„Um 1300“ ist die Studie von Christoph Brachmann zur vorparlerischen Architektur im Elsaß, in Lothringen und Südwestdeutschland (Saarland und Rheinland-Pfalz) betitelt. Die Angabe dieses vagen und, wie der Autor weiß, letztlich willkürlichen Zeitrahmens begegnet in der architekturhistorischen Forschung bereits bei Werner Gross. Dieser publizierte 1948 seine Überlegungen zur gotischen Baukunst unter dem Titel „Die abendländische Architektur um 1300“ [1] und versuchte mit dem seit 1900 eingeführten Begriff der „Reduktionsgotik“ ein Phänomen zu fassen, das sich in einer Vereinfachung der Formensprache, in der bewussten Schlichtheit der architektonischen Schmuckformen äußert.
Was sich bei Gross noch als allgemeiner Abriss zur spätgotischen Architektur in Europa liest, erfuhr nun in Brachmanns Studie an ausgewählten Beispielen eine fundierte Bearbeitung. Viele Versuche, mit der gotischen Architektur dieser Epoche „an der Schnittstelle zwischen französischem Königreich und Heiligem Römischen Reich“ (Klappentext) umzugehen, hat es in der Vergangenheit nicht gegeben und so stößt der Autor mit seiner kompakten und zugleich materialreichen Studie in eine Lücke, die sich der architekturhistorischen Forschung lange Jahre als ein Desiderat darbot. Hatte man sich doch, so der Autor, „hinsichtlich der interessierenden Sakralbauten zumeist nach wie vor mit lange zurückliegenden Monographien – und damit verbunden: mit einer oft ungewöhnlich großen Deutungsbreite gerade bezüglich der Datierung – auseinanderzusetzen, insofern es solche überhaupt gibt.“ (9)
Neu war das Thema für den Autor allerdings nicht, hat er sich doch bereits in seiner Magisterarbeit und dann in seiner Dissertation mit einem der bedeutendsten Bauten dieser Region, der Kathedrale von Metz, beschäftigt und dabei erste Wegweisungen gegeben. [2] War die ältere Arbeit noch vornehmlich auf das 13. Jahrhundert ausgerichtet, so führt die jetzige Studie weit hinein in das 14. Jahrhundert und eröffnet neue Einblicke auf Bauten, die bis dato immer am Rand der architekturgeschichtlichen Betrachtungen lagen. Brachmanns Fragen zielen auf die für den künstlerischen Austausch geradezu prädestinierten Regionen Elsaß und Lothringen: Fungierten diese als eine „Großregion“ (13), und zwar trotz der Tatsache, das erstere eher dem deutschen Kulturraum, letztere dem französischen zuzuordnen ist? Und welchen Einfluss besaß zu dieser Zeit noch die Bistumsstadt Metz?
Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Kirche der ehemaligen Antoniterpräzeptorei in Pont-à-Mousson, die Brachmann schon zuvor in Bezug zur Metzer Architektur um 1300 gestellt hatte. [3] An ihr verdeutlicht er mit den Mitteln von detaillierter Bauanalyse, stilkritischem Vergleich mit zeitgleich anzusetzenden Kirchenbauten sowie umfassender Quellenauswertung eine Entstehung um 1300. Durch den Vergleich mit den Kirchen angrenzender Regionen gelingt es dem Autor, den Blick auf bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Bauten und die innovative Architektur der Zeit um 1300 zu lenken, die einer bewussten Einfachheit huldigt. Dies gilt insbesondere für die Antoniterkirche in Pont-à-Mousson, die als „ein Meisterwerk von geradezu ‚aufgeräumter’, straffer Gestalt; von großer, auf jeden Dekor verzichtenden Eleganz“ (193) charakterisiert wird.
Aus der Gruppe der betrachteten Vergleichsbauten ragen die Stiftskirchen St. Nikolaus/St-Nicolas in Münster/Munster bei Albestroff, „heute in tiefster lothringischer Provinz“ (119) gelegen, und St. Maria in Kyllburg, für die auf rheinland-pfälzischer Seite gleiches zu bemerken ist, besonders heraus. Die enge Übereinstimmung einzelner Bauformen, insbesondere der Fenstermaßwerke und der Dienstvorlagen, lassen gar an eine „Planung und Ausführung wohl von gleicher Hand“ (130) denken und erklären so den intensiven künstlerischen Austausch zwischen weit entfernt liegenden Orten. Ein kurzer Schwenk in den Bereich der Skulptur, zu den Schlusssteinen der Antoniterkirche, stützt auch hier Brachmanns Datierungsansatz nachvollziehbar.
