Die Bedeutung der Abegg-Stiftung im schweizerischen Riggisberg kann man schwer überschätzen. Kunstgeschichte wird hier in einer Weise praktiziert, die sowohl die konkrete Beschaffenheit einzelner Objekte wahrnimmt als auch deren Einbindung in große kunst- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge. Und fraglos sind die textilen Künste, die im Zentrum der wissenschaftlichen Tätigkeit der Abegg-Stiftung stehen, ideal geeignet, um Phänomene des Kulturtransfers überhaupt als solche zu erkennen. Wer über die Geschichte der „Weltkunst“ redet, sollte zuerst an Textilkunst denken.
Die Basis der von der Abegg-Stiftung geleisteten Arbeit ist eine reiche Kunstsammlung, die im Kern aus hochrangigen textilen Werken besteht. Die beiden vorliegenden Kataloge erschließen wesentliche Teile dieses seit vielen Jahrzehnten zusammengetragenen Bestandes. Wie immer ist die Gestaltung der von der Abegg-Stiftung herausgegebenen Bände makellos. Die Qualität der Abbildungen ist bestechend, die Musterzeichnungen, Schnitte etc. sind perfekt. Dasselbe gilt für die Erschließung durch Register.
Werner Abegg, der die Sammlung begründete, führte die Tradition der Kunstgewerbemuseen des 19. Jahrhunderts weiter, die ihre Textilsammlungen vor allem als Vorlagen für Gewebe verstanden und daher nur wenig Interesse z. B. an Perl- oder Reliefstickereien hatten (Wetter, S. 10). Diese teuren und komplexen Arbeiten ließen sich kaum als Vorlagen nutzen, und außerdem standen sie nur selten zum Verkauf. Statt dessen ging es um Gewebe sowie um Flachstickereien, bei denen vor allem die Bildstickereien besonders geschätzt wurden. Entsprechende Objekte waren im 19. Jahrhundert in großer Menge auf den Kunstmarkt gekommen und finden sich nun auch in Riggisberg. So stammen einzelne Stücke z. B. aus der Sammlung des berühmten Aachener Kanonikers Franz Bock, der damals eine herausragende Rolle spielte.
Die Stickereien bis um 1500 sowie die figürlich gewebten Borten der Sammlung Abegg stellt Evelin Wetter in einem exzellenten Katalog vor. Insgesamt handelt es sich um 66 Katalognummern. In einem einleitenden Kapitel gibt Evelin Wetter einen Überblick zu Geschichte und Struktur der Sammlung (S. 9–11), um sich danach wichtigen inhaltlichen Aspekten zuzuwenden. Damit wird von vornherein der umfassende Anspruch des Katalogs deutlich, der sich keineswegs auf technische Aspekte beschränkt. Logischerweise steht am Beginn das Problem der „Bildlichkeit liturgischer Textilien“. Da schriftliche Quellen weitestgehend fehlen und auch die bisherige Forschung dieses Thema eher stiefmütterlich behandelte, wählt Wetter einen exemplarischen Zugang. Sie zeigt die um 1520 gemalte Darstellung des Todes des Evangelisten Johannes vom Johannesaltar der Jakobskirche in Leutschau (Levoča/Lőcse), um die reiche Textilausstattung eines spätmittelalterlichen Altars vor Augen zu führen. Wetter hat mit diesem sehr detailrealistischen Bild einen Bezugsrahmen gefunden, in den sie zwanglos die im Katalog behandelten Objekte einordnen kann. In diesem Zusammenhang zitiert sie die klassischen allegorischen Interpretationen der Paramente, schließt aber von vornherein jede Überinterpretation aus, wenn sie auf Wilhelm Durandus verweist, der „zwischen der ikonischen Qualität der Bilder und einer vor allem selbstbezüglichen Daseinsform der ornamenta“ unterscheidet (S. 14). Es ist die Sammlung selbst, die es erforderlich macht, derartig grundlegende Ausführungen zu bieten – denn: „An dieser Stelle auf die Struktur der Sammlung der Abegg-Stiftung zurückkommend, kann festgehalten werden, daß annähernd sämtliche Typen von Paramenten vertreten sind oder aber Besätze, die auf diesen montiert waren.“ (S. 13)
