REV 12.01.2011

Eva Maria Froschauer: "An die Leser!"

Rezensiert von Christoph Brachmann
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs und der nachfolgenden Jahrzehnte erscheinen sie heute – Text- wie Bildmaterial gleichermaßen betreffend – geradezu als Fundgruben, um bestimmte Teile der Berliner Architekturgeschichte zu rekonstruieren: gemeint sind die in Deutschland und insbesondere in der Reichshauptstadt Berlin seit Ende des 19. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schießenden Architekturzeitschriften. Welcher mit der Epoche befasste Architekturhistoriker wäre nicht schon einmal der Versuchung erlegen, zur Beschreibung eines Gebäudes, zur Charakterisierung eines Architekten der Zeit eine Passage aus ihnen zu übernehmen: fein gedrechselt, mit pathetischen Worten und einer Sprachgewalt, die man heute so wohl kaum mehr finden oder anwenden würde. Kritisch zu hinterfragen ist allerdings, inwiefern das mit ihnen vermeintlich authentisch rekonstruierbare Bild einer untergegangenen (Architektur-)Welt vielleicht doch eher eine die damalige Realität verklärende Vision darstellt: inwieweit die Zeitschriften nicht willkommene Projektionsflächen unserer Zeit sind und ihre Rezeption wie Wirkkraft gar nicht so groß waren, wie man es heute vermuten möchte? Wurden manche Entwicklungen und Zusammenhänge möglicherweise erst im Nachhinein durch Kunst- und Architekturhistoriker konstruiert? Wenig reflektiert erscheint zudem – zumindest was eigenständige systematische Untersuchungen betrifft – der Umstand, dass diese Zeitschriften natürlich alles andere als neutrale Beobachter der Architekturszene waren, sondern vielmehr versuchten, Meinungen zu beeinflussen, ja, zu manipulieren. Eindrücklich zeigt das – nun bezogen auf die 1920er Jahre – die bis heute lebendig gebliebene, jedoch unzutreffende Vorstellung, die Architektur der Weimarer Republik sei gänzlich vom ‚Neuen Bauen’ geprägt gewesen. Dass durch Besprechungen bzw. eigenes Schrifttum – gleichgültig, ob in Zeitschriften oder Buchpublikationen – schließlich sogar Karrieren befördert und die betreffenden Persönlichkeiten im Vergleich zu den ‚nur bauenden’ Kollegen eher Teil des Kanons der Architekturgeschichte werden konnten, belegen eindrücklich Architekten mit ausgeprägtem Mitteilungsdrang wie Bruno Taut oder LeCorbusier.

Trotz der Bedeutung derartiger strategischer Eigenwerbung und -inszenierung, die für heutige Standesgenossen sicherlich sogar noch größer geworden ist, existiert bisher kaum ein Bewusstsein für die historische Dimension des Zusammenspiels von Architekturszene und Medien (vgl. Lit.bericht, 14). Mit ihrer an der Bauhaus-Universität Weimar verfassten und nun – zum Thema passend – im Wasmuth-Verlag publizierten Dissertation hat sich Eva-Maria Froschauer endlich an die Beseitigung dieses Defizits gewagt. Angesichts der Materialfülle sind die von Froschauer vorgenommenen Beschränkungen, die einmal den Zeitraum (1900-1914) und einmal die Anzahl der behandelten Zeitschriften betreffen, mehr als nachvollziehbar. Auch entsteht mit den ausgewählten sechs, durchweg im damaligen Verlagszentrum Berlin erschienenen Beispielen (‚Centralblatt der Bauverwaltung’, ‚Berliner Architekturwelt’, ‚Der Städtebau’, ‚Die Bauwelt’, ‚Kunst und Künstler’, ‚Der Sturm’) ein durchaus repräsentativer Querschnitt, der – bei variierender Intensität der Untersuchung – das gesamte Spektrum abdeckt: vom eher offiziellen Beamtenblatt bis hin zu stärker künstlerisch orientierten Zeitschriften. Dass ihre Untersuchung zwangsläufig Bereiche der Mediengeschichte und -theorie berührt, wird von der Autorin mehr als einmal thematisiert, ebenso wie sie aus der Orientierung an Untersuchungen in anderen Themengebieten – so etwa zu Modezeitschriften oder konkret diejenige Philipp Ursprungs zur Zeitschrift ‚Das Atelier’[1] – keinen Hehl macht.