Angesichts des Vergleichs von Pont-à-Mousson mit der Mutterabtei in St-Antoine-en-Viennois stellt sich Brachmann die Frage nach einer genuinen antonitischen Architektur; dies wurde von der Forschung bisher immer verneint, wird vor diesem Hintergrund jedoch erneut virulent. Zu den Ergebnissen der Untersuchung gehört die Erkenntnis, dass Pont-à-Mousson nach der Mutterabtei St-Antoine-en-Viennois zu bedeutendsten Abteien des Antoniterordens gehörte. Dies gilt insbesondere für die Kirchenbauten der beiden Institutionen, deren Grundriss, Aufriss und Detailformen ausgesprochen eng miteinander verwandt sind.
Im Zuge dieser Überlegungen bringt Brachmann die Kathedrale von Metz sowie das Baugeschehen in der Stadt um 1300 zur Sprache. Die Kathedrale stand zu dieser Zeit noch immer im Zentrum der Bautätigkeit. Allein die 15 Ablässe, die zwischen 1319 und 1337 ausgestellt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Doch orientierte man sich bei dem Kathedralbau traditionsbewusst an dem seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts vorgegebenen Aufrissschema. So bot sich lediglich bei Neubauten wie den Kreuzgängen der Klarissen und der Franziskaner sowie der als Ruine auf uns gekommenen Karmeliterkirche die Möglichkeit zu baulichen Innovationen. Sie belegen, dass Metz, und im weiteren Umfeld Lothringen, letztendlich als „Ideengeber für die weiter östlich gelegenen Gebiete“ (192) anzusehen sind.
In der Conclusio unterstreicht Brachmann die hohe Bedeutung der ehemaligen Antoniterkirche in Pont-à-Mousson für die gotische Architektur um 1300. Sie stelle „einen wichtigen Baustein am Übergang von der Rayonnant- zur Spätgotik dar, der [...] nun auch sinnvoll in die allgemeine Architekturgeschichte eingefügt werden kann.“ (195) Angesichts der beständigen Fokussierung auf diesen Kirchenbau, der trotz des weiten Ausgreifens immer im Mittelpunkt steht, fragt man sich jedoch, warum diese stark monographische Arbeit einen so allgemeinen Titel trägt? Geschmälert wird das Ergebnis dieser materialreichen Studie dadurch nicht. Sie besitzt ihren Wert in einer methodisch vielfältigen und systematischen Vorgehensweise, die für die vorparlerische Architektur im Elsaß, in Lothringen und in Südwestdeutschland erstmals konkrete Grundlagen schafft.
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Anmerkungen:
[1] Werner Gross: Die abendländische Architektur um 1300. Stuttgart 1948.
[2] Christoph Brachmann: Gotische Architektur in Metz unter Bischof Jacques de Lorraine (1239-1260): Der Neubau der Kathedrale und seine Folgen. Berlin 1998.
[3] Christoph Brachmann: The Church of the Order of St Antony at Pont-à-Mousson and post-1300 Gothic Architecture at Metz. In: Zoe Opacic; Alexandra Gajewski (Hrsg.): The Year 1300 and the Creation of a New European Architecture. International Conference. Courtauld Institute London, 12.-14. Mai 2005, Turnhout 2007, S. 57-70.
Brachmann, Christoph: Um 1300. Vorparlerische Architektur im Elsaß, in Lothringen und Südwestdeutschland (= Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; 1), Korb: Didymos-Verlag 2008
ISBN-13: 978-3-939020-01-1, 239 S., ca. sfr 90.00
Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Brachmann, Christoph: Um 1300. Vorparlerische Architektur im Elsaß, in Lothringen und Südwestdeutschland (= Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; 1), Korb 2008. In: ArtHist.net, 05.03.2009. Letzter Zugriff 19.12.2024. <https://arthist.net/reviews/333>.
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