In den anschließenden Passagen werden daher weitere Darlegungen zu den wichtigsten Paramenten geboten, ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Kasel und dem Kaselkreuz, die in der Abegg-Sammlung in typischen Stücken vertreten sind. Nur eine kleine Anmerkung sei gemacht: Wenn die Verfasserin zur Realpräsenz von Leib und Blut Christi in der Messe schreibt, es handle sich hier um die vorreformatorische bzw. die katholische Auffassung (S. 15). So trifft diese Aussage zwar die reformierte Theologie, die ja in der Schweiz vorherrscht, aber keineswegs die lutherische, denn Luther lehnte zwar die Transsubstantiationslehre ab, hielt aber an der Realpräsenz fest und ließ es deshalb sogar zur Trennung von der schweizerischen Reformation kommen. Gleichzeitig erklärt diese Kontinuität des Luthertums in Bezug auf die katholische Eucharistielehre, weshalb in vielen lutherischen Kirchen die alten Paramente problemlos beibehalten wurden (vgl. S. 20). Das Thema der „mittelalterlichen Paramente im konfessionellen Zeitalter“ wird auf den folgenden Seiten angesprochen (S. 19–22), wobei die in lutherischen Kirchen erhaltenen Paramente besonders berücksichtigt werden. Erfreulich weit wird hier der Bogen gespannt, denn die Verfasserin bezieht sich nicht nur auf die in der Zwischenzeit – nicht zuletzt dank der Abegg-Stiftung – gut aufgearbeiteten Bestände von Brandenburg oder Stralsund, sondern auch auf die wichtigen siebenbürgischen Paramente, an deren Erforschung die Abegg-Stiftung ebenfalls maßgeblich beteiligt ist. (In der Zwischenzeit hat Evelin Wetter einen zweibändigen Katalog der Gewänder der Schwarzen Kirche zu Kronstadt vorgelegt.) Auf diesen Seiten zeigt sich eine streng „historistische“ Vorgehensweise, wie sie für das wissenschaftliche Verständnis der Abegg-Stiftung charakteristisch geworden ist. Es soll nämlich, soweit das überhaupt möglich ist, immer die gesamte Geschichte der jeweiligen Objekte in den Blick genommen werden, einschließlich aller Umarbeitungen und Veränderungen bis in die unmittelbare Gegenwart (vgl. S. 24).
Der Katalogteil beginnt mit grundsätzlichen Ausführungen zu Fragen der Stickerei (S. 27–40). Er ist in vier unterschiedlich große Kapitel gegliedert, die jeweils bestimmten Werkgruppen gewidmet sind, deren Charakteristika am Beginn jedes Abschnitts vorgestellt werden. Die Nummern 1 bis 36 sind Stickereien verschiedener Art. Nummer 37 ist eine bestickte Brettchenborte, die als einzige Vertreterin ihrer Gattung ein ganzes Kapitel einnimmt. Bei den Nummern 38 bis 47 handelt es sich um die weitverbreiteten Samitborten („Kölner Borten“). Die vierte und letzte Abteilung, die Nummern 48 bis 66, wird von Lampasborten („Florentiner Borten“) gebildet. Unbedingt zu erwähnen ist das Glossar (S. 329–331). Angenehm berührt die sprachliche Gestalt von Wetters Arbeit, vor allem ihre konsequente Verwendung der traditionellen Rechtschreibung, was sich positiv auf die Lesbarkeit von Wörtern wie „Meßgewand“ usw. auswirkt.
