REV-CONF 19.11.2009

Andrea Pozzo

Wien, 16.–19.09.2009

Bericht von Meinrad von Engelberg, TU Darmstadt
Redaktion: Rainer Donandt

Internationales Symposium "Andrea Pozzo (1642-1709) - Maler und Architekt
der 'Gesellschaft Jesu' , Neue Perspektiven anlässlich seines 300. Todestages"
Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Zentrum Kulturforschungen,
Kommission für Kunstgeschichte, 16.-19. September 2009, Wien

Tagungsbericht von Meinrad v. Engelberg, TU Darmstadt

Am Anfang stand Bernhard Kerber. Der Doyen der deutschen Pozzo-Forschung,
dessen Habilitationsschrift (Berlin 1971) noch immer als Grundlagenwerk
gelten kann, richtete im vergangenen Jahr an den Wiener Kunsthistoriker
Herbert Karner die Frage, welche Veranstaltungen denn 2009, zum 300.
Todesjahr Fra Andrea Pozzos, dort geplant seien. Die Antwort der
Kommission für Kunstgeschichte bei der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften bestand in einem von Herbert Karner konzipierten
viertägigen internationalen Symposium im September.
Der 1642 in Trient geborene Jesuiten-Laienbruder Andrea Pozzo war
spätestens seit dem 1694 vollendeten Langhausfresko in der römischen
Jesuitenkirche S. Ignazio eine Leitfigur des europäischen Spätbarocks, so
dass ihn Kaiser Leopold I. um 1702 nach Wien berief, wo er seine letzten
sakralen und profanen Werke schuf und am 31.08.1709 verstarb. Mindestens
ebenso berühmt wie seine Fresken wurde sein zweibändiges Lehrbuch
"Perspectiva pictorum atque architectorum" (Rom 1693 und 1700). Eine
Tagung zu Pozzo muss also immer drei Aspekte im Auge behalten: Sein
künstlerisches Werk, den Traktat und dessen Rezeption, schließlich den
direkten, indirekten oder mutmaßlichen Einfluss Pozzos auf die spätbarocke
Sakralkunst der katholischen Länder.

So erschien es geradezu als Selbstverständlichkeit, dass Bernhard Kerber
(Berlin) den Eröffnungsvortrag hielt, der in vielerlei Hinsicht Maßstäbe
für die folgende Tagung setzte. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen
die 2001 postum erschienene Dissertation Felix Burda-Stengels [1], der
einen Bogen von Pozzos "Illusionismus" zur Videokunst des 20. Jahrhunderts
zu schlagen versucht hatte, indem er die "physische Aktivierung des
Betrachters" als intendiertes und unverzichtbares Element beider
Kunstgattungen reklamierte.

Bezugspunkt dieser und vieler anderer Diskussionen der folgenden Tage ist
eine farbige runde Marmorplatte im Fußboden des Langhauses von S. Ignazio,
welche den (anscheinend vom Künstler selbst festgelegten) idealen
Betrachterstandpunkt, den sog. "Punto stabile" für das Deckenfresko
markiert. Verlässt man diesen idealen Standpunkt, nimmt die suggestive
Wirkung bis zur völligen Ent-Täuschung ab. Die zentrale Frage lautete nun:
Ist diese de facto unvermeidliche Desillusionierung integraler Teil des
künstlerischen Konzepts Pozzos oder das genaue Gegenteil, also ein
Unterlaufen der eigentlich intendierten Wirkung? Kerber verwahrte sich
ausdrücklich gegen die Vermischung oder Gleichsetzung der Begriffe
Perspektive, Trompe l'oeil bzw. Inganno, Anamorphose und Illusion, welche
jeweils unterschiedliche Formen der optischen Verzerrung oder Täuschung
bezeichneten.

