REV-EX 04.06.2007

Based on Paper. Die Sammlung Marzona – Revolution der Kunst 1960-1975

Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, 22.03.–15.07.2007

Rezensiert von Klein Dorothea, Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas
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Künstlerische Erfindungskraft ist seit dem 16. Jahrhundert eng mit dem Begriff des Disegno verknüpft, der als Ausdruck geistigen Schöpfungsreichtums zur unabdingbaren Grundlage aller Kunstgattungen erhoben wurde. Von dieser Idee einer genialischen, sich zuerst in der Zeichnung manifestierenden Handschrift distanzierten sich Künstler der 1960er und 1970er mit Vehemenz. Gleichzeitig erlangte jedoch gerade die künstlerische Arbeit auf Papier in diesen Jahren einen enormen Stellenwert innerhalb der westlichen Kunstproduktion. Dieser Form künstlerischen Ausdrucks widmet sich eine ausgezeichnete Ausstellung, die bis zum 15. Juli 2007 im Berliner Kulturforum am Potsdamer Platz unter dem Titel Based on Paper. Die Sammlung Marzona – Revolution der Kunst 1960–1975 zu sehen ist.

Wie der Ausstellungstitel besagt, entstammen die ausgestellten Arbeiten der Sammlung Egidio Marzonas, die sich seit 2002 im Besitz der Staatlichen Museen zu Berlin befindet. Den quantitativ größten Teil dieser Sammlung, die sich über verschiedene Häuser der Institution verteilt, bilden nicht Skulpturen oder Gemälde, sondern Arbeiten auf Papier, die zum größten Teil zwischen 1960 und 1980 entstanden. Mit der Ausstellung wird erstmals dieser grundlegende Bestandteil der Sammlung vorgestellt – ergänzt um Editionen, Künstlerbücher,
-plakate und -einladungskarten aus der Kunstbibliothek sowie Fotografien, Collagen und Videoarbeiten aus dem Hamburger Bahnhof. Entsprechend dem Schwerpunkt der Sammlung Marzona konzentriert sich die Ausstellung auf Arbeiten aus dem Umkreis von Minimal Art, Konzeptkunst, Arte Povera, Narrative Art, Performance Art und Land Art.

Für die Präsentation der rund 300 Werke wurden den Kuratoren der Ausstellung, Andreas Schalhorn und Michael Lailach, drei große Räume zur Verfügung gestellt, die unter verschiedenen Themen eine Auswahl von Künstlern und Arbeiten versammeln. Die inhaltliche Ausrichtung des Ausstellungskonzeptes will dabei eine Systematisierung der Arbeiten nach „Ismen“ vermeiden und zielt stattdessen darauf ab, „Werke, die in struktureller und geistiger Verwandtschaft zwischen 1960 und 1975 innerhalb einer heterogenen westlichen Kunstlandschaft entstanden, dialogisch oder kontrastierend zusammenzubringen“ (Katalog S. 24f.), wobei chronologische Überlagerungen und Gleichzeitigkeiten durchaus erwünscht sind.

Den Auftakt bildet ein mit „Skulptur“ betitelter Raum, der das vielschichtige Wechsel- und Spannungsverhältnis von Zeichnung und Skulptur seit 1960 aufzeigt. Dabei bestimmen geometrische Formen und Kompositionen, die auf Quadrat, Kreis oder Kubus basieren und Grundmodule der minimalistisch geprägten Kunst der 1960er Jahre darstellen, die Arbeiten des Raumes. Neben Entwurfs- und Konstruktionszeichnungen, die als Vorlage für ausgeführte oder nicht ausgeführte Skulpturen dienten, finden sich hier Arbeiten, die die Grenzen der Gattungsbegriffe aufweichen und verschleifen wollen. So kann beispielsweise der blau leuchtende Kubus Stephen Antonakos als dreidimensionale Zeichnung verstanden werden, deren Umrisslinien Neonröhren definieren. Deutlich wird diese Verschleifung auch in den zwischen 1973 und 1977 entstandenen Cut Drawings des Künstlers Gordon Matta-Clark, in denen er die spezifische Technik der Raumschnitte, die er in den 1960er Jahren an zahlreichen, oftmals kurz vor dem Abriss befindlichen Architekturen praktizierte, auf Papier übertrug. Ähnlich wie in den gebauten Strukturen bohren sich hier auf geometrischen Formen basierende Einschnitte durch dicke Papierstapel und brechen die Fläche auf, so dass der dreidimensionale, skulpturale Charakter der Arbeiten in den Vordergrund rückt.