Natürlich gibt es bemerkenswerte Spitzenstücke, von denen nur einige genannt werden können: ein Manipel (Kat.Nr. 3), der vielleicht um 1200 entstanden ist; eine Reliquiarhülle (Kat.Nr. 6) mit Darstellungen aus dem Leben des hl. Thomas Becket, die nicht nur zu den wenigen erhaltenen Stücken ihrer Art zählt, sondern die auch noch bestens erhalten ist; ein englisches Pluviale des ausgehenden 13. Jahrhunderts (Kat.Nr. 7), eine Florentiner Kasel des späten 14. Jahrhunderts; die schon genannte Figurenborte (Kat.Nr. 37), eine ungewöhnliche Florentiner Borte mit der Darstellung des Schmerzensmanns (Kat. Nr. 61) usw. Dank der Vielfalt der bearbeiteten Objekte – ungewöhnliche und typische – entsteht ein eindrucksvoller Überblick über die bildtragenden Textilien des Mittelalters und nicht zuletzt wird auch die Internationalität der Textilkunst schlagend unter Beweis gestellt.
Evelin Wetters Katalog aus dem Jahr 2012 schließt direkt an den Katalog, den Karel Otavský und Anne E. Wardwell ein Jahr zuvor vorgelegt haben und in dem in 126 Katalognummern ein weiterer großer mittelalterlicher Textilienbestand der Abegg-Stiftung vorgestellt wird, und zwar unter der Überschrift „zwischen Europa und China“. Wie eingangs schon gesagt: „Weltkunst“ war während sehr vieler Jahrhunderte zuerst Textilkunst – und in mancher Hinsicht sind Textilien das natürlich immer noch. Der kulturenübergreifende und kulturenverbindende Charakter des Textilen erfordert eine entsprechende interkulturelle wissenschaftliche Kompetenz, über die die beiden Verfasser in herausragender Weise verfügen. Der Katalog besteht aus drei Teilen, die jeweils einzeln eingeleitet werden. Im ersten Teil stellt Karel Otavský „frühmittelalterliche Stoffe zwischen Persien und China“ vor. Unter diesen 22 Katalognummern finden sich etwa eine spektakuläre chinesische Seidendecke des 7. oder 8. Jahrhunderts (Kat.Nr. 2). Der zweite Teil, der die Katalognummern 23 bis 36 enthält, wurde von Anne E. Wardwell bearbeitet. Es handelt sich um Textilien aus dem Bereich der im Westen nur wenig bekannten Liao-Dynastie, die zwischen 907 und 1125 in Nordchina bestand. Die herausragende Qualität dieser Stoffe wird durch eine Reihe von beeindruckenden Makroaufnahmen belegt.
Der dritte und letzte Teil „Seidengewebe des hohen und späten Mittelalters“ stammt von Karel Otavský. Die zugehörigen Katalognummern 37 bis 126 machen den Hauptteil des Katalogs aus. Besonders verwiesen sei auf die Einführung, in der eine kurze Übersicht über die Entwicklung der mittelalterlichen Seidenweberei geboten wird – und zugleich eine Übersicht über die großen geopolitischen Entwicklungen ganzer Epochen. Diese Seiten – ohne Rücksicht auf aktuelle politische Korrektheit geschrieben – seien jedem empfohlen, der sich einen Überblick über die historischen Kontakte zwischen Okzident und Orient verschaffen möchte. Aus dem großartigen Material seien einige wichtige Stücke herausgegriffen, etwa die Glockenkasel des hl. Vitalis (Kat.Nr. 46) und eine Mitra des 13. Jahrhunderts (Kat.Nr. 51), die beide aus der Erzabtei St. Peter in Salzburg stammen und zu den nicht wenigen bedeutsamen Kunstwerken gehören, die die schon damals sehr progressiv ausgerichtete Erzabtei 1931 für verzichtbar hielt, um mit dem Erlös ihre selbstverschuldeten wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Ein anderes Spitzenstück ist eine Dalmatik (Kat.Nr. 102), die ehemals der Stralsunder Kalandsbruderschaft gehörte, deren Paramentenschatz Juliane von Fircks in einer großen, ebenfalls bei der Abegg-Stiftung erschienenen Monographie vorgestellt hat.
