Nun also Alfred Grenander. In den letzten Jahren erschienen immer wieder monografische Abhandlungen einer Architektengeneration, die sich zwischen die Stühle gesetzt zu haben schien. Einerseits nicht mehr, oder jedenfalls nicht mehr vollständig dem Historismus zuzurechnen, andererseits pflegte sie ein weniger plakatives Moderneverständnis als die meist nur wenig jüngeren Architekten, deren Oeuvre das Neue Bauen prägte. Es reicht jedoch ein Blick in die teilweise Jahrzehnte alte und noch immer gültige Überblicksliteratur von Julius Posener oder Karl Heinz Hüter, um zu sehen, dass viele Protagonisten der einmal so genannten "Halbzeit der Moderne" um 1910 kaum näher bekannt sind als in den 70er und 80er Jahren.[1] Gefühlte Halbzeit also auch in der wissenschaftlichen Disziplin.
Alfred Grenander, der in Schweden gebürtige Berliner Architekt, und sein Büropartner Otto Spalding sind mit dem vorliegenden Band nun ebenfalls gründlich erfasst und in ihren zeithistorischen Kontext eingeordnet worden. Gleichermaßen Tagungsband wie Ergebnis eines Projektseminars (beide TU Berlin), haben Christoph Brachmann und Thomas Steigenberger zuvor weitere Publikationen zu Grenander verfasst oder zu ihnen beigetragen.[2] Der 23 Autorentexte plus Anhänge umfassende "Schwede in Berlin" ist zwischen einen etwa 120 Seiten langen Überblicksartikel der beiden Herausgeber sowie ein Werkverzeichnis der Bauten und Entwürfe Grenanders (T. Steigenberger) eingespannt, die schon für sich eine alleinige Buchpublikation mehr als gerechtfertigt hätten. Bedauerlich und sicherlich den Finanzen des Gesamtprojekts geschuldet ist vor allem, dass das ausführliche Werkverzeichnis sich mit Abbildungen begnügen muss, denen Briefmarken ernsthafte Konkurrenz machen würden.
Einige der enthaltenen Tagungsbeiträge geben Blicke auf entferntere Schauplätze frei, in denen der Name und engere Sinnzusammenhang Grenander nicht mehr ohne Weiteres zu finden ist. So zum Beispiel der lesenswerte Beitrag zur „Handliteratur zur Farbe“ in der Zeit bis etwa 1902 von Franziska Uhlig, der die Krefelder „Farbenschau“ von 1902 und die gemeinsamen Anstrengungen jener Jahre, Wissenschaft, Industrie und Ästhetik, angewandte und freie Kunst zueinander zu führen, herausstellt. Ulrike Webers Beitrag "Farbig reizvoller Klinker" wirkt zu Ende des Kapitels über "Architektur der Hoch- und Untergrundbahn" etwas verloren, wie auch Christian Freigangs als ein eigenes Kapitel angeordneter Beitrag zu Jugendstil und Akademismus in Frankreich. Aber wer wollte letztlich einem Buch ankreiden, das es sich gerade auch dem weiter gefassten, komplexeren historischen und theoretischen Kontext widmet, in dem das Werk des Schweden nunmal steht? Der Untertitel „Der Architekt und Designer Alfred Grenander und die Berliner Architektur (1890-1914)“ deutet auf diese Erweiterung gegenüber einer engen monografischen Behandlung hin, es bleibt allerdings unklar, wie die zeitliche Einschränkung des Bandes zustande kam, zumal das Kolloquium selbst den Kontext der Berliner Architektur zwischen 1890 und 1930 im Titel führte. Das Innenleben des Bandes und vor allem der Werkkatalog behandelt glücklicherweise auch Grenanders letztes, äußerst fruchtbares Lebensjahrzehnt.
