REV-CONF 12.03.2009

Blick im 21. Jahrhundert

Krems, 16.–18.10.2008

Bericht von Thomas Veigl, Donau-Universität Krems
Redaktion: Godehard Janzing

"Blick im 21. Jahrhundert". Zweite internationale
bildwissenschaftliche Konferenz 'Göttweig08', Donau-Universität Krems,
Department für Bildwissenschaften, 16.-18. Oktober 2008

Tagungsbericht des Veranstalters für H-ArtHist
Von Thomas Veigl

Die wachsende Zahl neuer technischer und sozialer Möglichkeiten,
Bildmaterial zu produzieren und zu verbreiten - von YouTube, über
Flickr bis zum virtuellen Raum - wird zunehmend mit der Forderung nach
einer Stärkung visueller Kompetenzen verbunden. Vor diesem Hintergrund
diente die Konferenz "Blick im 21. Jahrhundert" einer
Bestandsaufnahme, Klassifizierung und Historisierung der neuesten
Bildwelten in den Sphären der Öffentlichkeit, von Kunst und
Entertainment sowie den Naturwissenschaften. Hierzu führte sie
amerikanische Experten der Bildwissenschaften, wie Felice Frankel,
Barbara Stafford oder Michael Naimark mit deutschsprachigen
Vertretern, wie Marie-Luise Angerer, Oliver Grau oder Nikolay van der
Meulen zusammen.

Praktiken des kollektiven Schreibens, wie sie am prominentesten
Hypertext des Internets, der Wikipedia, sichtbar werden,
revolutionierten innerhalb einer Dekade den über Jahrhunderte
gefestigten Stand von Autorenschaft, Stil und ästhetischer Form.
Vergleichbare Entwicklungen stellte der Berliner Journalist und
Fotograf Stefan Heidenreich für die Welt des elektronischen Bildes
fest. YouTube und Flickr stehen stellvertretend für eine neue Form des
kollaborativen visuellen Prozesses, der zunehmend an Bedeutung
gewinnt. Die Transformationen, die dies im Bereich des Urheberrechts,
in den Institutionen der Kunst, in der populären Kultur und der
Wirtschaft nach sich ziehen, scheinen noch unklar. In der Diskussion
sah man jedoch auch Chancen einer zunehmenden Demokratisierung der
Bildpolitik. Diese Offenheit erfordert jedoch auch eine zunehmende
Kritikfähigkeit und Sensibilität im Umgang mit visuellem Material.

Trotz dieses fundamentalen Wandels in der Welt der Bildproduktion, der
von den professionellen bis in die privatesten Bereiche hin erkennbar
ist, hinkt die gesellschaftliche Rezeption diesen Entwicklungen
hinterher. Felice Frankel, Integrationsfigur der nordamerikanischen
Bildwissenschaften und Gründerin der "Image and Meaning"-Initiative,
forderte daher eine Intensivierung des Dialogs zwischen Natur- und
Kulturwissenschaften, Designern und Künstlern, um die Wirkung und
Funktion der Bilder in der Re-Präsentation von Wissenschaft deutlicher
zu kennzeichnen. Viele Visualisierungen, die in den geistigen Kanon
heutiger Gesellschaften eingegangen sind, wie das Atommodell,
entsprechen nicht dem Stand der Forschung und vermitteln ein falsches
Bild. Hier setzt die an der Harvard University verankerte Initiative
an, und entwickelt gemeinsam mit Wissenschaftlern, Journalisten,
Grafikern und Designern neue Methoden zu visueller Repräsentation
abstrakter Inhalte und einer verbesserter Kommunikation in die
Öffentlichkeit. [1]

