„One for the money, two for the show“– so könnte frei nach einem Elvis-Songtext die Ausstellungspolitik der Schirn-Kunsthalle umschrieben werden: Nützt die eine populäre Ausstellung der finanziellen Konsolidierung das Hauses, dient die nächste als Ausweis der notwendigen Diskurshöhe. So stand in den letzten Monaten der neue „Citroën C4 Picasso“ vor dem Haupteingang zur Ausstellung „Picasso und das Theater“ und trieb die Besucherzahlen in die Höhe. Daran vorbei, über eine zugige Außentreppe, gelangte man in die Ausstellung „Anonym – In the Future No One Will Be Famous” und wurde mit einer gehörigen Portion Selbstreflexion des Kunstbetriebs konfrontiert. Diese visuelle Inszenierung im Außenraum brachte Chance und Dilemma der Ausstellung „Anonym“ auf den Punkt: Sie formuliert Systemkritik an Künstlerkult und Autorschaftsfixierung aus dem Inneren des Systems heraus und befindet sich so auf der Gratwanderung zwischen aufklärerischem Impetus mit großer Reichweite auf der einen Seite und einer vor allem der Image-Pflege dienenden Selbstreflexion auf der anderen.
Auch nach dem Ende der Laufzeit ist die Ausstellung „Anonym“ noch nicht vorbei. Denn sie beginnt nicht erst im Ausstellungsraum, sondern bereits in den Köpfen der potentiellen Besucherinnen und Besucher, sobald sie etwas über das Konzept der Ausstellung erfahren – und dort bleibt sie auch. In der Presseerklärung etwa ist zu lesen, dass unter dem Titel „Anonym – In the Future No One Will Be Famous” elf ungenannte Künstlerinnen und Künstler unter der Ägide eines ungenannten Kurators bzw. einer Kuratorin ihre Werke präsentieren. Diese Rahmenvorgabe einer expliziten Anonymität der Protagonisten lädt zu Gedankenexperimenten über die Funktionsweisen des Kunstsystems ein und lässt den konzeptuellen Ansatz des Ausstellungsprojekts erfahrbar werden. Es handelt sich um den Angriff auf so fundamentale Kategorien wie die Oeuvre-Konstruktion der Kunstgeschichte mit ihrer Fixierung auf den individuellen Werkschöpfer oder die Ökonomisierung der Ausstellungspraxis, in der Künstlernamen zunehmend die Rolle von Brands in der Werbung einnehmen. Erinnert man sich an Gespräche von beliebigen Galerie-Vernissagen, wo extensives Name-Dropping die Betrachtung der ausgestellten Werke bei weitem übersteigt, dann weiß man auch aus der Alltagserfahrung, wogegen sich die Ausstellung richtet und zugleich, wofür sie sich einsetzt. Sie will Kritik und Aufmerksamkeit auf die autorfixierten Praktiken des Kunstmarktes lenken und ist dabei vor allem eines: ein Plädoyer für das Werk.
Gerade weil diese Kritik und Forderung in der Theorie nicht neu ist, fasziniert uns der Versuch ihrer praktischen Umsetzung. Man denkt an Roland Barthes’ Wunsch, den Text selber sprechen zu lassen anstatt seine Energien auf die Ergründung der Autorfigur zu verschwenden und an seine Aufwertung des Lesers als entscheidender Instanz des Rezeptionsprozesses. [1] Auch an Michel Foucaults Analysen des Autornamens als einer Funktion der Figur des Autors [2] oder an Niklas Luhmanns Umschreibung des Künstlers als „Strukturfunktion“ [3], die vor allem der Bündelung von Erwartungen und somit der Reduktion von Komplexität in der Kommunikation diene, nicht mehr und nicht weniger.
Diese gesammelte Autorschaftskritik erscheint also vor dem geistigen Horizont geschulter Rezipientinnen und Rezipienten und lässt die Vermutung aufkommen, ob nicht gar die gesamte Ausstellung ein einziges konzeptuelles Werk ist. Doch diese Idee zerstreut sich zusammen mit der zweiten Phase der Ausstellungsrezeption, der Erfahrung vor Ort im Museum.
