REV 13.12.2008

Günther Feuerstein: Urban fiction

Rezensiert von Steffen Krämer
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatssysteme seit 1989 wurde schon vielfach der Niedergang des utopischen Denkens oder das ‚Ende des utopischen Zeitalters’ konstatiert [1]. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Utopien aber offensichtlich wieder in Mode, zumindest als Gegenstand der Forschungsliteratur in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. So hat Richard Saage seine umfassend angelegte, vierbändige Ideengeschichte der politischen Utopien von Thomas Morus bis zum Ende des 20. Jahrhunderts von 2001-04 publiziert [2]. Auch im Bereich der Architektur- und Städtebaugeschichte sind hierzu in den letzten Jahren wichtige Veröffentlichungen erschienen, wie die Bücher von Nathaniel Coleman und Paul Cattermole [3]. Und genau in diesen Bereich eines noch immer bestehenden oder erst jüngst wieder einsetzenden Interesses am utopischen Diskurs gehört das in englischer Sprache publizierte Buch von Günther Feuerstein über ‚Urban Fiction’, genauer gesagt über Idealstädte von der Antike bis zur Gegenwart oder über die „Cities of Utopia“, wie sie Feuerstein selbst nennt (7).

Die Intention, einen chronologischen Überblick über ideale oder utopische Stadtkonzepte zu bieten, ist indes nicht neu. Bereits 1922 veröffentlichte Lewis Mumford sein Buch über ‚The Story of Utopias’, in dem er nicht nur urbane, sondern ebenso politische, ökonomische wie literarische Utopien wissenschaftlich erörterte [4]. Seitdem ist eine kaum mehr überschaubare Anzahl von Beiträgen erschienen, die sich mit diesem Thema auseinander setzen. Neuartig und mit keinem der bisherigen Forschungsansätze zu vergleichen ist aber die individuelle Vorgehensweise Feuersteins: Sein historischer Gang durch die urbanen Utopien präsentiert sich in Form einer Reise und wird erst ermöglicht, indem er mit Hilfe seiner eigenen Vorstellungskraft diese Städte als ein jeweils erbautes Konstrukt imaginiert. Zweifelsohne verbirgt sich dahinter Feuersteins Zielsetzung, die konventionell negative Ausdeutung des Utopischen als etwas Unmögliches durch das autonome Konzept des Denk- und damit auch Realisierbaren zu ersetzen. Anstelle wissenschaftlich distanzierter Analyse geht es ihm vorwiegend darum, in die fiktiven urbanen Strukturen gleichsam einzutauchen, etwa im Sinne von Walter Benjamins oder Louis Aragons berühmten Erörterungen der Pariser Passagen. Zudem lässt sich Feuerstein die urbanen Utopien von dem jeweils verantwortlichen Architekten, Künstler oder Schriftsteller erläutern, woraus ein fingierter Dialog zwischen Urheber und Rezipient entsteht. Diese Art der fiktiven Konversation erinnert eindeutig an jene von Italo Calvino in seinen ‚Unsichtbaren Städten’ geschilderten Gespräche zwischen Marco Polo und Kublai Khan (376f.). Nicht die wissenschaftlich exakte Untersuchung steht demnach im Vordergrund, sondern vielmehr eine literarische Annäherung, mit der Feuerstein die historischen Stadtutopien mehr oder weniger frei interpretiert. Abschließende Kommentare nach jedem Rundgang, in denen etwa die verschiedenen politischen oder sozialen Vorzüge wie Missstände zur Sprache kommen, ergänzen Feuersteins Reiseeindrücke und sollen nun eine durchaus kritische und vor allem objektivierbare Sicht auf die einzelnen utopischen Konzepte ermöglichen.

