgischen Ordnung und einer explizit sakralen Atmosphäre werden häufig bevorzugt, doch das Eine wird nur über das Andere zu erhalten sein.
Dass die Herausforderung des Erhalts und der adäquaten Neunutzung von Kirchenbauten längst nicht mehr nur die Moderne, sondern inzwischen den gesamten kulturhistorischen Bestand betrifft, verdeutlicht der Beitrag des Denkmalpflegers Bernhard Furrer. Angesichts der Besonderheiten unterschiedlicher Wertschätzung der verschiedenen Epochenwerke, der immensen Zahl von Kirchenneubauten nach 1945, die weit über den (heutigen) Bedarf errichtet wurden und der geringen zeitlichen Distanz zur fachlichen Beurteilung speziell der Zeit nach 1945 bedarf es neben dem Einsatz der Denkmalpflege auch eines anhaltenden Kommunikationsprozesses (124–126). Umnutzung und mitunter Abbruch sind nicht in jedem Fall zu verhindern, weswegen eine lückenlose Dokumentation jedes Baus vor Veränderungen unerlässlich ist. Wenn die Entscheidung zur Veränderung fällt, sind denkmalpflegerische Kriterien zu berücksichtigen, die auch im Falle nicht denkmalgeschützter Bauten bedacht werden sollten, wie die Bedeutung und das Potential des Innenraums und nicht allein der Fassade (136). Entscheidend ist auch die Entwicklung eines Bauunterhaltsplans (141), da mit regelmäßigen Instandsetzungen eine neuerliche, umfassende Renovierung möglichst lange hinausgeschoben werden kann.
Die Vielfalt und inhaltliche Pointierung der im Schnitt 10 bis 15 Seiten umfassenden und mit einigen s/w-Abbildungen ergänzten Beiträge erlaubt eine rasche Erfassung der Thematik sowie der heutigen Problemstellungen. Hervorzuheben ist dabei die gelungene Gratwanderung, sich weder explizit einer bauhistorischen Erkundung noch einer rein Konflikte ausdifferenzierenden Darstellung zu widmen, sondern in den vielschichtigen Perspektiven zahlreiche neue Denkanstöße sowohl zur kulturhistorischen Bewertung als auch zum aktiven Umgang mit dem Baubestand zu geben. Der vorliegende Sammelband zeigt auch auf, wo es noch Wissenslücken aufzufüllen gilt und welche Themen für die aktuellen Diskussionen eine besondere Anschlussfähigkeit aufweisen. Insgesamt stellt er einen wichtigen Beitrag für eine interdisziplinäre Aufarbeitung des Kirchenbaus im 20. Jh. dar.
[1] Hans-Eckehard Bahr (Hg.), Kirchen in nachsakraler Zeit (Konkretionen – Beiträge zur Lehre von der handelnden Kirche 2), Hamburg 1968.
Stückelberger, Johannes (Hrsg.): Moderner Kirchenbau in der Schweiz, Zürich: TVZ Theologischer Verlag Zürich 2022
ISBN-13: 978-3-290-18410-0, 155 Seiten, 29,80 Euro, als pdf kostenlos herunterzuladen, Open Access
Empfohlene Zitation:
Manuela Klauser: [Rezension zu:] Stückelberger, Johannes (Hrsg.): Moderner Kirchenbau in der Schweiz, Zürich 2022. In: ArtHist.net, 24.07.2023. Letzter Zugriff 11.12.2024. <https://arthist.net/reviews/39718>.
Dieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.