Das erste Kapitel der in drei Hauptabschnitte gegliederten Arbeit widmet sich solch übergreifenden Themen wie ‚Berlin als Pressestadt um 1900’, der Entwicklung des Presserechts in Preußen oder der Genese von Architekturzeitschriften allgemein. Froschauer folgt hier zumeist den Angaben der bisherigen Literatur[2] (27/28). Im Fokus stehen die Herausgeber, Redakteure, Autoren und deren durchaus sehr unterschiedliche Hintergründe, die Verlagszusammenhänge und -programme – nicht zuletzt jene der heute noch existierenden Verlage Ernst & Sohn, Wasmuth und Ullstein –, in gleicher Weise die Intentionen und Zielgruppen der jeweiligen Gründung oder die Verbindung zu bestimmten Institutionen. Ebenso leistet Froschauer eine saubere Differenzierung der unterschiedlichen Formen der Architekturpublizistik der Zeit (Architekturkritik in Zeitungen; Mappenwerke; Architekturbücher[3]). Behandelt werden aber auch Details wie die verwendete Schrifttype (34). Besonders aufschlussreich ist die Diskussion (50ff) über die tatsächliche Verbreitung bzw. den Wirkungsgrad der Zeitschriften, der – wie deutlich wird – nicht unbedingt direkt mit der Auflagenhöhe zusammenhängen musste (51ff). Außer Konkurrenz nennt Froschauer in diesem Zusammenhang das einflussreiche Avantgarde-Blatt ‚De Stijl’ der 1920er Jahre mit gerade einmal 700 Exemplaren, das z. B. deutlich zu den 20.000 Lesern der aus einem anderen Grund erfolgreichen, wesentlich praxisorientierteren ‚Bauwelt’ kontrastiert (vgl. auch ‚Berliner Architekturwelt’: 7.500; ‚Centralblatt der Bauverwaltung’: 5.500): der einzigen, zumindest dem Namen nach bis heute fortlebenden Architekturzeitschrift der Zeit. Deren allein schon dank dichterem Erscheinungsmodus’ und billigerer Heftqualität andersartige Natur findet dann ausführliche Behandlung.

Das zweite Kapitel ist ganz der Architektenschaft der Zeit gewidmet, ihrer Zusammensetzung, ihrer Ausbildung, den betreffenden Institutionen und Vereinen sowie deren Organen. Als für Architekten wie Bauingenieure gleichermaßen zuständiges Blatt erfährt das halbamtliche ‚Centralblatt der Bauverwaltung’ hier eingehendere Würdigung. Erst- und einmalig geht Froschauer dann auch einem bestimmten Thema nach, das in den untersuchten Zeitschriften zwar sehr unterschiedlich, gleichwohl übergreifend diskutiert wurde: die boomende Metropole Berlin – damals etwas hochgegriffen auch „Spree-Chicago“ genannt – und ihre Architektur. Großstadtsehnsucht kontrastierte hier mit der Angst vor eben dieser; während die einen bekanntlich deren Geschichts- und Traditionslosigkeit geißelten, die fehlende übergeordnete Gesamtplanung bemängelten oder den zu großen Einfluss des Kaisers kritisierten, versuchten andere – blickt man auf die auf Berlin fokussierte und damit etwas selbstreferentielle ‚Berliner Architekturwelt’ –, sogar die Existenz einer expliziten neuen, progressiven ‚Hauptstadtarchitektur’ zu konstruieren (126ff): eine Einschätzung, der man heute in der Rückschau wohl kaum durchgängig zustimmen möchte. Als weniger tendenziösen Berichterstatter benennt Froschauer die bis heute fortlebende Publikationsreihe ‚Berlin und seine Bauten’, mit der ebenfalls, allerdings etwas weniger kurzfristig als bei den Architekturzeitschriften, versucht wurde, den Überblick über die vielfältigen Bauleistungen in der größten Stadt des Reichs zu behalten.