Mit Werken von Giovanni Anselmo, Robert Barry, Hanne Darboven, Joseph Kosuth, Lawrence Weiner, Bruce Nauman, Ed Ruscha oder Vito Acconci widmet sich der zweite Raum der Ausstellung unter dem Titel „Zeichen“ dem Einsatz von Schrift in der Kunst. Die akribische, dokumentarische Schreib- und Rechenarbeit Hanne Darbovens steht dabei neben den herausfordernden Statements von Lawrence Weiner, die in der Formulierung einer oft mehrdeutigen Handlungsanweisung die Ausführung oder Nichtausführung des Werkes dem Rezipienten übertragen oder neben ironisch anmutenden Arbeiten, wie der Einladung Robert Barrys zu seiner Ausstellung in der Amsterdamer Galerie art&projekt, die von dem Künstler – neben Angabe von Ort, Ausstellungsdauer und täglichen Öffnungszeiten – angekündigt wird mit: „during the exhibition the gallery will be closed“.

Der dritte Raum der Ausstellung zeigt Werke auf Papier, die sich auf den „Außenraum“ beziehen. Die erste Assoziation, die dieses Thema hervorruft, sind Arbeiten von Land Art-Künstlern, wie Richard Long, Hamish Fulton oder Robert Smithson, die sich mit Wanderungen, ortsspezifischen Skulpturen mit vorgefundenen, natürlichen Materialien oder Eingriffen in die offene Landschaft demonstrativ von dem geschlossenen Raum der Galerie und des Museums abzuwenden suchten. Die zeichnerischen, textlichen, fotografischen oder filmischen Dokumentationen dieser Aktionen fanden dennoch den Weg zurück in den Kunstbetrieb, von denen hier eine Auswahl präsentiert wird. Neben Arbeiten aus dem Umkreis der Land Art überraschen Werke, wie die flüchtigen und ungelenken Zeichnungen der Serie This way Brouwn, die im Zentrum von Amsterdam und keineswegs von der Hand des Künstlers entstanden. Stattdessen wurden sie von zufälligen Passanten aufgezeichnet mit der Absicht, dem Künstler Stanley Brouwn eine erfragte Wegbeschreibung zu visualisieren.

Die Ausstellung bietet weder eine chronologische Abfolge noch „eyecatcher“ für einen geleiteten Rundgang an. Stattdessen breiten sich die zumeist filigranen Arbeiten subtil, zurückhaltend und nüchtern an Wänden, in Vitrinen und auf dem Boden vor den Augen des Besuchers aus. Tritt man den Arbeiten näher, entfalten sie sich zu einem herausfordernden Universum künstlerischer Überlegungen, Theorien und Darstellungen, welches es zu durchdringen gilt und welches das Sehen und Denken des Rezipienten in hohem Maße beansprucht. Die in den 1960er und 1970er Jahren von Seiten der Künstler proklamierte Ablehnung der Zeichnung als Ausdruck individueller Schöpfungskraft, erscheint angesichts der hier gezeigten Arbeiten als fragwürdig. Denn in den einerseits präzisen, differenzierten und detaillierten Konstruktions- oder Dokumentationszeichnungen, den andererseits schemenhaft-fantasievollen Skizzen und Entwürfen tritt gerade die produktive Kraft der künstlerischen Idee zu Tage und findet in den Arbeiten auf Papier ihre selbstbewusste, eigenständige und unabhängige Form – dies verdeutlicht die Ausstellung in einzigartiger Weise.

Zur Ausstellung erschien ein zweisprachiger Katalog (dt./engl.): Based on Paper. Die Sammlung Marzona – Revolution der Kunst 1960–1975, mit Beiträgen von Michael Lailach und Andreas Schalhorn: Köln Verlag der Buchhandlung Walther König 2007, 184 S. ISBN 3-86560-227-4 EUR 36,00

Lailach, Michael; Schalhorn, Andreas; Marzona, Egidio (Hrsg.): Based on paper. Die Sammlung Marzona ; Revolution der Kunst 1960 - 1975 ; [erscheint anlässlich der Ausstellung "Based on Paper. Die Sammlung Marzona - The Marzona Collection. Revolution der Kunst - Revolution in Art 1960 - 1975", Sonderausstellungshallen und Kupferstichkabinett, Kulturforum Potsdamer Platz, Berlin, 22. März - 15. Juli 2007], Köln: Verlag Walther König 2007
ISBN-10: 3-86560-227-4, 183 S., EUR 36.00, sfr 57.00

Empfohlene Zitation:
Klein Dorothea: [Rezension zu:] Based on Paper. Die Sammlung Marzona – Revolution der Kunst 1960-1975 (Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, 22.03.–15.07.2007). In: ArtHist.net, 04.06.2007. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/377>.

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