Innerhalb kurzer Zeit erlebt bereits der zweite Maler aus der ersten Riege der Genremalerei des 19. Jahrhunderts eine neue Würdigung. War dies 2020 Ludwig Knaus in seiner Heimatstadt Wiesbaden beschieden[1], so nun Franz von Defregger in Innsbruck, kondensiert über den Ausstellungszeitraum hinaus in einem 312-seitigen Begleitband. Das Interesse der Tiroler Landesmuseen an Defregger überrascht wohl keinen. Wo sonst wäre eine Retrospektive zum hundertsten Todestag naheliegender. Zudem ließ bereits 2018 eine Tagung im Ferdinandeum erahnen, wie sich der dort für die Kunst des 19. Jahrhunderts verantwortliche Sammlungsleiter Peter Scholz eine zeitgemäße Annäherung an Defregger vorstellt.[2] Der Tagungsband wurde Erstling einer Schriftenreihe, in der Scholz und Joseph Imorde von der Universität Siegen als Herausgeber eine „Neubewertung der Kultur des späten 19. Jahrhunderts anregen“, um „die Kunst der Moderne jenseits der formalästhetischen Kanonisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts neu zu befragen“.[3] Kaum anders ist auch die Intention der vorliegenden Publikation zu umschreiben.
Scholz umreißt zum Auftakt die Widersprüchlichkeit zwischen einstiger Wertschätzung und heutiger Stellung Defreggers in der Kunstgeschichte sowie seine Überzeugung, dass Defreggers Werke in puncto Innovativität und Anknüpfungsfähigkeit an wichtige Phänomene der Moderne weitaus mehr zu ergründen haben, als es die Absenz Defreggers in dem von Avantgarde und Moderne um 1900 geprägten Kanon der Kunst des 19. Jahrhunderts vermuten ließe. Die versammelten Autoren können beim Belegen dieser These aus dem Vollen schöpfen. Dank zahlreicher Leihgaben bis aus den USA, aber vor allem aus der Nachkommenschaft Defreggers wird dessen Œuvre in umfassender Breite vorgestellt und ein Blick auf einen vielen sicher unbekannten Defregger ermöglicht. Dass keine eingefahrenen Rezeptionswege nachgetrampelt werden sollen, verrät auch ein Blick auf den Buchumschlag: Ein Mädchen in Tracht prangt auf dessen Rückseite; die Vorderseite indes nimmt das Porträt eines jungen Afrikaners mit weißem Kopftuch ein. Defreggers Interesse an anderen Kulturen ist eine vieler frisch anmutenden Fragestellungen, die in der Publikation angegangen werden.
Karriere und Gesamtwerk des Künstlers veranschaulicht ein überwiegend chronologisch vorgehender Aufsatz von Angelika Irgens-Defregger. Es sticht heraus, dass Defregger relativ spät, mit Mitte Zwanzig, die Kunstlaufbahn einschlug, sodann jedoch rasch im historischen Genre den akademischen Erfolgsweg fand und mit Genremotiven Tiroler Bauernlebens populär wurde. Studienjahre in Paris 1863 bis 1865 prägten, wie Gitta Ho ausführt, zwar private Arbeiten des Künstlers, blieben aber ohne Spuren in seinem öffentlichen Wirken.
Sigrid Ruby arbeitet heraus, dass der Künstler durchaus als modern im Sinne von zeitgemäß charakterisiert werden kann. Denn Defregger verstand es, Erwartungen und Bedürfnisse des zeitgenössischen Publikums zu erfüllen und zu formen. Er malte eine geschlechter- und generationenübergreifend mit sich im Reinen seiende Landbevölkerung, die der Käuferklientel nicht nur anziehend, sondern vor allem plausibel erschien. Ein Arkadien also, das nicht zu utopisch wirkte.
Gewährleisten konnte Defregger diese Plausibilität beispielsweise durch die authentische Schilderung des Bild-Settings. So identifiziert Christoph Hölz typische Motive Osttiroler Baukultur in den Gemälden, betont aber auch, dass der Maler selbst in München im schönsten Gründerstil der Neorenaissance wohnte und eine Bauernstube dort für Defregger nurmehr Atelierskulisse war. Vielsagend für Defreggers künstlerische Aneignung des Landlebens – „einem ausschmückenden und schöpferischen Historismus“ (S. 136) – ist auch folgende von Hölz geschilderte Begebenheit: Da die Musikkapelle von Dölsach in Osttirol traditionell im schmucklosen schwarzen Sonntagsanzug auftrat, entwarf und spendierte Defregger ihr eine farbenfrohere, gleichsam pittoreskere Tracht.