Diese Art der Vorgehensweise bietet ohne Zweifel erstaunliche Einblicke in das komplexe Ordnungsschema einer urbanen Utopie, zumal Feuerstein nicht nur der äußeren Erschließungsstruktur folgt, sondern sich auch in einzelne Gebäude hinein begibt, seien sie nun öffentlich oder privat. Der externe Eindruck wird durch den Blick in die Innenwelt komplettiert, nicht selten sogar kontrastiert. Frei von Gefahren ist diese Individualreise allerdings nicht. Schon in der Einführung macht sich das Fehlen eines wissenschaftlichen Unterbaus deutlich bemerkbar. Zwar wird das breite Spektrum jener im utopischen Denken möglichen Grundbegriffe, das von der klassischen Utopie bis zur Dystopie – der negativen Utopie – reicht, aufgelistet, doch fehlen hierzu weiterführende Definitionen. Alleine der Verweis, dass der aus dem Griechischen abgeleitete Terminus ‚U-topos’ einen ‚Nicht-Ort’ bezeichnet (7), kann dessen vielschichtige Bedeutungsgehalte wohl kaum erklären. Ebenso indifferent ist Feuersteins programmatische Aussage, dass „Utopien Realitäten sind“ (10). Hier hätte er sich auf Michel Foucaults Begriff der ‚Heterotopie’ beziehen müssen, handelt es sich doch dabei um tatsächlich verwirklichte Utopien [5]. Zudem bleibt völlig unverständlich, weshalb Feuerstein bestimmte utopische Bereiche, wie Freizeit-Welten, extraterrestrische Gemeinschaften und selbst Dystopien, von vornherein ausklammert und nur in Ausnahmefällen erörtert. Letztere stellen gerade als negative Utopien eine Art Vexierspiegel dar, in dem sich das aggressive, mitunter destruktive Potential idealer Grundkonzepte fokussiert. Schon ein Blick auf die von Feuerstein zumindest in Ansätzen besprochenen Stadtutopien in den totalitären Staatssystemen im Europa des 20. Jahrhunderts kann dies belegen. Und die derzeit bekannteste Stadtutopie der virtuellen Wirklichkeit, die 3-D-Online-Stadt ‚Second Life’, ist das Musterbeispiel einer globalen Freizeitmetropole, deren künstliche Paradiese täglich von einer riesigen Phalanx stereotyper Schönheitsduplikate bevölkert werden.

Trotz dieser eher willkürlichen Einschränkung ist das Spektrum der über 350 Stadtutopien, die Feuerstein während seiner ‚Grand Tour’ besucht, außerordentlich breit gefächert. Nicht nur, dass er alle berühmten Idealstädte analysiert, die in der Forschung schon häufiger untersucht worden sind; auch eine nicht geringe Anzahl weniger bekannter Beispiele wird zum Gegenstand seiner umfangreichen Erörterungen erhoben. Dabei zeigt sich, dass berühmte utopische Konzepte, wie Ebenezer Howards Gartenstadtideal vom Ende des 19. Jahrhunderts (197-199), von historischen Vorläufern bereits angedacht worden waren, in diesem Fall von Robert Mountgomery, der eine Stadt mit überwiegend ‚urbaner Natur’ im amerikanischen Bundesstaat Georgia schon Anfang des 18. Jahrhunderts konzipiert hatte (85f.). Auch werden barocke Parkanlagen oder Schlossprojekte, wie der Park von Versailles (73f.) oder Fischer von Erlachs erstes Großprojekt für das Schloss Schönbrunn (91f.) erläutert, da sich in ihren Planungen Gedanken einer idealen Herrschaftsordnung manifestieren. Selbst einzelne architektonische Entwürfe werden miteinbezogen, wenn sich in ihnen das Streben nach einer utopischen Neuordnung artikuliert, etwa die so genannten ‚Wolkenbügel’ El Lissitzkys von 1924/25 (194f.), deren kühne Konstruktionsweise die revolutionäre Aufbruchstimmung in der damaligen Sowjetunion symbolisiert.

