Der politische Warburg. Zur Ideengeschichte der Bildwissenschaft, Warburg-Haus Hamburg, 12. bis 13. Oktober 2006
Veranstalter: Christian Berndt, Jost Klenner und Jörg Probst
Am 12. und 13. Oktober 2006 fand im Hamburger Warburg-Haus die interdisziplinäre Tagung „Der politische Warburg“ statt. Die Veranstalter haben eine von Aby Warburg ausgehende Ideengeschichte konzipiert, die in das weite Feld politischen Denkens hineinführt. Für die von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderte Tagung konnten Referentinnen und Referenten aus verschiedenen Geisteswissenschaften gewonnen werden, die sich mit politischem Denken im 20. Jahrhundert befasst haben. Die Tagung sollte nicht primär den Umgang mit Bildern in verschiedenen akademischen Disziplinen problematisieren, sondern den Einfluss Warburgs und seines Kreises auf das politische Denken aufzeigen. Gegliedert nach verschiedenen Kulturtechniken, „Streuen und Sammeln“, „Zeichnen und Schreiben“ sowie „Fotografieren und Filmen“, ging jede Sektion zunächst von Warburg aus, um in den weiteren Vorträgen die Wirkung der Bildwissenschaft auf das politische Denken zu verfolgen.
Die erste Sektion „Streuen und Sammeln“ eröffnete die Archivarin des Warburg Institute in London, Claudia Wedepohl, mit einem Vortrag über „Aby Warburg als Erzieher“. Sie konnte zeigen, wie Warburg aus seinen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zur Mission einer kritischen Bildwissenschaft und Breitenerziehung gekommen ist und dafür seine bereits 1904 fassbare Idee eines Typenatlasses zu einem didaktischen Werkzeug entwickelte. Mit den Motivverkettungen seiner bildstrategisch argumentierenden Schautafeln wollte Warburg mythologisches Denken historisch begreifbar und somit beherrschbar machen. Doch Warburgs volkserzieherische Bemühungen scheiterten letztlich, und sein unmittelbarer Einfluss blieb auf den Gelehrtenkreis der Kunstwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) beschränkt. Es folgte ein Vortrag des Kunsthistorikers Johannes Rößler aus Berlin, der sich mit Warburgs Bonner Lehrer Carl Justi beschäftigte: „Moderne Eidola. Carl Justi und die Collage.“ Rößlers Darstellung zufolge erschienen Justi sowohl kennerschaftlich empirische als auch spekulativ philosophische Methoden als unzureichend, weshalb er ein Misstrauen gegen die Systematisierungsleistungen des 19. Jahrhunderts entwickelte. Am Beispiel einer Kladde, in der Justi Fundstücke für sein Velázquez-Buch zusammentrug, konnte Rößler Justis assoziative Arbeitsweise rekonstruieren. Die disparaten Fundstücke aus Velázquez‘ Leben, die nach Jahren geordnet waren, regten Justis historische Phantasie an. Schließlich verfasste er selbst aus diesem Material fiktive Briefe des Künstlers um diese daraufhin zitieren zu können. Rößler erkannte einen wissenschaftspolitischen Akt darin, dass Justi eine historisch-imaginative Kraft gegen das Entwicklungsdenken setzte. Der Philosoph Felix Heidenreich aus Stuttgart stellte in seinem Beitrag „Hans Blumenberg und die Ikonographie“ die Metaphorologie Blumenbergs als Parallele zur Ikonologie dar. Eine direkte Rezeption Warburgs schloss Heidenreich zwar aus, zeigte aber über Ernst Cassirer, der zum engeren Kreis der KBW gehörte, einen vermittelten Rezeptionsweg auf. Blumenberg entwickelte seine Logik der Denkbilder in Abgrenzung zum Begriffsdenken Joachim Ritters und Erich Rothackers, das ihm ohne die Metaphern zu kurz griff. An diesem Beispiel wurde deutlich, wie die Bildwissenschaft der KBW fruchtbare Denkräume auch für die Philosophie eröffnete.
In der zweiten Sektion „Zeichnen und Schreiben“ stellte Barbara Wittmann vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin in ihrem Vortrag „Hans Guck-in-die-Luft in Amerika. Aby Warburg und die Kinderzeichnung“ ein Experiment mit christianisierten Indianerkindern vor, bei dem Warburg Kinderzeichnungen als Erkenntnismittel für seinen Vortrag zum „Schlangenritual“ einsetzte. Den Kindern wurde die Aufgabe gestellt, zu einer Erzählung ein Bild zu malen, in der ein Gewitter vorkam. Einige der Kinder malten den Blitz als eine Schlange, die sich in die Erde bohrt. Das ließ sich durch die Mythen der indianischen Kultur erklären, der diese Kinder zwar entstammten, in der sie aber eben nicht mehr aufwuchsen. Damit wurden sie für Warburg zum Beleg für das Fortleben mythologischer Formen. Holger Brohm vom Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität in Berlin zeigte in seinem Vortrag „Verschiebung der Perspektive. Pierre Bourdieus soziologische Panofsky-Lektüre“ wie Bourdieu sich Erwin Panofskys „Gothic Architecture and Scholasticism“ (1951) methodisch zu nutze machte und in der Auseinandersetzung mit diesem seinen Habitus-Begriff entwickelte. Panofsky, der ebenfalls zum engeren Kreis der KBW zählte, hatte die Prinzipien gotischer Baukunst mit der Scholastik verglichen. In der strukturellen Vergleichbarkeit von Architektur und Philosophie sah Bourdieu - Brohm zu Folge - sowohl eine strukturalistische Kritik am Positivismus als auch eine historische Kritik am Strukturalismus. Der Philosoph Ulrich Johannes Schneider aus Leipzig stellte in seinem Vortrag „Foucaults Bildpolitik“ heraus, dass Foucault zwar Velázquez‘ „Las Meninas“ (1657) in „Die Ordnung der Dinge“ (1966) beschrieben und interpretiert hatte, eine vom Bild ausgehende Methode aber weder entwickelt noch gebraucht hat. Eindrucksvoll inszenierte Schneider die Abbildungslosigkeit von Foucaults Werk, indem er Material zeigte, das sich angeboten hätte, darin abgebildet zu werden. Selbst in seinem einzigen reich illustrierten Buch „Überwachen und Strafen“ (1975) ging Foucault nicht analytisch auf sein Bildmaterial ein.