Werner Oechslin (Zürich) versuchte in seinem Beitrag zum Traktat Pozzos,
eine Brücke zwischen beiden Positionen zu bauen, indem er den "richtigen
Standpunkt" im Sinne der Jesuiten als religiöse Position deutete, zu der
man durch die Macht des Sinnlichen, welche dieser Orden schon nach Meinung
der Zeitgenossen zu seinem wirkungsvollsten Instrument entwickelt hatte,
immer wieder unwiderstehlich gezogen werde. Pozzos Kunst spreche "docti et
indocti", also Kunstliebhaber und einfache Gläubige, gleichermaßen an.

Thomas Hänsli (Zürich) untersuchte einen anderen Aspekt des Traktats,
nämlich dessen Funktion für die Identitätskonstruktion seines Autors, der
zwar als Freskant und Perspektivlehrer hochangesehen war, aber als
Architekt nicht ebenso geschätzt wurde. Die "Perspectiva pictorum atque
architectorum" verfolgt nun, besonders im 1700 erschienenen zweiten Band,
die Absicht, ausgeführte Werke des Verfassers wie den Altar des Hl.
Ignatius im Gesù als Belege seiner gleichwertigen architektonischen
Fertigkeit bekannt zu machen, indem er behauptet, ein guter
Perspektivmaler sei automatisch ein guter Architekt.

Das Verhältnis von gebauter und freskierter Architektur stand auch im
Mittelpunkt von Richard Bösels (Rom) Beitrag zur Jesuitenkirche von
Mondovì im Piemont, Pozzos Erstlingswerk (1674-78). Der Referent deutete
zwei im Nachlass eines in der Umgebung Pozzos als Bauschreiner tätigen
Jesuitenbruders gefundene Grundrisse als missverstandene Wiedergaben eines
ersten, nicht ausgeführten Projekts für Mondovì, in dem die heutige
Perspektivwirkung des Raumes mit eingeschobenen "Kulissen" schwächer, die
architektonische Logik dagegen stärker gewesen wäre.

Martina Frank (Venedig) stellte den jüngeren, weniger bekannten Bruder des
Jesuiten, Giuseppe Pozzo, vor, der 1687 in den Karmeliterorden eingetreten
war. Im Kloster S. Carlo in Ferrara hat sich aus dessen Nachlass ein
Konvolut von Altarentwürfen erhalten (heute in Mailand), die Bezüge zum
Werk des römischen Bruders anscheinend schon vor Drucklegung des Traktates
zeigen, was auf einen gewissen künstlerischen Austausch (bei deutlichem
Qualitätsgefälle) schließen lässt.

Christian Hecht (Erlangen) wandte sich wieder der Langhausdecke von S.
Ignazio zu und versuchte, zwei geläufige Missverständnisse aufzuklären:
Zum einen ist nicht die Glorie des Heiligen, also seine Aufnahme in den
Himmel dargestellt, sondern umgekehrt seine Entsendung durch Christus auf
die Erde, wobei in Anspielung auf den Namen Ignatius ein Zitat aus Lukas
12,49 "IGNEM VENI MITTERE IN TERRAM ..." als Motto gewählt wurde, so dass
der Ordensgründer als das personifizierte Liebes- und Reinigungsfeuer
Christi auf die Gläubigen herniederschwebt. Dieses bemerkenswert schlichte
Concetto war um 1700 keineswegs neuartig für die Ordensikonographie oder
von tiefgründiger jesuitischer Spiritualität geprägt.

Kontrovers aufgenommen wurden die beiden letzten Vorträge des Tages:
Julian Blunk (Berlin) reflektierte mit Bezugnahme auf Gottfried Böhm die
meist übersehene zeitliche Dimension in Pozzos Werk, die sich vor allem in
der langandauernden Rezeption des Betrachters manifestiere, der durch die
Disposition der Fresken genötigt ist, sich mehrfach hin und her zu
bewegen, um sie ganz zu erfassen. Seine Überlegungen lösten erneut eine
Debatte aus, ob "Illusionismus" und "Anamorphose" geeignete Begriffe
seien, um die Perspektivmalerei des Barock zu charakterisieren.

