Obwohl die Kunstgeschichte seit etwa zwei Jahrzehnten als Folge der object turn und material turn sich für die Untersuchung der Artefakte geöffnet hat, die über den klassischen Begriff des Kunstwerks hinausgehen und besonders stark durch ihre Materialität wirken, bleibt für viele derartige Objekte eine Lesart aus, die ihre spezifische Sprache und Kontexte ihrer zeitgenössischen Betrachtung berücksichtigt. Das Buch von Henrike Haug „imitatio – artificium. Goldschmiedekunst und Naturbetrachtung im 16. Jahrhundert“, das 2019 als Habilitationsschrift an der Technischen Universität Dortmund vorgelegt wurde und 2021 in der Reihe „Interdependenzen. Die Künste und ihre Techniken“ (Band. 7) im Böhlau Verlag erschienen ist, schließt eine dieser Lücken. Der umfassende Text (559 S., 129 Abb.) widmet sich drei Gruppen von Goldschmiedewerken des 16. Jahrhunderts: Handsteinen, Turbanschneckenkannen und Globuspokalen, die innerhalb eines weitgespannten Netzwerks von den an ihrer Entstehung und Rezeption beteiligten Akteur:innen , Räumen und Diskursen vorgestellt werden.
Das Buch öffnet mit einer ausführlichen Einleitung, in der die Auswahl der Untersuchungsobjekte überzeugend begründet wird: Was Handsteine, Turbanschneckenkannen und Globuspokalen verbindet, ist – laut Haug, – dass sie diverse frühneuzeitliche artifizielle Praktiken der Naturnachahmung sichtbar machen und damit als Akteure zu dem frühneuzeitlichen Natur- und Kunstdiskurs beigetragen haben. Mit ihrem Fokus auf die Artefakte als Verkörperung des künstlerischen Wissens und Könnens versteht sich die Arbeit folglich, im Sinne des practical turn, „als Beitrag zu einer Kunsttheorie der Frühen Neuzeit“ (S. 8).
Dieser Ansatz baut auf einer breiten Grundlage der kultur-, wissenschafts- und kunsthistorischen Konzepte des letzten halben Jahrhunderts auf, die den nicht-menschlichen Akteuren Wirkmacht zubilligen (Gell, Latour), ihre früher meist ausgeblendete Materialität als wichtige Quelle deren agency fokussieren (Cole, Ingold, Lehmann, Wagner,) und über die textbasierten Wissensformen hinaus sich den Artefakten als verkörpertem Wissen zuwenden (Baird, Klein, Spary, Smith). Darüber hinaus wird in einem Rückblick auf die frühneuzeitlichen Positionen demonstriert, dass der Kunst- und Künstlerbeitrag in die Entwicklung der Naturwissenschaften nicht erst durch die rezente Forschung entdeckt, sondern vielmehr bereits durch damalige Naturforscher und -philosophen anerkannt wurde. Darauf aufbauend entwirft Haug ihre Herangehensweise, die darauf abzielt, die ausgewählten Werke der Goldschmiedekunst vor dem breiten Hintergrund ihrer komplexen Bezugssysteme (Werkstattpraxis, Sammlertätigkeit, Naturwissenschaft, Theologie, Kartographie) auszudeuten.
An die Einleitung schließen die drei Hauptteile des Buches, die jeweils einer der oben genannten Artefaktkategorien gewidmet sind, und eine vergleichbare (wenn auch die Spezifika der einzelnen Gruppen berücksichtigende) Struktur aufweisen. Den Ausgangspunkt jeder Untersuchung bildet eine präzise Beschreibung eines Vertreters der jeweiligen Gruppe, wobei über das Formelle und Ikonografische hinaus, ein besonderer Fokus auf die präzise (oft auf den restauratorischen bzw. naturwissenschaftlichen Befunden basierende) Bestimmung der verwendeten Materialien und Techniken gelegt wird. Nachfolgend werden vergleichbare Handsteine, Turbanschneckengefäße oder Globuspokale vorgestellt, was der Autorin erlaubt, die typischen Herangehensweisen an die Naturprodukte (mitteleuropäische Erzstufen, exotische Muscheln, (Edel-)Metalle), die in ihnen Anwendung fanden, auszuarbeiten. In den folgenden Unterkapiteln wird der Betrachtungshorizont um die Perspektiven weiterer Akteure erweitert: Sammler, Künstler, Naturwissenschaftler, Kartographen, (Fern-)Händler und den Betrachter:innen. Beispielsweise werden in dem ersten, den Handsteinen gewidmeten Teil zunächst die Sammler bzw. Auftraggeber fokussiert, die an einer einzigartigen Präsentation dieser Bodenschätze interessiert waren. Es waren hauptsächlich Wettiner und Habsburger, die das Potential der Handsteine für die Sichtbarmachung des Silberreichtums von Sachsen, Böhmen und Tirol für sich entdeckt hatten, um damit die durch Gottesgnade legitimierte ökonomische Potenz eigener Dynastien zur Schau zu stellten, was die Entwicklung einer spezifischen Bergwerk-Ikonographie begünstigte. Damit wird die vielfältige „Triggerfunktion“ der Handsteine nicht ausgeschöpft, was Haug einleuchtend zeigt. Für die herstellenden Künstler (gleichsam wie für ihre Berufsgenossen, die die exotischen Muscheln in ihren Werken adaptierten), dienten die natürlichen Eigenschaften als Ausgangpunkt für die Inszenierung eines Dialogs bzw. eines Konkurrenzverhältnisses zur natura naturans. Die Naturschätze lieferten für Theologen den Stoff sowohl für theologische Reflexionen und moralisch-ethische Betrachtungen als auch für die Präsentation mineralogischen Wissens, wie die Bergpredigten des Johannes Mathesius zeigen. Im Gegensatz zu der nach-aufklärerischen Segmentierung der Welt wird in Haugs Untersuchung in jeweils spezifischen Konstellationen eine Verflechtung der Natur- und Kulturphänomene offensichtlich.