Die dritte Sektion „Fotografieren und Filmen“ eröffnete der Kunsthistoriker Thomas Hensel mit einem Beitrag über Warburgs politische Kinematographie, der Warburgs Beschäftigung mit dem dänischen Film „Das Himmelsschiff“ (1917) von Holger Madsen ins Zentrum stellte. Der Film lief 1918 im Frontkino der österreichisch-ungarischen Armee. Er zeigt die Begegnung mit einer außerirdischen Kultur, die ihre Kriege hinter sich gelassen hat. Warburg bescheinigte ihm einen „friedensagitatorischen Grundgedanken“, auch wenn er nicht direkt auf den Weltkrieg eingeht. Hensel konnte aufzeigen, wie Warburg die Außerirdischen des Filmes analog zu den Indianern in seiner Studien zum Schlangenritual (1895/1896) betrachtete. Im Stummfilm seiner Zeit sah Warburg eine universelle Kunst, die auf der überall verständlichen Gebärdensprache als einer Art „Ursprache“ oder „Muttersprache des Menschen“ basierte. Ingeborg Villinger, Politikwissenschaftlerin und Leiterin eines Medienanalysezentrums an der Universität Freiburg, sprach über „Ernst Cassirer und die Medien des Politischen“. Sie hob hervor, dass Cassirer von der Dualität „Mythos gegen Aufklärung“ geprägt war. Ihm galt der Mythos als unüberwindbar und im Untergrund immer vorhanden, die Politik stets in die Gefahr versetzend, sie zu sich hinabzuziehen. Villinger zeigte, wie sich Cassirers Kategorien auch heute noch für eine Medienkritik fruchtbar machen lassen, die deutlich macht, dass affektive und um Aufmerksamkeit heischende Bilder den Mythos und nicht die Ratio bedienen. In der Diskussion forderte Villinger die Förderung der Fähigkeit, Bilder zu lesen und als Konstruktionen zu erkennen, ein. Ihr Medienanalysezentrum ist ein Beispiel dafür, wie das bildwissenschaftliche Denken der KBW für eine bildkritische Praxis in der Politikwissenschaft fruchtbar gemacht werden kann.
Wolfgang Pircher ist am Institut für Philosophie in Wien mit Politischer Philosophie sowie Wirtschafts- und Technikphilosophie befasst. In seinem Beitrag „Carl Schmitt und das Barocke in der Politik“ verglich er Schmitts Theorie der Repräsentation mit Repräsentationsformen Ludwigs XIV. von Frankreich. Der Vortrag wäre vielleicht treffender mit „Carl Schmitt und der Absolutismus“ betitelt worden, da im Wesentlichen theoretische Gedankengebäude verglichen wurden. Michael Glasmeier, Professor für Kunst und Design an der Hochschule für Künste in Bremen, sprach zum Abschluss der Tagung über Paul Feyerabend. Er bekannte freimütig, dass er von den Organisatoren zu diesem Thema überredet werden mußte, weil er Feyerabend bisher für den Inbegriff postmoderner Geistlosigkeit gehalten habe. Bei neuerlicher Lektüre begrüßte er aber dessen anarchistische Offenheit für jede Methode oder Strategie, solange sie nur mit Leidenschaft verfolgt wurde. Sein eigener Vortrag wandelte sich zu einem Plädoyer wider den Methodenzwang und für eine leidenschaftliche Wissenschaft. Zum angekündigten Thema „Paul Feyerabend und TV“ äußerte er sich nur insofern, als er mit einem Diktum Feyerabends schloss: Die Kunst des Volkes sei „Dallas“. Wer Kunst und Volk sich näher bringen wolle, müsse zunächst dies verstehen.
Die Tagung vermittelte den Eindruck, dass die Bildwissenschaft Aby Warburgs und seines Kreises um die KBW das ganze 20. Jahrhundert hindurch bis heute politisches Denken gefördert und inspiriert hat. Ihre Gedankenmodelle wurden auf vielfältige Weise übertragen und angeeignet. Das führte aber offenbar nur in Einzelfällen zu einer eigenen bildkritischen Auseinandersetzung. Diese Kompetenz blieb lange alleine bei den Kunsthistorikern. Die Veranstalter sahen sowohl in der Grenzüberschreitung, die Warburgs Beschäftigung mit Bildern aller Art von der antiken Skulptur bis zur Toilettenpapierverpackung bedeutete, als auch im assoziativen Verfahren seiner Bildertafeln, in dem bekannte Bezüge spielerisch gelöst und neue Zusammenhänge konstruiert werden konnten („Überwindung von Oppositionsschemata“), die Basis für seine Ideologiekritik. Diese Auflösung festgefahrener Parteilichkeit bildet das Fundament für den ideengeschichtlichen Bogen von Warburgs Atlas bis hin zu Feyerabends Methodenkritik.
Empfohlene Zitation:
Steffen Dengler: [Tagungsbericht zu:] Der politische Warburg (Warburg-Haus Hamburg, 12.–13.10.2006). In: ArtHist.net, 25.10.2006. Letzter Zugriff 30.12.2024. <https://arthist.net/reviews/393>.
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