Die Beiträge des Bands sind in sieben Kapitel gegliedert, die sich den unterschiedlichen Aspekten des entwerferischen Werks von Grenander widmen und, wie erwähnt, einige vergleichende Ausblicke einschließen. Im ersten Kapitel wird zunächst Grenanders Werk untersucht, beginnend mit seinem faszinierenden Bauensemble des Sommerhauses Tångvallen im südschwedischen Badeort Falsterbo (Steffi Kuthe). Das Buch hätte vielleicht hier oder auch an anderer Stelle einen genaueren Blick auf Carl Larsson werfen können, dessen Werk Grenander wohl kaum bloß – wie dies an zwei Stellen im Band kurz durchscheint – über die verstümmelte Version der Langewieschen „Blauen Bücher“, sondern sicherlich im schwedischen Original gekannt haben wird.[3] Larsson, der von Stefan Muthesius ins Spiel gebrachte Hermann Wehrle (319) und Grenanders 'englische' Werkphase in Falsterbo hätten so durchaus in einen schlüssigen Zusammenhang gesetzt werden können. Die kurze, aber heftige Episode des "englischen Einflusses" war in Deutschland mit dem Erscheinen von Hermann Muthesius' „Das Englische Haus“ im Jahr 1903 aber bereits so gut wie vorüber (Stefan Muthesius, "'Englisch' als Vorbild um 1900", 323), so dass Grenander seine überzeugendsten Lösungen aus dem schwedischen Sommersitz nur noch in einigen Details nach Berlin retten konnte.
Zwei Untersuchungen zur Büropartnerschaft mit seinem Schwager Otto Spalding (Thomas Steigenberger sowie Christiane Salge) geben vertiefte Einblicke in einzelne Bau- und Ausstattungsprojekte des Büros. Spaldings Anteil und Leistung wird damit erstmals für die Architekturgeschichte greifbar, man erhält hier den Eindruck eines begabten und äußerst informierten Anhängers der englischen Arts and Crafts-Bewegung. Seine Spur verliert sich aber nur wenig später in der Architektur-Maschinerie des preußischen Postbauministeriums. Ein anschließender Beitrag Christoph Brachmanns erläutert Grenanders zentralen Beitrag zur Eisenarchitektur des Berliner Nahverkehrs. Die ebenfalls für Grenander wichtige Fabrik-, Geschäftshaus- und Industriearchitektur der Jahre seit etwa 1913 wird hingegen leider nur durch den wiederabgedruckten Nachruf Johannes Boussets repräsentiert.
Kaum mehr bekannt dürfte den meisten deutschen Lesern die enge politische und kulturelle Verbindung des deutschen Kaiserreichs mit den skandinavischen Ländern um 1900 sein. Umso interessanter sind daher die drei Beiträge, die auf das Bauen in Schweden (Lars Olaf Larsson zur Rezeption deutscher Architekturströmungen sowie Henning Repetzky zur Beaux-Arts-Architektur) und Finnland (Teppo Jokinen mit einem quellenreichen Beitrag zur Bedeutung Berlins in der finnischen Baukunst) eingehen. Dass die schwedischen Anregungen jedoch nur kleinere Spuren in Grenanders Architektur hinterlassen haben, täuscht vielleicht darüber hinweg, dass er über eine Gruppe von Kleinarchitekturen durchaus Motive der schwedischen Holzarchitektur in das Berliner Stadtgefüge einweben konnte. Noch vier Exemplare der Kioskbauten Grenanders haben sich in Berlin erhalten, zu deren Gestaltung sich Grenander von skandinavischen, aber auch japanischen Vorbildern anregen ließ. Im Vergleich mit den erst kürzlich in der Villa Stuck in München zu sehenden phantastischen Teehäuser des Architekturhistorikers und Architekten Terunobu Fujimori, die geradezu wie Paraphrasen auf Grenanders "Eulenspiegeleien" (Zitat in Eva Maria Froschauers kenntnisreichen Beitrag zu seinem Werk in der Fachpresse) wirken, kann man jedenfalls kaum umhin, diese "eigenartigen Leistungen" und den schrägen Einfallsreichtum des schwedischen Architekten zu bewundern.[4] Deutlich tritt bei der Betrachtung der Entwürfe bis etwa 1905 zu Tage, wie sehr Grenander in jenen Jahren vor der Gründung des Deutschen Werkbunds auf der Höhe seiner Zeit war: Seine Treppen, Handläufe, Beleuchtungskörper, Vitrinen, die einheitlich entworfenen Interieurs, die Ausstellungseinrichtungen und Pavillons zeigen eine perfekte Balance internationaler Reformansätze und regionaler, handwerklicher Lösungen. Grenanders Eigenart eigenwillig gruppierter, kubisch schwerer und transparent-verglaster Aufsätze und Kragarme sowie der zentrale Einsatz von metallenen Bestandteilen wie Griffe und Geländer zeigen zudem deutliche Nähe zu seinen Arbeiten für die Berliner Hoch- und Untergrundbahn. Eine erst vor wenigen Jahren in den Kunsthandel gelangte Möbelgruppe – Georg Himmelheber berichtet mit einem gewohnt kenntnisreichen Aufsatz über Grenanders Möbel – kann den speziellen Zugang Grenanders und die hohe Qualität seiner Entwürfe verdeutlichen. Besonderer Verdienst kommt dem Band gerade durch diesen Fokus auf die kunstgewerblichen Arbeiten des Berliner Architekten zu, sind doch Möbelentwürfe und Interieurs in den vergangenen Jahrzehnten von der Kunstgeschichtsschreibung größtenteils ausgespart worden.