Hier sieht man sich nämlich realen Objekten gegenüber. Im Schummerlicht der labyrinthischen Ausstellungsarchitektur setzen einzelne Spots die Werke in Szene, doch vergeblich sucht der Blick der Besucher nach den obligatorischen Museumsschildchen. Die gesamte an Schatzkammern erinnernde Ausstellungsinszenierung mit ihren Vorhängen und Wegen vom Dunkel ins Licht der Schirn-Rotunde spricht dabei die Sprache der Verheißung. Doch zugleich lässt sie die Suche der Betrachter ins Leere laufen: Sind die schon leicht eingestaubten schwarzen CD-Hüllen aus Pappe wirklich Kunst und vielleicht eine ironische Hommage an Malewitsch? Und kennt man die in den Raum geblasenen Seifenblasen nicht von einer berühmten Schweizer Videokünstlerin? Gehören die Löcher in der schwarzen Folie, mit der die Fenster abgeklebt sind, zu dem darunter platzierten Video, in dem Kondensationsstreifen von Flugzeugen am Himmel als geheimnisvolle „mystery lines“ interpretiert und mit verschwörungstheoretischen Spekulationen unterlegt werden? Die Haltung, in die die Besucher der Ausstellung versetzt werden, lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: Man wittert Werke. Und allein für diese Erfahrung der Verunsicherung im Halbdunkel der Ausstellungsräume lohnt sich auch der Ausstellungsbesuch. Schließlich verdächtigt man gar die Museumswärter, die uns, um ein Stolpern im Dunkeln besorgt, zügig am ersten Kunstwerk vorbeischicken, Teil einer Tino Seghal-Performance zu sein. Oder ist es doch die im Schutze des Dämmerlichts anonym belauschte Kunstvermittlerin, die eine Performance ausführt, wenn sie über die schlechte Informationspolitik von höherer Ebene klagt, so dass noch nicht einmal sie selbst wisse, welche Objekte zusammengehören und gemeinsam ein Werk bilden?
Dass die Zuschreibung von Autorschaft der Reduktion von Komplexität dient und somit eine sinnvolle Funktion erfüllt, wird angesichts des Entzugs der Künstlernamen erfahrbar. Ob die ungewohnte Situation allerdings eine intensive Auseinandersetzung mit den Werken selbst befördert oder sich in einem detektivischen Rätselraten erschöpft, sei dahingestellt. Dass es sich jedenfalls um keine rein konzeptuelle Show handelt, wird durch zwei Charakteristika der Ausstellung unterstrichen. Zum einen dadurch, dass die ausgestellten Werke selbst auf sehr unterschiedliche Weise das Thema der Anonymität aufgreifen. Vom „Anonymen Mix“ der rein schwarzen CD-Hüllen über einen mit anonymisierten Namenskürzeln arbeitenden, vermutlich fiktiven Artikel in der Zeitschrift Penthouse, bis zu den Fotografien fehlender Pflanzen oder den als Wandschrift manifestartig präsentierten „Übungen in Anonymität“, bietet sich ein äußerst weites Spektrum. Dabei überlagert die Erfahrung des Namensentzugs die Wahrnehmung der Werke derart stark, dass dies die eigentlich Übung in Anonymität darzustellen scheint und der thematische Fokus als eine zusätzliche Ausstellung in der Ausstellung wahrgenommen wird.
Zum anderen – und das ist nun wirklich ein Bruch innerhalb des Konzepts – wird den Besuchern beim Kauf der Eintrittskarte ein kleines Begleitheft ausgehändigt. Hierin sind Titel, Entstehungsjahr und Technik der Werke in einem Grundrissplan der Ausstellung verzeichnet, lediglich der Name des Künstlers oder der Künstlerin fehlt. Dadurch wird das Identifizieren der Werke gegenüber den Nicht-Werken – etwa Teilen der Ausstellungsarchitektur, Feuerlöschern, anderen Besuchern oder Museumspersonal – erleichtert, aber auch nicht eindeutig klärbar. Denn während der Laufzeit der Ausstellung hat sich ihr Erscheinungsbild auch insofern verändert, als einige Werke neu hinzugekommen sind bzw. umgruppiert wurden, so dass eine Fortsetzung des Rätselratens möglich ist.