Für die Kulturwissenschaftlerin Simone Egger sind die alpinen Trachtenlandschaften des Künstlers so auch keinesfalls dokumentarische Illustrationen Tiroler Landlebens, sondern sagen im Grunde weit mehr aus über die urbane Klientel, die sie erwarb. Das Alpine bei Defregger erweist sich im Rückblick „von der modernen Stadt aus vermessen“. (S. 115) Für diese idealisierende Wirklichkeitsaneignung verwendet Egger den Begriff des poetischen Realismus, einen in der deutschen Literaturwissenschaft fest eingeführten Terminus, der auch für die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts fruchtbar zu sein scheint.
Wie sehr ein solcher Realismus seinerzeit als Kunst anerkannt war sowie den Publikumsgeschmack traf, legt Helmut Hess’ Beitrag dar. Bereits zu Beginn von Defreggers Laufbahn waren die Reproduktionsrechte an seinen Bildern begehrt. Später kam es zum hochdotierten Exklusivvertrag. Zeitweise sollte keiner so viele Motive im Sortiment des Münchner Kunstverlags Hanfstaengl stellen wie Defregger. Hess’ nahe an den Quellen des Verlags angesiedelte Darstellung lässt erahnen, wie profitabel das Verhältnis beider Seiten – Künstler und Verlagswesen – gewesen sein muss. Die Reproduktionen ließen Defreggers Motive omnipräsent werden. Sie wurden Vorbilder für Tableaux vivants und Bühneninszenierungen oder, wie andernorts im Band deutlich wird, diffundierten in Reklame. Hess führt aber auch an, dass angesichts dieser „Multiplikationsmaschinerie“ (S. 97), der Defregger durch Repliken Vorschub leistete, schon in den 1880er-Jahren Kritik aufkam.
Entsprechende Reibungspunkte thematisiert Joseph Imorde. Er lässt mit Richard Muther einen der bildgewaltigsten Kritiker der Kunstrichtung Defreggers zu Wort kommen sowie den Künstler selbst. 1905 entgegnete Defregger einem Journalisten, dass gute Kunst in seinen Augen eine Kunst der Entlastung zu sein habe, und zwar mehr denn je in Anbetracht der Zeitumstände. Defregger beklagte namentlich die Neurasthenie sowie die atemlose Jagd nach Sensation und Verblüffendem. Wie Imorde herausarbeitet, unternahmen es Verfechter der Moderne wie Muther, das Werk Defreggers umzudeuten, das aber gerade deswegen so erfolgreich sein konnte, weil es Menschen mit Unbehagen an der Moderne Entlastendes anbot.
Gleichwohl verloren Defreggers Bilder bekanntlich zunehmend an Akzeptanz, beispielsweise infolge der mehrfach im Band thematisierten Jahrhundertausstellung deutscher Kunst in Berlin 1906. Auf welche recht unterschiedliche Art eine Schilderung der Wirklichkeit wie bei Defregger später nochmals Anklang fand, thematisieren zwei weitere Aufsätze. Birgit Schwarz schildert in ihrem Beitrag den Enthusiasmus Hitlers für die Genremalerei der Münchner Schule sowie für Defregger im Speziellen und damit die im Buchtitel anklingende missbräuchliche Rezeption während des Nationalsozialismus. Einen Nachhall anderer Art erlebte Defreggers narrative Malerei im Medium der bewegten Bilder, genauer gesagt im Genre des deutsch-österreichischen Heimatfilms. Georg Seeßlens Auftrag, sich der Zusammenschau dieser zwei „Parallelwelten“ (S. 151) zu widmen, ist als glücklicher Griff der Herausgeber zu werten. Herausgekommen ist ein überaus lesenswerter Essay am Ende der gleichnamigen Sektion, am Übergang zum Katalogteil.