Für jede der diskutierten Artefaktgruppen beschreibt Haug präzise, basierend auf reichlich zitierten Quellen, die diversen Diskurse und Kontexte, in denen sie agierten. Die Breite des Blicks demonstriert sie nicht nur indem sie so viele Kunst-, Kultur- und Wissensbereiche souverän betritt, sondern auch, weil sie ihre globalen Verflechtungen aufdeckt (Import von exotischen Muscheln und mit Perlmutt dekorierten Gegenständen aus Asien; Visualisierung der neuerworbenen geografischen Erkenntnisse).
Nur in einem Fall ist die Perspektive unidirektional: Im Kapitel 2.4 wird der Bezug zur Antike am Beispiel der Turbanschneckengefäße thematisiert, deren ornamentales Repertoire und die fantastischen Transformationen der Naturmotive durch die zeichnerischen und grafischen Vorlagen an die Nürnberger und Augsburger Goldschmiede vermittelt worden sei. Dabei wird bei der Adaption der antiken Muster insbesondere die Mittlerrolle italienischer Vorlagen betont, was am Beispiel einer Gruppe der ausführlich vorgestellten Goldschmiedezeichnungen nach Giulio Romano demonstriert wird. Diese Ausführlichkeit mag verwundern angesichts dessen, dass erstens, nur wenige dieser Zeichnungen tatsächlich Meeresmotive aufweisen, und zweitens, weil Zeichnungen generell – im Vergleich mit den multiplizierten und folglich sehr mobilen grafischen Vorlagen – kleinere Wirkungsradien hatten. Einen solchen Impact hatten beispielsweise die 1548 publizierten Entwürfe für Schalen und Kannen des Niederländers Cornelis Floris, dessen 16 von 21 Stichen Meeresmotive aufweisen, wovon acht als Turbanschnecken erkennbar sind. Die Entwürfe von Floris werden in dem Kapitel jedoch nur kurz erwähnt, vielleicht weil sie nicht ohne Weiteres als Beweis für die Italianità der diskutierten Werke fungieren konnten.
„imitatio – artificium“ empfiehlt sich als ein inhaltlich ergiebiges und methodisch überzeugendes Angebot für alle Kunst- und Kulturhistoriker:innen, die die spezifische Sprache der Artefakte studieren möchten. Angesichts der sehr großen Menge und Dichte an zusammengestellten Informationen ist es hilfreich, dass das Buch neben den Personen- und Ortsregistern auch von einem Sachregister begleitet wird, was heutzutage eine Rarität darstellt. Dennoch besteht der Eindruck, dass an einigen (z.B. sekundären biografischen) Details in dem Haupttext hätte verzichtet werden können, um die Lektüre gefälliger zu machen. Darüber hinaus hätte es sich angeboten, die wertvollen Erkenntnisse abschließend in einem Fazit aufzugreifen, gerade weil die einzelnen Studien die Analogien und Spezifika der agency von den analysierten Artefakten und den sie umkreisenden Diskursen ersichtlich machen. Diese wenigen kritischen Anmerkungen vermindern jedoch weder den großen Erkenntniswert der Studie noch ihre Bedeutung als eines der produktiven Modelle für die multiperspektivische Betrachtung der aus der engen Schublade der angewandten Kunst endlich befreiten Artefakte.
Haug, Henrike: imitatio – artificium. Goldschmiedekunst und Naturbetrachtung im 16. Jahrhundert (= Interdependenzen; 7), Wien, Köln: Böhlau Verlag 2021
ISBN-13: 978-3-412-52243-8, 559 S., 80.00 EUR
Empfohlene Zitation:
Aleksandra Lipińska: [Rezension zu:] Haug, Henrike: imitatio – artificium. Goldschmiedekunst und Naturbetrachtung im 16. Jahrhundert (= Interdependenzen; 7), Wien, Köln 2021. In: ArtHist.net, 17.01.2023. Letzter Zugriff 26.11.2024. <https://arthist.net/reviews/38334>.
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