Verlassen wir nun den Mikrokosmos des Museums und erwerben im Hinausgehen den Katalog zur Ausstellung, beginnt eine dritte Phase der Ausstellungsrezeption. In hübschem hellblauen Leineneinband mit Lesebändchen wirkt er wie ein Künstlerbuch. Zunächst fällt der allzu verspielte Umgang mit der Anonymitätsmetapher auf, wenn etwa der Schriftzug „Anonym“ auf dem Cover wiederum mit weißem Klebeband überklebt und so anonymisiert wird. Auch im Inneren wird diese graphische Metapher strapaziert, wenn etwa in einem Interview Hans-Ulrich Obrists mit dem/der anonymen Kurator/in über die Genealogie solcher Ausstellungen gesprochen wird, zugleich aber alle erwähnten Namen von Vorläufern durch schwarze Balken unkenntlich gemacht werden. Ein fundierter Textbeitrag von Stefan Heidenreich liefert das Foucaultsche Gedankengut zum Autornamen sowie einen Abriss der Geschichte des Künstlers und Künstlernamens in der Kunstgeschichte. Viele andere Beiträge, beispielsweise von April Elisabeth Lamm oder Eckhart Nickel, sind in surreal-kafkaeskem Stil gehalten und schildern den Kunstbetrieb als eine Art mafiösen Verein, der nun von einer avantgardistischen Gruppe der Anonymen aufgemischt werde. Der verschwörungstheoretische Grundton zieht sich durch und macht den Katalog zu einem „halbliterarische[n] Gefährte[n]“ (55) der Ausstellung, wie es Dominic Eichler in seinem Katalogbeitrag nennt.
Doch dieser Buchgefährte besitzt ein großes Manko: Warum bleiben zwar die Künstler der Ausstellung, nicht aber die Katalogautorinnen und -autoren anonym? Es ist sehr sonderbar, dass der/die Kurator/in zwischen den Künstlern der Ausstellung und den Autoren der Katalogtexte derartige Unterschiede macht, hatte sich doch die Kritik der literaturwissenschaftlichen Autorschaftsdebatte gerade an den Autorennamen der schreibenden Zunft entzündet. Warum verzichtet Max Hollein in seinem Vorwort zur Ausstellung nicht darauf zu betonen, dass es sich um „bedeutende“ und „internationale“ Künstlerinnen und Künstler handelt?
Durch den Verzicht auf diese Autorisierungsgeste des Direktors hätte man in der Schirn Kunsthalle punkten können. So allerdings bleibt der Verdacht bestehen, dass es hier um die „Show“ geht: Die Erklärung, dass es sich um erfolgreiche und wichtige Künstlerinnen und Künstler handelt, scheint das selbstreflexive kuratorische Experiment zur Anonymität legitimieren zu müssen. Aber möglicherweise geht es gar nicht anders: Der Versuch, innerhalb des Kunstsystems die Werke „zu sich“ kommen zu lassen, ist vielleicht per se ein permanentes Vor und Zurück, das uns allerdings die Erfahrung der eigenen Verstrickung ins Kunstsystem mit seiner Autorenfixierung ermöglicht.
Katalog: Anonym und Max Hollein (Hg.): “Anonym – In the Future No One Will Be Famous”, Köln: Snoeck 2006, 160 S., ISBN 3-936859-51-5, 19,90 ¤ (Buchhandel 29,80 ¤, deutsch und englisch).
Anmerkungen:
[1] Barthes, Roland: Der Tod des Autors. (La mort de l’auteur, 1968) In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone. Stuttgart 2000, S. 185-193.
[2] Foucault, Michel: Was ist ein Autor? (Qu’est-ce qu’un auteur?, 1969) In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone. Stuttgart 2000, S. 198-229, hier bes. 208-211.
[3] Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1996, S. 87f.
Hollein, Max (Hrsg.): Anonym. In the future no one will be famous ; [anlässlich der Ausstellung Anonym - In the Future No One Will Be Famous, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 31. Oktober - 14. Januar 2007], Köln: Snoeck 2006
ISBN-10: 3-936859-51-5, 58, 59 S., [20] Bl, EUR 29.80
Empfohlene Zitation:
Kampmann Sabine: [Rezension zu:] Anonym – In the Future No One Will Be Famous (Schirn Kunsthalle Frankfurt, 31.10.2006–14.01.2007). In: ArtHist.net, 24.01.2007. Letzter Zugriff 05.02.2025. <https://arthist.net/reviews/378>.
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