Wie eng Bildpolitik und Kulturpolitik zusammenhängen zeigte Oliver
Grau, Professor für Bildwissenschaften an der Donau-Uni Krems.
Medienkunst, "die" zeitgenössische Kunstform schlechthin, werde immer
noch kaum von Museen gesammelt, sei nicht in angemessener Form an den
Universitäten angekommen und für eine nicht nordwestliche
Öffentlichkeit nahezu unzugänglich. Es drohe, so Grau, die Auslöschung
dreier Dekaden Kunstschaffens aus dem kulturellen Gedächtnis. [2] Er
plädierte für die Schaffung einer Enzyklopädie visueller Medien, die
ähnlich den großen Kartierungsprojekten in den Naturwissenschaften,
wie dem Human Genome Project, die Geschichte des menschlichen Sehens
und sein Verhältnis zur Evolution der Bildmedien verstehbar macht.
Mit dem Verlust zeitgeschichtlichen Materials beschäftigte sich auch
der Berliner Bildwissenschaftler Jan Henselder, der biographische
Interviews über die NS- und DDR- Vergangenheit digital archiviert und
für zukünftige Generationen bereitstellt. [3] Hierzu werden
Interviewsequenzen mit korrespondierendem Kartenmaterial verlinkt, um
so eine "Topographie der Erinnerung im virtuellen Raum" zu schaffen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Konferenz war die Frage nach dem
Erkenntnisgewinn durch technologische Visualisierungsverfahren für den
naturwissenschaftlichen Bereich. So demonstrierten die Mediziner
Dolores und David Steinman von der Universität Toronto aus ihrer
Praxis, dass die meisten Bilder, die Krankenhausärzte heute zu Gesicht
bekommen computergenerierte Interpretationen von Patientendaten seien.
Organische Prozesse sowie die Dynamik von Blutlaufbahnen entziehen
sich der menschlichen Anschauung, was computergestützte bildgebende
Verfahren für zeitgerechte Diagnose und Therapie unverzichtbar mache.
Die Herausforderung bestehe allerdings in der Integration
wissenschaftlicher Wahrheit, ästhetischer Trends und etablierter
wissenschaftlich-medizinischer Konventionen. Es sind heute
hauptsächlich Mediziner, die Entscheidungen darüber treffen, wie die
digitalen Messwerte visuell dargestellt werden. [4] Dieses bedingt, in
vielen Fächern, die den Umgang mit Bildern nicht gewohnt sind, bzw.
deren Ausbildung das Phänomen Bild nicht thematisieren, einen eher
naiven Umgang mit den neuen Bildformen, so die Organisatoren der
Konferenz. Die Diskussion unterstrich einmal mehr die Notwendigkeit
bildwissenschaftlicher Kompetenzen für den, durch technologische
Visualisierungsverfahren stark beeinflussten, naturwissenschaftlichen
Erkenntnisgewinn.
Nicolay van der Meulen, Bildwissenschaftler und Professor für
Kunstgeschichte in Basel, plädierte daher für eine angewandte
Bildforschung. Diese solle nicht nur die Repräsentation, sondern auch
die Generierung von Wissen durch visuelle Entwürfe und experimentelles
Design, das dem Erkenntnisgewinn dient, behandeln. Ein webbasiertes,
digitales Medium für die bildorientierte Forschung wurde in diesem
Zusammenhang von Martin Warnke, Leiter des Rechenzentrums an der
Universität Lüneburg, vorgestellt. "HyperImage" [5] erfüllt die seit
langem bestehende Forderung, visuelle Formen nicht semiotisch zu
behandeln. Beobachtungen an Bildern können so ohne vorherige
Verbalisierung, sozusagen ohne die Assimilierung des Sichtbaren an das
Lesbare , markiert, geordnet, publiziert und wissenschaftlich weiter
verwertet werden. [6]