Zwar schienen allein schon angesichts des gewaltigen Bauvolumens in Berlin mehr Innovationen und Experimente als an anderen Orten möglich, doch führt Froschauer Indikatoren an, die darauf hinweisen, dass man die prätendierte Avantgardestellung nicht unbedingt vollständig einzulösen vermochte. Dazu gehört etwa der Umstand, dass in Berlin erst vergleichsweise spät, 1910, die erste Bauausstellung veranstaltet wurde (132). Den Bereich der reinen Architekturkritik verlassend, konstatiert Froschauer hier zu Recht die Parallelität zu Ereignissen unserer Tage, sei doch der Versuch vor 100 Jahren, das spezifisch Berlinische in der Architektur der Stadt festzumachen, durchaus mit jüngsten Bemühungen vergleichbar: „mit jenem Ringen um städtisches Selbstbewusstsein, wie es in den zahlreich geführten Diskussionen um eine Neue Berlinische Architektur erkennbar wurde“ (134).

Das letzte Kapitel geht auf die Architekturkritik selbst ein: auf die ihr bzw. ihren Organen damals zugeordnete Aufgabe als „geschmacksbildende Körperschaften“ (175), auf deren möglicherweise erzieherische Wirkung. Die Erklärungen bzw. die Entwicklungslinien werden dazu erstaunlich weit zurückgeführt, findet doch sogar noch die Humboldt’sche Erziehungsreform des frühen 19. Jahrhunderts Erwähnung (172). Ein vergleichender Blick wird auch auf das bereits etwas früher boomende Metier der Kunstkritik geworfen. Hier macht Froschauer deutlich, dass all dies nicht im eigentlichen Sinne Teil einer breit geführten, öffentlichen Diskussion war, sondern doch eher eine solche von Fachleuten und Interessierten. Mit Adolf Behne, Fritz Stahl und Karl Scheffler beleuchtet sie die prominentesten Vertreter der Architekturkritik der Zeit, wobei recht umfangreiche Exkurse ihrem jeweiligen Kontext gewidmet sind. Das Bild wird gerundet durch einen abschließenden Blick auf die bildliche Aufbereitung von Architektur, die ja – gerade in Anbetracht z. B. der ‚Berliner Architekturwelt’, die seitenweise und zumeist unkommentiert aktuelle Bauvorhaben vorstellte – schon damals einen beachtlichen, in der Zeit ganz neuen Stellenwert besaß. Froschauers Ausführungen stellen hier eine willkommene Ergänzung zu verschiedenen Untersuchungen zu den für das Phänomen noch wichtigeren 1920er Jahre dar.[4]

Einige kleine Kritikpunkte seien abschließend erlaubt: In formaler Hinsicht störend ist die unschöne, grobe Rasterung einiger Abbildungen, hier gerade jene mit Strichzeichnungen oder Schrift. In anderer Weise etwas irritierend sind – wohl auf die ursprüngliche Stillage der Promotionsschrift zurückgehend – die häufig auftretenden, einleitenden ‚Regieanweisungen’, ebenso die Präsentation von Arbeitsthesen, die eigentlich bereits die tatsächlichen Ergebnisse antizipieren (20). Auch wird allzu viel Mühe, bis hin zum Schlusswort, auf die Erklärung von Themenbeschränkungen (z. B. 150) investiert: ein unnötiger Bescheidenheitsgestus, der angesichts der Fülle von Erkenntnissen, mit denen die Untersuchung aufwarten kann, verwundert. Schließlich noch zwei weitere Bemerkungen, die eher als Anregung für weiterführende Arbeiten zu verstehen sind, konnten die betreffenden Aspekte doch offensichtlich allein wegen der Materialfülle bisher nicht berücksichtigt werden: So wäre ein ausgeprägterer vergleichender Blick auf ähnliche Phänomene in Frankreich, England oder den USA, der sich jetzt auf einige, wenige Beispiele beschränkt (z. B. ein interessanter Vergleich zwischen ‚Der Bauwelt’ und dem amerikanischen ‚The Craftsman’; 69-71), hilfreich gewesen. Ebenso hätte eine Fallstudie, wie ein bestimmter Architekt von einer oder mehreren Zeitschrift(en) ‚gepuscht’ wurde, sicher zu einem weiteren Verständnis der diesbezüglichen Strategien beigetragen.[5]

