REV 15.01.2022

Hövelmann, Katharina: Bauhaus in Wien?

Rezensiert von Alexandra Panzert, Hochschule Hannover / Fakultät III - Medien, Information und Design
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Das Bauhaus gilt immer noch als eine der wichtigsten künstlerischen Institutionen des 20. Jahrhunderts. So ist es kaum verwunderlich, dass die kunsthistorische Forschung die Leistungen vieler Bauhaus-Schülerinnen und Schüler auf ihre Zugehörigkeit zu dieser Schule reduziert. Katharina Hövelmanns Buch „Bauhaus in Wien?“ verfolgt einen anderen Ansatz: Sie untersucht das Werk der Wiener Ateliergemeinschaft der Bauhaus-Schüler Friedl Dicker (1898-1944) und Franz Singer (1896-1954) in verschiedenen Kontexten. Nicht nur das Bauhaus, auch die Wiener Moderne, die Lebensreformbewegung, soziokulturelle Faktoren und architekturtheoretische Überlegungen des Neuen Bauens dienen der Autorin als Referenzpunkte ihrer Studie und erweitern damit das Netzwerk der Akteure der Moderne der 1920er Jahre um einen bislang stark vernachlässigten Werkkomplex.

Hövelmanns bei der Universität Wien vorgelegte und 2021 im Böhlau-Verlag erschienene Dissertationsschrift gibt damit Einblick in zwei außergewöhnliche Gestalterbiografien und eine wichtige Position des Wiener Designs und der (Innen)Architektur der Zwischenkriegszeit. Die Autorin konsultierte erstmals umfangreich die Quellen aus dem privaten Nachlass Georg Schrom in Wien, dem Berliner Bauhaus-Archiv, aber auch Archivmaterial aus London, Amsterdam und der Schweiz und ordnet diese zu einer lesenswerten Detailstudie. Sie skizziert Lebenswege, beruflichen Werdegang, Einflüsse und Arbeitsweise sowie das reichhaltige gestalterische Werk der Wiener Ateliergemeinschaft. Dickers und Singers Biografien zeigen, wie vielfältig die künstlerischen Ausbildungswege ihrer Zeit waren. Bevor beide ans Bauhaus kamen, verbrachten sie Lehrjahre in der privaten Kunstschule Johannes Ittens, Dicker ließ sich zur Fotografin ausbilden und besuchte die Wiener Kunstgewerbeschule, Singer eine private Malschule. Am Bauhaus waren sie Teil der Wiener Gruppe von wohl 25 Studierenden, die Johannes Itten gefolgt waren und die Georg Muche als „Sauerteig, der den Prozeß der organischen Entwicklung am Bauhaus einleitete“ bezeichnete (47). Das zweite Kapitel gibt erhellende Einblicke in die Rolle dieser Gruppe und in die disziplinenübergreifenden Aktivitäten Dickers und Singers in Weimar, die sich keineswegs nur um das Bauhaus drehten.

Nachdem Kapitel 3 die beruflichen Anfänge in der Theaterarbeit mit den schließlich erfolglosen Berliner „Werkstätten Bildender Kunst GmbH“ (1923-1926) skizziert, konzentriert sich der Hauptteil der Schrift auf die Wiener Ateliergemeinschaft Dickers und Singers, die von 1925 bis 1938 existierte, wobei Dicker ab 1931 ausschied und beide ab 1933/34 ihren Lebensmittelpunkt ins Ausland verlegten. Die Biografien der beiden jüdischen Gestalter sollten in den darauffolgenden Jahren in dramatischer Weise durch Antisemitismus und Nationalsozialismus geprägt werden.

Hövelmann beschreibt in den Kapiteln 4 und 5 fundiert und materialreich Zusammenarbeit, Auftraggeber, Mitarbeiterinnen, Vermarktung und schließlich die Produktpalette und vielfältige Entwurfspraxis der Ateliergemeinschaft und schafft dabei immer wieder Bezüge zu den Einflussquellen Dickers und Singers. Sie entwarfen Innenraumgestaltungen, Leuchten, Möbel (meist Holz, ab 1930 auch Stahlrohr), Textilien, Kachelöfen, und mit Ausnahme ganze Bauten, wobei Dicker vor allem im Bereich der Farbgestaltung, Textilien und Fotografie tätig war. Funktion und Herstellung der Produkte werden detailliert beleuchtet.