Bereits zu Beginn der Konferenz fächerte der amerikanische
Medienkünstler Michael Naimark die Bildentwicklung von Google Earth
auf: Ungeachtet der Versprechen virtueller Realität sind viele in den
letzten Jahren entstandenen Applikationen, aufgrund des Mangels an
Kombinationen aus fotorealistischen und interaktiven Eigenschaften
nicht im Stande, den Rezipienten so zu involvieren, dass die Illusion
des Ortes spürbar wird. Harald Krämer, Universitätsdozent und
Medienproduzent, sah Verbesserungsbedarf bei der Dramaturgie von
Internetseiten. Der Rezipient solle durch ein Gefühl von Solidarität
und Empathie eingebunden werden, welches durch einen holistischen
Ansatz aus der Symbiose von Content, Navigation und Design erreicht
werden kann.
Die Rektorin der Kunsthochschule für Medien in Köln, Marie-Luise
Angerer, integrierte die vorgebrachten Problembereiche unter dem Titel
der affektiven Adressierung des Rezipienten digitaler Medien. [7] Die
Diskussion affektiver und emotionaler Adressierungen findet aktuell
breiten Boden, was, interdisziplinär praktiziert, zu einer Politik des
Affektiven führen kann und soll. Eine weitere Ebene brachte Barbara
Stafford von der Universität Chicago in die Diskussion ein. Die
Soziale-Gedächtnis-Hypothese sieht eine Bedingung für den
Aufrechterhalt gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Koordinierung
von individueller Bedürfnisbefriedigung und intersubjektiven
Verhalten. Zur Klärung der Funktionsweise dieser "gesellschaftlichen
Synchronisierung" plädierte sie für einen verstärkten Bezug auf
Aspekte assoziativer Kunst, in historischen und neuesten Bildwelten,
und spannte den Bogen von antiken Hieroglyphen bis zu hybriden Kollagen.

Als Ergebnis der Konferenz kann festgehalten werden, dass die
Hauptherausforderung zur Einlösung bildpolitischer
Demokratisierungschancen unserer Zeit im weiteren Ausbau visueller
Kompetenzen seitens der Rezipienten wie auch der Produzenten neuer
Bildwelten und digitaler Archivierungsprojekte liegt. Der Dialog
zwischen Künstlern, Geistes- und Naturwissenschaftlern bietet hierfür
die notwendige Plattform, von der aus Bildkompetenz weiterentwickelt
werden kann, um über die Ausbildungs- und neuen Forschungs- und
Lehrinstrumente in möglichst weite Bereiche unserer Gesellschaft zu
wirken.

Um diesem Anspruch jedoch nachkommen zu können scheinen Investitionen
in die Bereiche Errichtung und Betrieb digitaler Archive sowie
Sicherstellung und Ausbau bereits geschaffener, adäquater Lehrangebote
unerlässlich. Mit Règis Debray gesprochen, bedingt das geeignete
kulturelle Milieu die Möglichkeit der Übertragung medialer Inhalte,
und hier neuer, essenzieller Kulturtechniken. [8]

Eine Publikation der Ergebnisse ist in Vorbereitung. Die Fortsetzung
der Konferenzserie in Göttweig ist für 2010 geplant.

Anmerkungen:
[1] URL: www.imageandmeaning.org .
[2] Vgl. Oliver Grau: Media Art Histories, Cambridge, Mass. 2007.
[3] URL: www.zwangsarbeit-archiv.de .
[4] Vgl. Felice Frankel: Envisioning Science. The Design and Craft of
the Sciene Image, Cambridge, Mass. 2003.
[5] URL: www.hyperimage.org .
[6] Vgl. auch Règis Debray: Jenseits der Bilder, Rodenbach 1999.
[7] Vgl. auch Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt,
Zürich/Berlin 2007.
[8] Règis Debray: Einführung in die Mediologie, 2003.

Empfohlene Zitation:
Thomas Veigl: [Tagungsbericht zu:] Blick im 21. Jahrhundert (Krems, 16.–18.10.2008). In: ArtHist.net, 12.03.2009. Letzter Zugriff 03.12.2024. <https://arthist.net/reviews/31390>.

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