Was den Leser nicht nur erstaunt, sondern gleichermaßen beeindruckt, ist demzufolge der enorme Reichtum verschiedenartigster Facetten, mit denen Feuerstein seine historische Abfolge der urbanen Utopien illustriert. Dass einige bekannte Projekte, wie Bruno Tauts ‚Stadtkrone’ von 1919 oder Wladimir Tatlins ‚Denkmal der III. Internationale’ von 1919/20, in dieser Chronologie fehlen, fällt dabei weniger ins Gewicht. Auch dass Feuerstein einen Schwerpunkt auf die utopischen Stadtkonzepte der 1960er und frühen 70er Jahre setzt und hierbei eine Vielzahl urbaner Großplanungen erörtert, die sich in ihren Strukturgedanken kaum mehr voneinander unterscheiden, ist durchaus verständlich. Schließlich erreichte in jenen Jahren die nachkriegszeitliche Fortschritts- und Technikeuphorie ihren Höhepunkt, und Feuerstein selbst war an dieser dynamischen Entwicklung mit einem eigenen utopischen Entwurf (356f.) persönlich beteiligt.

Dass viele Kommentare zu den Stadtutopien eine kritische Auseinandersetzung vermissen lassen, ist aber ein klares Manko seiner jeweils abschließenden Beurteilungen. Die rigide und nicht veränderbare Monotonie im urbanen Ordnungsschema der völlig identisch gestalteten Städte auf Thomas Morus’ Insel ‚Utopia’ (46-49) wird ebenso wenig angesprochen wie der lediglich fragmentarische Charakter von Antonio Sant’Elias ‚Città futurista’ (205-207), dessen einzelne isolierte Bauentwürfe kein urbanes Kontinuum ergeben, das man in einem fiktiven Rundgang überhaupt besuchen könnte. Völlig verharmlost werden dagegen die folgenschweren Konsequenzen, die sich aus den utopischen Stadtentwürfen Le Corbusiers aus den 1920er und frühen 30er Jahren (208-214) ergeben. Zu Recht verweist Feuerstein diesbezüglich auf die berühmte ‚Charta von Athen’ als Resolution des vierten CIAM-Kongresses von 1933, die seiner Ansicht nach „historisch missverstanden wurde“ (214). Dass dieses urbanistische Dokument eine Zerstörung traditioneller Stadtstrukturen in einem bis dato unbekannten Ausmaß auslöste, darüber schweigt er allerdings.

Trotz dieser Einwände ist Feuersteins Buch überaus lesenswert, weil er einen ganz persönlichen Zugang zu dem in der Forschungsliteratur schon häufig bearbeiteten Thema wählt. Seine emphatischen Äußerungen einer bestimmten urbanen Utopie gegenüber erscheinen denn auch eher wie eine Form der Nostalgie in einer pragmatischen Zeit, in der man gerade im Bereich von Architektur und Städtebau glaubt, auf das utopische Denken völlig verzichten zu können.

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Anmerkungen:
[1] Joachim Fest: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991
[2] Richard Saage: Utopische Profile, Bd. 1-4, Münster 2001-04
[3] Nathaniel Coleman: Utopias and Architecture, London/New York 2005; Paul Cattermole: Gebaute Utopien. Architektur für morgen, München 2007
[4] Lewis Mumford: The Story of Utopias. Ideal Commonwealths and Social Myths, New York 1922
[5] Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/M. 2005

Feuerstein, Günther: Urban fiction. Strolling through ideal cities from antiquity to the present day, Stuttgart [u.a.]: Edition Axel Menges 2008
ISBN-13: 978-3-930698-26-4, 414 S.

Empfohlene Zitation:
Steffen Krämer: [Rezension zu:] Feuerstein, Günther: Urban fiction. Strolling through ideal cities from antiquity to the present day, Stuttgart [u.a.] 2008. In: ArtHist.net, 13.12.2008. Letzter Zugriff 27.09.2024. <https://arthist.net/reviews/336>.

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