Schon seit 1906 verlieren seine Entwürfe diese sommerliche Eleganz der Linienführung zu großen Teilen. Die folgenden Arbeiten mit der durchaus zeittypischen Hinwendung zu historischen Stilen aus dem 18. und 19. Jahrhundert zählen weder zu Grenanders Spitzenleistungen, noch zu denen ihrer Zeit. Da diese Entwürfe gerade im Vergleich zur systematischen Stringenz der Möbel Richard Riemerschmids oder Bruno Pauls – zu diesen beiden Protagonisten ein Beitrag von Susanne Graner – auch die Fachpresse nicht zu überzeugen wussten, nahm Grenander seit 1910 nicht mehr an großen Ausstellungen teil. Noch 1905/06 entstand immerhin die Ausstattung des Lesesaals der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums, die in ihrer entwerferischen Reduktion sicherlich zu den überzeugendsten Interieurs ihrer Zeit zählt – einige Bücherschränke und Möbel haben sich glücklicherweise in der heutigen Kunstbibliothek in Berlin erhalten. Vielleicht hätte man sich angesichts dieser unterschiedlichen Leistungen zuweilen mehr Aussagen zur Qualität der Arbeiten Grenanders gewünscht. Die "äußerst monumental wirkenden" Möbel (Sven Kuhrau in seinem erkenntnisreichen Artikel über den Sammler und Auftraggeber Grenanders, Johannes Guthmann, 416) hätte man durchaus als das bezeichnen können, was sie nunmal sind: schwerfällig und ideenlos. Nur zehn Jahre liegen zwischen dem biederen Toilettentisch Grenanders für Neu-Cladow und dem Marcel Breuers im Weimarer Haus am Horn anlässlich der Bauhaus-Ausstellung 1923. Man muss nicht sogleich in eine "oft genug in Fortschrittskategorien denkende Kunstgeschichte" (ebd., 403) zurückfallen, um den schockierenden Wandel zur Kenntnis zu nehmen, den die Betrachter in Weimar zu verdauen hatten. Es ist genau diese Radikalisierung der Entwicklung eines Teils des deutschen Kunstgewerbes, den man auch in Frankreich nicht nachvollziehen konnte, als 1930 der Deutsche Werkbund unter der Leitung von Walter Gropius in Paris ausstellte. Dort hatte man deutsche Möbel zuletzt in Brüssel und Paris im Jahr 1910 (darunter auch die von Grenander) "einfallen" sehen – und hatte sie als "lourd" und "disgracieux" in Erinnerung behalten.[5]
Weitere Untersuchungen widmen sich den Villen und Landhausbauten Alfred Messels (Robert Habel) und Albert Gessners (Claudia Kromrei), für den Bereich der Verkehrsbauten behandelt Reto Brunner den vergessenen Architekten Sepp Kaiser, wie Grenander und Gessner Mitglied im "Werkring" und Schöpfer des faszinierenden, nahezu schmucklosen Kreuzungsbahnhofs Gleisdreieck. Jörg Schilling setzt Grenander mit dem zeitgleich für die Hamburger Ringbahn, aber auch in Berlin tätigen Emil Schaudt in Relation, Ralf Dorn stellt mit Bruno Möhring einen der zentralen Architekten seiner Zeit und wichtigen Gestalter der Weltausstellungen in Paris, Turin und St. Louis zur Diskussion. Robert Dupuis beleuchtet in seinem – leider kaum redigierten – Aufsatz schließlich den heute ebenfalls kaum noch bekannten Architekt, Bildhauer und Keramiker John Martens, der eine Zeitlang in Möhrings Büro arbeitete und sich dort mit Bruno Taut anfreundete und den Choriner Kreis mit ins Leben rief.