Es werden aber nicht nur die Hauptwerke besprochen, im Grunde wurde auf die Untersuchung der vielen, nur auf den ersten Blick unscheinbaren Fragmente fast noch mehr Wert gelegt. Der Aufbau der Katalognummern sei anhand des Fragments eines italienischen Goldstoffs exemplarisch vorgestellt (Kat.Nr. 105). Am Beginn steht die Datierung, danach werden andere Teile desselben Stoffs genannt, von dem weitere Fragmente in Boston, Budapest, Krefeld und Mailand bekannt sind. Nach den Angaben zum Zustand folgen Ausführungen zur Technik, zur anzunehmenden Herstellungsart und zum Material. Hier handelte es sich um einen Zugwebstuhl mit drei Hochschäften für die Hauptkette und vier Tiefschäften für die Bindekette. Abschließend gibt es einen Kommentar sowie Literaturangaben. Von besonderem Wert sind immer die technischen Angaben, bei denen sich Karel Otavský einer ausgemacht klaren Terminologie bedient. Diese Genauigkeit nützt nicht nur den Textilexperten. Im Gegenteil: Wer diese Passagen – Interesse und Anstrengungsbereitschaft vorausgesetzt – ernsthaft studiert, erhält hier Informationen, die er in manch anderen Publikationen nicht findet, die aber nötig sind, um sich textilkundliches Wissen anzueignen. Hier ist immer alles nachvollziehbar. Wer will, kann anhand dieser Ausführungen nach und nach zum Experten werden. Wer das nicht will, der kann wenigstens erahnen, welch riesiges Wissen und welch jahrhundertealte Erfahrung sich in den hier vorgestellten Textilien materialisiert hat, denn gerade diese Informationen beeindrucken: Bei der eben erwähnten Mitra wird z. B. eine Brettchenweberei mit 109 spiegelbildlich gestellten Vierlochbrettchen rekonstruiert.
Die Bedeutung der beiden Kataloge kann kaum überschätzt werden. Es wird auf eine höchst zuverlässige Weise profundes Wissen dargeboten. Großer Wert wird darauf gelegt, technische Aspekte mit stilgeschichtlichen und ikonographischen zu verbinden. Gleichzeitig geht es immer auch um die Kontexte und die Überlieferungsgeschichte, weshalb besonders liturgische Fragen oftmals berücksichtigt werden. Höchstes textilwissenschaftliches Wissen und Freude an der Ästhetik erlesener Textilien sind in diesen Bänden eine einmalige Verbindung eingegangen, denn – das darf man abschließend auch sagen – es werden unglaublich schöne Gewebe und Stickereien gezeigt.
Wetter, Evelin: Mittelalterliche Textilien III. Stickerei bis um 1500 und figürlich gewebte Borten (= Textilsammlung der Abegg-Stiftung; 6), Riggisberg: Selbstverlag 2012
ISBN-13: 978-3-905014-50-1, 364 S, 202 Abb., CHF 280.00
Otavský, Karel; Wardwell, Anne E.: Mittelalterliche Textilien II. Zwischen Europa und China (= Textilsammlung der Abegg-Stiftung; 5), Riggisberg: Selbstverlag 2011
ISBN-13: 978-3-905014-42-6, 388 S., 219 Abb., CHF 280.00
Recommended Citation:
Christian Hecht: [Review of:] Wetter, Evelin: Mittelalterliche Textilien III. Stickerei bis um 1500 und figürlich gewebte Borten (= Textilsammlung der Abegg-Stiftung; 6), Riggisberg 2012; Otavský, Karel; Wardwell, Anne E.: Mittelalterliche Textilien II. Zwischen Europa und China (= Textilsammlung der Abegg-Stiftung; 5), Riggisberg 2011. In: ArtHist.net, Nov 9, 2015 (accessed Dec 26, 2024), <https://arthist.net/reviews/3661>.
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