Der zentrale Schaffensbereich der Ateliergemeinschaft war die Konzeption von multifunktionalen und raumsparenden Möbeln – ein wichtiges Thema der architekturtheoretischen Debatten der Zeit. Die Ateliergemeinschaft entwickelte sowohl spielerische als auch praktische Modelle: Sei es ein in den Fuß eines Tisches integrierter Würfel, dem Likör und Gläser entnommen werden konnten für ein Herrenzimmer, seien es Betten, die in Wänden oder Podesten verschwanden, der „Kistenkasten“, ein Schrank, der diverse Stühle und Tische verstauen konnte, oder der sogenannte „Transmissionsstuhl“, der sich in einen Würfel verwandeln konnte (206-227). Die Autorin verweist in diesem Kontext auf die Verbindung zu Möbeln der russischen Konstruktivisten, für die der Aspekt der Bewegung und Verwandlung als moderner Gedanke eine Rolle spielte – man denke nur an Rodtschenkos Arbeiterklub für den sowjetischen Pavillon auf der Pariser Ausstellung „Art Decoratif“ 1925. Die verwandelbaren Möbel der Ateliergemeinschaft zeigen gleichzeitig ein Dilemma auf, das exemplarisch für die Architekturdebatte der Zeit war: Einerseits entwarfen Dicker und Singer vor allem individuelle Möbel und Räume für einzelne Auftraggeber aus dem bildungsbürgerlichen Milieu, die dann meist von kleinen Wiener Tischlereibetrieben gefertigt wurden. Andererseits bewegte sich die Ateliergemeinschaft mitten im Diskurs des Neuen Bauens mit Themen wie platzsparenden Einrichtungen und das Wohnen für das Existenzminimum. 1931 veröffentlichte das Kölner Tageblatt den Text „Das moderne Wohnprinzip. Ökonomie der Zeit, des Raumens und der Nerven“, der Franz Singers Möbel bewarb. Gleichzeitig waren die komplexen Schachtelungen der Entwürfe eben nicht für die Massenproduktion geeignet. Einzig die holländische Firma „Metz & Co.“, eigentlich ein Kaufhaus, ließ zwei Stahlrohrtische in höherer Zahl produzieren, lehnte aber gleichzeitig viele weitere Entwürfe der Ateliergemeinschaft aus produktionstechnischen Gründen ab.

Der einzige Wohnbau, der 1932/33 nach Entwürfen von Singers Ateliergemeinschaft ausgeführt wurde (Dicker war mittlerweile ausgeschieden), war das Wiener Gästehaus Auersperg-Hériot, das Hövelmann zu Recht als „fulminanten Höhe- und Endpunkt“ seines Oeuvres bezeichnet (379). Das Haus, das heute nicht mehr erhalten ist, bestand aus über 15 teils ineinander verschränkten Räumen und einem „Wechselspiel vor- und zurückspringender, ineinandergreifender, rechteckiger und gerundeter Bauelemente“ (385). Die beiden Gästezimmer waren in der für die Ateliergemeinschaft typischen Wandelbarkeit gestaltet, daneben gab es Zimmer für Personal und Chauffeur, ein Flachdach mit einer große Dachterasse, auf die ein gläsernder Aufzug und eine Wendeltreppe führte, eine Ölheizung, einen Autowaschplatz, ein Bügelzimmer, eine aufwändige Bepflanzung mit Bewässerungssystem und zwei kreisförmige Durchlässe für Bäume. Das Gästehaus muss mit seiner Extravaganz und modernen Konstruktion den Vergleich mit anderen ikonischen Wohnhäusern der 1920er und 1930er Jahre nicht scheuen. Das betrifft auch die Ambivalenz von modernem Anspruch und Luxus und die Priorität der Optik vor der Bauqualität, denn das Gästehaus Auersperg-Hériot zeigte bereits nach zwei Jahren funktionale Mängel, vor allem in Form von Wasser- und Frostschäden.