Die Zusammenstellung des "Schweden in Berlin" ist vielleicht nicht an jeder Stelle gleich tief in der Durcharbeitung, manche Bereiche mögen, wie kurz erwähnt, sogar fehlen oder eben an anderer Stelle nachzulesen sein, dennoch ist der Versuch der Einbettung dieses "anderen" modernen Architekten ein überaus gelungener und anregender Beitrag zur Berliner, vor allem aber auch zur europäischen Kultur um 1910. Nach der Lektüre sind wir in jedem Fall ein gutes Stück weiter als zuvor. Man hätte diesem Band daher – vielleicht auch angesichts des behandelten "Designers" Grenander – eine aufwändigere Ausstattung gewünscht.
Anmerkungen
[1] 1910 Halbzeit d. Moderne. Van de Velde, Behrens, Hoffmann u. die anderen, Ausstellungskatalog Westfälisches Landesmuseum für Kunst u. Kulturgeschichte Münster, hg. v. Klaus Bußmann u. Klaus-Jürgen Sembach, Stuttgart 1992.
[2] Berlin über und unter der Erde. Alfred Grenander, die U-Bahn und die Kultur der Metropole, Ausstellungskatalog Deutsches Technikmuseum Berlin, hg. v. Aris Fioretos, Berlin 2006. Christoph Brachmann, Licht und Farbe im Berliner Untergrund – U-Bahnhöfe der klassischen Moderne, Berlin 2003. Vgl. auch Martin Möbius, Alfred Grenander, Berlin, Leipzig, Wien 1930, Neuausgabe mit einem Nachwort von Bettina Güldner, Berlin 2000, S. I-XII.
[3] Carl Larsson, Ett Hem. 25 Malninger med Text, Stockholm o. J. [1899]. Ders., Spadarfvet, mitt lilla landtbruk, Stockholm 1906. Oswald Sirén, Carl Larsson und sein Buch über sein Heim, in: Dekorative Kunst, Jg. 4, 1901, Bd. 8, S. 313-323.
[4] Hierzu schon Ernst Schur, Alfred Grenander, in: Moderne Bauformen, Jg. 8, 1909, S. 193-206, hier S. 193 und 194. Terunobu Fujimori. Architekt, Ausstellungskatalog Villa Stuck, München, hg. v. Michael Buhrs u. Hannes Rössler, Ostfildern 2012. Zitat von Max Rapsilber, Alfred Grenander, Berlin 1904 (= Sonderheft der Berliner Architekturwelt), o. S.
[5] Paul Fierens, Le 'Deutscher Werkbund' au Salon des artistes décorateurs, in: Journal des Débats. Politiques et littéraires, 10 juin 1930, S. 4 (auch in: Journal des Débats. Politiques et littéraires, édition hebdomadaire, 37e année, n° 1895, 20. juin 1930, S. 8).
Brachmann, Christoph; Steigenberger, Thomas (Hrsg.): Ein Schwede in Berlin. Der Architekt und Designer Alfred Grenander und die Berliner Architektur (1890 - 1914) : [Tagung unter dem Titel "Ein Schwede in Berlin: der Architekt und Designer Alfred Grenander und die Berliner Architektur (1890 - 1930)" am 10. und 11. Februar 2007 am Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin], Korb: Didymos-Verlag 2010
ISBN-13: 978-3-939020-81-3, 568 S.
Recommended Citation:
Matthias Noell: [Review of:] Brachmann, Christoph; Steigenberger, Thomas (Hrsg.): Ein Schwede in Berlin. Der Architekt und Designer Alfred Grenander und die Berliner Architektur (1890 - 1914) : [Tagung unter dem Titel "Ein Schwede in Berlin: der Architekt und Designer Alfred Grenander und die Berliner Architektur (1890 - 1930)" am 10. und 11. Februar 2007 am Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin], Korb 2010. In: ArtHist.net, Sep 12, 2012 (accessed Nov 2, 2024), <https://arthist.net/reviews/3800>.
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