Jener unterteilt sich in 14 Themenbereiche. Hier begegnet vieles, was bereits erläutert wurde sowie manches, das man bis dato vermisste. Jeder Themenbereich wird durch einen einleitenden, einseitigen Haupttext erschlossen. Auf Einzeltexte zu den Abbildungen wurde verzichtet. Entsprechend geht es hier inhaltlich nicht mehr sehr in die Tiefe. Die Bildauswahl ist anregend, die Themengliederung stimmig. Zu Aspekten wie Defreggers religiöser Kunst oder den Gegenüberstellungen mit Werken der Klassischen Moderne wünscht man sich baldige nähere Beschäftigung.
Im Anhang finden sich neben Kurzbiographien der Künstler, Dargestellten und Autoren zwei Verzeichnisse. Birgit Schwarz fasst die Gemälde Defreggers in Hitlers Museumssammlung zusammen, Helmut Hess alle im Kunstverlag Hanfstaengl zwischen 1873 und 1921 erschienenen Reproduktionen. Hess vermag anhand der Quellen des Verlages mehr als 50 Werke neu zu datieren und 14 zu belegen, die im Werkverzeichnis unerwähnt sind.
Bis ins Kleingedruckte des Anhangs hinein bietet die Publikation somit Bausteine an für eine „Wieder- und Neuentdeckung“ (S. 154) Defreggers, wie es die Herausgeber versprechen. Vor allem die Charakterisierung einer Wiederentdeckung überzeugt. Denn im Grunde genommen ist das Vorgehen, der Öffentlichkeit den ‚unbekannten‘ Defregger zu zeigen, nichts Neues. Das behauptet der Band aber auch nicht und benennt seine Vorläufer. Was die vorliegende Veröffentlichung von früherem Vorgehen ähnlicher Art unterscheidet, ist der Grad der Unvoreingenommenheit, welcher nicht mit unkritischer Nähe zu verwechseln ist.
Der Unterschied zu früheren Retrospektiven liegt darin, dass Defreggers künstlerische Vielfalt nicht gegeneinander ausgespielt wird. Weder der populäre Defregger, an dem sich neben Muther manch Kunsthistoriker, Kritiker, Museumsmann und Künstlerkollege der Zeit abarbeitete, noch der private Defregger, den die Genannten von Akademiebetrieb und Publikumsgeschmack erdrückt wähnten, werden favorisiert. Der Band seziert vielmehr nüchtern an klug gewählten Ansatzpunkten den ‚Mythos Defregger‘, das persistente Image des Künstlers als Tiroler Bauernmaler par excellence. Zutage tritt ein klassisch geschulter, ausgesprochen meisterhafter Maler, der sich an einer Spaltung in ein privates und öffentliches Œuvre nicht gestört zu haben scheint, der von der Kunst vor allem Schönheit verlangte, dies in selektiven Schilderungen der Wirklichkeit erstrebte und über lange und für viele damit zu den „Modernen Meister[n]“ (S. 24) zählte. Das klingt so gar nicht nach dem gängigen Bild der Kunst um 1900, doch ist es näherer Betrachtung wert. Die Kunstgeschichte muss sich dafür allerdings wieder breiter mit dem Kunstbetrieb des späten 19. Jahrhunderts auseinandersetzen. Bezüglich Franz von Defregger ist ein Anfang gemacht.
[1] Peter Forster / Rebecca Krämer (Hrsg.): Ludwig Knaus. Homecoming (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Museum Wiesbaden 2020), Berlin und München 2020.
[2] https://arthist.net/archive/17608/
[3] Joseph Imorde / Peter Scholz / Andreas Zeising (Hrsg.): Volkstümliche Moderne. Malerei und Kultur der Gründerzeit (Gründerzeit. Schriften zu Kunst und Kultur; 1), Weimar 2019. Die zitierten Passagen entstammen dem rückwärtigen Klappentext des Buches.
Assmann, Peter; Scholz, Peter; Irgens-Defregger, Angelika; Hess, Helmut (Hrsg.): Defregger. Mythos - Missbrauch - Moderne, München, Innsbruck: Hirmer Verlag 2020
ISBN-13: 978-3-7774-3666-1, 312 Seiten, EUR 45.00, Inhaltsverzeichnis
Recommended Citation:
Matthias Memmel: [Review of:] Assmann, Peter; Scholz, Peter; Irgens-Defregger, Angelika; Hess, Helmut (Hrsg.): Defregger. Mythos - Missbrauch - Moderne, München, Innsbruck 2020. In: ArtHist.net, Nov 19, 2021 (accessed Oct 10, 2024), <https://arthist.net/reviews/35360>.
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