Schon jetzt darf man aber Froschauers auf beeindruckender Materialkenntnis basierende, in ansprechender Form publizierte Dissertation als gelungene Analyse der Berliner Architekturzeitschriftenszene des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnen, die den Sinn für das Medium und dessen Einfluss auf die Vermarktung von Architektur in erfrischender Weise schärft. Gemeinsam mit dem abschließenden Serviceteil (katalogartige Präsentation der untersuchten Zeitschriften; thematisch geordnetes Literaturverzeichnis; Zeitleiste) liegt hier ein sehr brauchbares Grundlagenwerk vor. Damit nicht genug, stellt Froschauers Arbeit schließlich auch einen wichtigen Baustein der sich in jüngerer Zeit intensivierenden Forschung zur Baukunst des frühen 20. Jahrhunderts dar, die nach Poseners 1979 publiziertem Meilenstein zur Berliner Architektur der wilhelminischen Kaiserzeit[6] zwischenzeitlich etwas in den Hintergrund getreten war: zu Unrecht, fand doch bekanntermaßen vieles, was wenig später – in den 1920er Jahren – als ‚Moderne’ tituliert wurde, maßgeblich bereits damals Vorbereitung.

Anmerkungen

[1] Philip Ursprung, Kritik und Secession. ‚Das Atelier’: Kunstkritik in Berlin zwischen 1890 und 1897, Basel 1996.
[2] Rolf Fuhlrott, Deutschsprachige Architektur-Zeitschriften: Entstehung und Entwicklung der Fachzeitschriften für Architektur in der Zeit von 1789-1918, München 1975.
[3] Zum Architekturbuch u. a. jüngst: Matthias Noell, Das Haus und sein Buch. Buchgestaltung im Dienst der Architekturvermittlung, Basel 2009.
[4] Vgl. jüngst: Simone Förster, Masse braucht Licht: Arthur Kösters Fotografien der Bauten von Erich Mendelsohn; ein Beitrag zur Geschichte der Architekturfotografie der 1920er Jahre, Berlin 2008; Michael Stöneberg, Arthur Köster: Architekturfotografie 1926-1933; das Bild vom „Neuen Bauen“, Berlin 2009.
[5] Vgl. dazu z. B. die entsprechende Detailanalyse der Autorin zu Alfred Grenander: Eva Froschauer, Berliner Autochthone: die Vermittlung des frühen Werks Alfred Grenanders in der Architekturpresse, in: Christoph Brachmann/Thomas Steigenberger (Hg.), Ein Schwede in Berlin: der Architekt und Designer Alfred Grenander und die Berliner Architektur (1890-1914), Didymos-Verl., Korb 2010, S. 359-374.
[6] Julius Posener, Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur: Das Zeitalter Wilhelms II., München 1979.

Froschauer, Eva Maria: "An die Leser!". Baukunst darstellen und vermitteln; Berliner Architekturzeitschriften um 1900, Tübingen [u.a.]: Ernst Wasmuth Verlag GmbH & Co. Tübingen · Berlin 2009
ISBN-10: 3-8030-0707-0, 272 S., ca. EUR 34.80, ca. EUR 35.80

Empfohlene Zitation:
Christoph Brachmann: [Rezension zu:] Froschauer, Eva Maria: "An die Leser!". Baukunst darstellen und vermitteln; Berliner Architekturzeitschriften um 1900, Tübingen [u.a.] 2009. In: ArtHist.net, 12.01.2011. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/326>.

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