In ihrem Resümee beantwortet Hövelmann die titelgebende Frage „Bauhaus in Wien?“ mit einem klaren Jein. Sicher waren ihre Ausbildungsjahre prägend für Dicker und Singer, und dazu zählte auch das Bauhaus. Doch für Singer ist kein einziges Möbel aus seiner Bauhaus-Zeit überliefert, dafür begeisterte er sich umso mehr für Theo van Doesburgs Weimarer DeStijl-Kurs. Dickers Werke sind hingegen in den Bauhaus-Alben publiziert. Die Farbgestaltungen, die Bemühungen um Typisierung und die Verwendung von Stahlrohr in der Ateliergemeinschaft können sich auf das Bauhaus beziehen. Doch waren dies gleichzeitig die Themen einer breiten europäischen Architekturavantgarde, in der das Bauhaus nicht unbedingt tonangebend war.

Hövelmanns Arbeit zeichnet sich durch detailreiche Beschreibungen der Entwürfe der Ateliergemeinschaft und eine umfassende Bebilderung aus. Durch Fotografien, Grundrisse, farbige Axonometrien und Entwurfszeichnungen werden die Raumentwürfe lebendig, von denen leider kein einziger mehr erhalten ist. Abbildungen und Verweise auf Raumgestaltungen von Le Corbusier, Walter Gropius, Marcel Breuer, Adolf Loos, Lilly Reich oder Gerrit Rietveld verdeutlichen den künstlerischen Kontext, in dem sich die Ateliergemeinschaft als eigenständige Stimme zwischen Sachlichkeit und Art Déco bewegte. Manche der Abbildungen, gerade die Pläne des Gästehauses Auersperg-Hériot und die farbigen Axonometrien mancher Raumgestaltungen hätte sich die Leserin durchaus größer gewünscht und lieber auf die ein oder andere wortreiche Beschreibung verzichtet.

Inhaltlich fundiert und formal gut und klassisch gestaltet (mit hilfreichem Register) ist „Bauhaus in Wien?“ eine Forschungsarbeit, die zwar immer wieder Bezüge zum Bauhaus zieht, doch durch eine breite vergleichende Einbettung der Werke der Ateliergemeinschaft verdeutlicht, dass hier kein Ursache-Wirkung-Prinzip vorliegt, sondern ein gemeinsamer Kontext. Dennoch ist dem Bauhaus hier in zweierlei Hinsicht zu danken: Zum einen, weil es als wichtiges Netzwerk für eine gestalterische Avantgarde der Zwischenkriegszeit diente, in der auch Dicker und Singer wichtige Kontakte knüpften. Zum anderen ist es wohl ihrer Zugehörigkeit zum Bauhaus zu verdanken, dass sich die schriftlichen Nachlässe beider Künstler so umfangreich erhalten haben. Es ist eine der Tragiken in Dickers und Singers Rezeption, dass durch ihre Arbeit für jüdische Auftraggeber viele Möbel verstreut oder nicht erhalten sind. Hövelmann weißt immerhin 45 existierende Möbel und fünf Leuchten nach. Dass derzeit zwei Möbelstücke der Ateliergemeinschaft in der Münchner Neuen Sammlung und im Wiener Museum für angewandte Kunst ausgestellt sind, ist vielleicht eine erste Wirkung dieser neuen Forschungen.

Hövelmann, Katharina: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien: Böhlau Verlag 2021
ISBN-13: 978-3-205-21309-3, 491 Seiten, mit 430 farb. Abb., geb. oder E-Book, 60 EUR

Empfohlene Zitation:
Alexandra Panzert: [Rezension zu:] Hövelmann, Katharina: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien 2021. In: ArtHist.net, 15.01.2022. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/35684>.

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