Der britische Bildhauer Reg Butler (1913-1981) war einer der ganz Großen seiner Zeit. Bis er sich in den Sechzigerjahren vom Ausstellungsbetrieb zurückzog und seine Arbeit eine - scheinbar - absolute Wende vollzog. Danach war er zwar nicht ganz vergessen, aber nicht mehr vielen präsent.
Besonders zwei Arbeiten Butlers haben sich im kunsthistorischen Gedächtnis eingeprägt. Zwei Arbeiten, die die Pole eines von Wandlungsfähigkeit gekennzeichneten Oeuvres markieren, die es zweiteilen in ein abstraktes, noch heute geschätztes „Hauptwerk“ und ein realistisches, weniger beachtetes „Spätwerk“. Butler war bereits 1979 in Bremen zu sehen. Am gleichen Ort in der Ausstellung „Beispiele realistischer Plastik in Europa“. Vertreten war er mit jenen bemalten Bronzen, weiblichen Akten mit wirklichen Augen und echtem Haar, denen das Gerhard-Marcks-Haus heute einen zentralen Platz in seiner kleinen Retrospektive widmet. Bis zu den Siebzigerjahren verband sich mit Butler eine andere berühmte Arbeit: sein siegreicher Denkmalsentwurf im internationalen Wettbewerb „Der unbekannte politische Gefangene“ von 1953. Dieses nie ausgeführte Denkmal sichert dem Bildhauer einen festen Platz in der Geschichte der Bildhauerei.
Doch zwischen den beiden Werkphasen klafft ein stilistischer Bruch. Butler, der in den Fünfzigerjahren in Großbritannien als der Nachfolger von Henry Moore und Barbara Hepworth galt, entwickelte sich nicht wie diese von einer gegenständlich-figurativen hin zu einer abstrakten Formgebung, sondern umgekehrt. In seiner letzten Schaffensphase verortete man ihn im Lager der realistischen Plastik. Heute kann man in ihm sogar einen Wegbereiter der hyperrealistischen Bildhauerei sehen, wie sie vom Briten Ron Mueck (geb. 1958) vertreten wird. Dem Kurator der Ausstellung, Arie Hartog, ist es gelungen, Butlers Ouevre trotz der offenbaren Gegensätzlichkeit als Einheit verständlich zu machen. Und als Ergebnis einer Kunstauffassung, die nicht reduziert werden kann auf die Polarität von Abstrakt - Gegenständlich.
Butler hatte die Ausbildung eines Architekten und erlernte das Schmiedehandwerk, ehe er zur Bildhauerei wechselte. Er erkundete die damals neue Eisenplastik und setzte in ihr die Montage als Arbeitsprinzip ein. Gleichzeitig zur abstrakten Formensprache verlor er die figürliche Kunst nicht aus dem Blick. Denn schon bald war er der Auffassung, rein abstrakte Formen könnten nicht die eigentlichen Themen des modernen Menschen symbolisieren: Angst, Sexualität, Verletzlichkeit. Sie führte er als Thema neu in die traditionelle figürliche Bildhauerkunst ein. Seine in architekturhaften Liniengerüsten eingespannten Figuren, die in den Fünfzigerjahren für Furore sorgten und dem Künstler Preise und internationale Anerkennung eintrugen, wurden als Ausdruck existenzieller Probleme des Menschen gelesen.
Die Ausstellung gliedert sich in fünf Räume, die alle Schaffensphasen von 1950 bis 1981 mit exemplarischen Arbeiten präsentieren. Der schwer ins Deutsche zu übertragende Titel der Schau „decent sculpture“ („anständige Bildhauerei“) setzt implizit einen Schwerpunkt auf die letzte Werkphase und den drastischen Blick auf den nackten jungen weiblichen Körper. Eine Arbeit dieser Phase, die „Sich Vorbeugende“ (1968-1971), mit der die Ausstellung auch beworben wird, unterstreicht diese Akzentsetzung. Mit dieser und anderen, im Verborgenen geschaffenen, Bronzen überschritt Butler die Grenze der üblichen Aktdarstellung und eroberte für die Plastik Neuland. Diese in Fleischfarbe gefassten Bronzen wollten „bildhauerischer als die Realität“ sein; keine Aktfiguren im klassischen Sinne. Sie stellen nackte Frauen dar, deren Körper Sexualität, Sünde und Verletzlichkeit symbolisieren, ohne pornographisch zu sein. Der Hyperrealismus geht nicht soweit wie der seines amerikanischen Kollegen John de Andrea (geb. 1941), der in seiner etwa zur gleichen Zeit geschaffenen Plastik eines Liebespaares (1972) selbst Schamhaar mit Echthaar illusionierte.
Betrachtet man Butlers Aktfiguren im Abstand von bald vierzig Jahren, könnte man meinen, in der wirklichkeitsgetreuen Abbildung des erotisch aufgeladenen Frauenkörpers scheine eine exaltierter Realismus auf, der mit Künstlern wie Stanley Spencer (1891-1959) und Lucien Freud (geb. 1922) in einer britischen Tradition steht. Die „Sich Vorbeugende“ ist Spencers Doppelakt von 1938 mit seiner extremen Offenheit und besessenen Intimität und Freuds Darstellungen des nackten Menschen als „animalischen Wesen“ sicher im Geiste verwandt. Alle drei Künstler spielen mit dem Gefühl des Betrachters, von ungeschönter Nacktheit „abgestoßen“ zu sein. Butler sprach diese Dimension an: „Meine Mädchen mit ihren gespreizten Beinen mögen sicherlich einige von Ihnen abstoßen. (...) Ich kann nur sagen, sie sind nicht mit der Absicht gemacht, abzustoßen.“
Wie sehr die Rezeption eines Werkes den Zeitläuften unterliegt, macht ein Vergleich des sehr lesenswerten Katalogs mit dem Ausstellungskatalog von 1979 deutlich. Damals schrieb man, Butlers Entscheidung, sich von seiner „neoprimitiven“, abstrakten Phase zu den Wurzeln der figürlichen Tradition hinzuwenden, wäre nicht der Kunst allein geschuldet gewesen, sondern auch der Frage, ob es nach dem Kontergan-Skandal noch möglich sei, „weiterhin verstümmelte Figuren zu machen, gleichgültig wie triftig das aus künstlerischen Gründen sein mochte“. Dieser Aspekt scheint heute für das Verständnis nicht mehr bedeutsam. Er findet in den beiden Essays des aktuellen Katalogs keine Beachtung mehr.
Gleichzeitig mit "Reg Butler -- decent sculpture" erscheint in England das Werkverzeichnis dieses Bildhauers. Die Ausstellung wird anschließend im Museum Beelden aan Zee in Scheveningen gezeigt.
Butler, Reg; Fitschen, Jürgen (Hrsg.): Reg Butler. Decent sculpture ; [Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Gerhard-Marcks-Haus, Bremen vom 26. November 2006 bis 18. Februar 2007, ... publicatie bij de gelijknamige tentoonstelling in Museum Beelden aan Zee, Scheveningen 16 maart t/m 17 juni 2007], Bremen: Selbstverlag 2006
ISBN-13: 978-3-924412-57-9, 64 S.
Empfohlene Zitation:
Artinger Kai: [Rezension zu:] Reg Butler - decent sculpture (Gerhard-Marcks-Haus Bremen, 26.11.2006–28.02.2007). In: ArtHist.net, 15.01.2007. Letzter Zugriff 30.12.2024. <https://arthist.net/reviews/379>.
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