Wie spannend es sein kann, die Verarbeitung europäischer Impulse unter den
Bedingungen des lateinamerikanischen Kolonialismus zu betrachten, zeigte
Jens Baumgarten (Sao Paolo) mit seiner Präsentation von
Franziskanerkirchen des 18. Jahrhunderts aus dem Nordosten Brasilien. Der
Referent verwies auf die völlig anders geartete Rezeptionssituation in den
portugiesischen Überseeterritorien, die im Gegensatz zur blühenden
Barockkultur Neuspaniens nur höchst mühsam christliche Bilderverehrung in
einen genuin bilderlosen indigenen Religionskontext zu implantieren suchten.

Am zweiten Tag lag ein Schwerpunkt auf der mitteleuropäischen Rezeption,
dem Umfeld und der Nachfolge Pozzos. Meinrad v. Engelberg (Darmstadt), der
Verf. dieses Berichts, wandte sich gegen eine Deutung der süddeutschen
spätbarocken Deckenmalerei als "epigonal", sondern verwies auf andere
Wurzeln (z.B. Steidl) und alternative erzählerisch-ästhetische Konzepte
(z.B. Asam), die im Verhältnis zu Pozzo als "evolutionär" gedeutet werden
müssten.

Peter Heinrich Jahn (München) machte den in seiner Komplexität an Bösels
These zu Mondovì erinnernden Vorschlag, in der ab 1714 für das Kloster
Lambach errichteten Pestvotivkirche von Stadl-Paura einen Reflex der
verlorenen Ausstattung Andrea Pozzos für die Wiener Peterskirche (1707-09)
zu erkennen.

David Ganz (Konstanz) führte ein weiteres Werk Pozzos in die Diskussion
ein, die um 1700 geschaffenen drei Altäre der Kirche S. Francesco Saverio
in Frascati. Hier ersetzen Fresken vollständig die gebauten Retabel, was
zu einem merkwürdigen Kontrast imaginärer Architektur mit der realen
Meßfeier am Altar führen musste: Zudem wählte der Künstler verschiedene
"illusionistische" Modi, indem er am Hauptaltar die Beschneidung Christi
als quasi reale Handlung in einem gemalten Tempietto, an den Seitenaltären
dagegen ebenso virtuelle Altaraufbauten mit Historienbildern darstellte.

Mit einer Wiener Schöpfung Pozzos, dem Hochaltar der Franziskanerkirche,
beschäftigte sich Tobias Kunz (Berlin), wobei die Frage der Integration
eines mittelalterlichen Gnadenbildes, hier einer aus Böhmen stammenden
vielverehrten Madonna, im Mittelpunkt stand. Die gotische Skulptur hatte
anscheinend mehreren Anschlägen von Bilderstürmern getrotzt, was Pozzo
durch die drastische Hinzufügung einer in die Figur "hineingeschlagenen"
Axt in das Concetto seines Retabels integrierte.

Nach mehreren fraglichen Beispielen stellte Szabolcs Serfözö (Budapest)
einen unzweifelhaften Fall von Epigonentum vor, denn die Jesuitenkirche
von Trentschin, ein Werk des Pozzo-Schülers Christoph Tausch (1673-1731)
in der heutigen Slowakei, wirkt wie eine vereinfachte Kopie des Wiener
Vorbilds, der von Pozzo umgestalteten Universitätskirche desselben Ordens.

Eine völlig anders gelagerte Spielart der Rezeption präsentierte Martin
Mádl (Prag) für Böhmen unter dem treffenden Titel "Pozzo without Pozzo":
Nahezu gleichzeitig mit der Decke von S. Ignazio entstand im Lustschloss
Troja des Grafen Sternberg bei Prag durch Abraham Godin eine Quadratura,
welche die Kenntnis von Pozzos gerade im Entstehen begriffenen Hauptwerk
aufgrund großer Ähnlichkeit eigentlich voraussetzt. In einem überaus
fruchtbaren künstlerischen Umfeld konkurrierte hier die römische mit
Bologneser Perspektivkunst.

Janos Jernyei-Kiss (Budapest) führte schließlich an das Ende des
Jahrhunderts, indem er den Stilwandel Maulbertschs in den 1770er Jahren
(Waiz, Dyje, Korneuburg) hin zu einfacheren, farblich klaren und kompakten
Bildformen nicht als Einfluss des frühen Klassizismus deutete, sondern als
bewussten Rückgriff auf die "handfeste", wirkungsorientierte
Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens z.B. in Pozzos Werk.

Es gehörte zu den Vorzügen der Tagung, ausführlich alle in Wien erhaltenen
Werke Pozzos gemeinsam im Original zu studieren. So versammelte man sich
am abschließenden dritten Tag unter dem Herkulesfresko des Gartenpalais
Liechtenstein in der Rossau. Herbert Karner und Werner Telesko
formulierten ihre Thesen zu diesem profanen Hauptwerk des Künstlers in situ.

Ein letztes Mal stellte sich die Frage nach Pozzo im Kontext seiner Zeit
und der konkreten Auftragsbedingungen: Werner Telesko verwies auf die
ungewöhnlich differenzierte, moralisch vieldeutige Darstellung des
Herkules, der eben nicht nur als klassischer Heros, sondern auch als
vielschichtige Gestalt mit durchaus kritischen, an Hybris und Verfehlung
grenzenden Züge gezeigt werde.

Herbert Karner schlug vor, die merkwürdige "Unverbundenheit" der drei
Sphären Herkules-Historie, Architekturrahmen und Götterhimmel in diesem
Fresko als eine bewusste Distanzierung dieser drei profanen Ebenen vom
Darstellungsmodus der unmittelbar mit der Quadratura verschmelzenden
Heiligenglorien desselben Meisters in seinen Sakralräumen zu deuten.

Abschließend ist zu erwägen, ob die Tagung den im Titel postulierten
Anspruch, "Neue Perspektiven anlässlich Pozzos 300. Todestages"
aufzuwerfen, tatsächlich einlösen konnte. Einige immer wiederkehrende
Themen erwiesen sich als durchaus strittige, offene, wenn auch vermutlich
nicht eindeutig beantwortbare Fragen: Da ist zum einen der Disput um
"punto stabile" oder "mobile", also die Frage, ob der exzentrische und
damit verzerrte Blick auf Pozzos Fresken ebenfalls ein angemessener, vom
Künstler intendierter sein könne. Ähnlich changierend erscheint der
Charakter des Fraters zwischen jesuitischer Oboedienz und geschicktem
Selbstmarketing. Schließlich wurden zahlreiche Fragezeichen hinter den
"Alleinstellungsanspruch" der Kunst Pozzos gesetzt, dessen Einbindung in
bzw. Abgrenzung von breiteren zeitgenössischen Strömungen der Fresko- und
Perspektivmalerei allenfalls skizziert werden konnte. Damit die
Pozzo-Forschung auch nach dem Ende des Jubiläumsjahr nicht auf dem
bisherigen "Punto stabile" stehenbleibt [2], ist die Drucklegung der
Wiener Beiträge sowie im Winter ein weiteres Kolloquium in Rom geplant.

Anmerkungen:

[1] Burda-Stengel, Felix: Andrea Pozzo und die Videokunst, neue
Überlegungen zum barocken Illusionismus. Mit einem Vorwort von Hans
Belting. Berlin 2001. Der Verf. war vor dem Erscheinen seiner
Dissertationsschrift verstorben.
[2] Vergl. hierzu Battisti, Alberta (a cura di): Andrea Pozzo. Milano /
Trento 1996.

Empfohlene Zitation:
Meinrad von Engelberg: [Tagungsbericht zu:] Andrea Pozzo (Wien, 16.–19.09.2009). In: ArtHist.net, 19.11.2009. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/32095>.

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