Vom 13. bis 16. November 2011 fand in Turin die internationale Tagung „Filippo Juvarra (1678-1736) Architetto dei Savoia, Architetto in Europa“ statt. Die bislang 3. Tagung der Reihe „Architettura e potere. Lo Stato sabaudo e la costruzione dell’immagine di una corte europea“ wurde von dem Consorzio La Venaria Reale, der Bibliotheca Hertziana, dem Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom und dem Politecnico di Torino in Kollaboration mit dem Palazzo Madama, Museo Civico di Arte Antica und dem Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea gemeinsam organisiert. Die drei Tagungsorte (Palazzo Madama, Venaria Reale und Castello di Rivoli) boten durch die örtliche Nähe bzw. die unmittelbare Anschauung des architektonischen Schaffens Juvarras einen idealen Rahmen. Es wurden in fünf Sektionen folgende Themenschwerpunkte gesetzt: „Filippo Juvarra il disgno e le arti“, „Filippo Juvarra e l’Italia“, „Filippo Juvarra e Veneria“, „Filippo Juvarra e l’Europa“ und schließlich „ Filippo Juvarra e Torino“. Dieser Beitrag erörtert die zentralen Fragestellungen und Hauptthesen der Tagung, wobei aus Platzgründen weder auf alle 40 Vorträge eingegangen noch deren Reihenfolge beibehalten werden soll.
Eine zentrale Fragestellung, die vor allem in den ersten beiden Sektionen zum Disegno Juvarras und seiner Tätigkeit in Italien wiederholt thematisiert wurde, war die Frage nach den Grundlagen seiner künstlerischen sowie akademischen und mathematischen Ausbildung und den Vorbildern, nach denen er sich richtete. Als Ausgangspunkt für Juvarras spezifische Fähigkeit, in klein dimensionierten und leichthändigen Zeichnungen die grundlegenden Qualitäten eines Baus und besonders dessen visuelle Wirkung festzulegen wurde von Laura Orsini sowie auch Claudio Franchi die Ausbildung Juvarras in der väterlichen Silberwerkstatt hervorgehoben, in der die Kunst einer vorausschauenden Planung des dreidimensionalen Objekts gelehrt wurde, die auch Juvarras architektonisches Schaffen auszeichnet. Giuseppe Bonaccorso hingegen betonte anhand der Planungen Fontanas für die Isola Bella im Lago Maggiore die Relevanz von Juvarras Ausbildung bei Carlo Fontana. Anhand einiger Projekte Carlo Fontanas zeigte er viele Qualitäten auf - etwa die urbanistische und landschaftliche Einbindung von Palastarchitektur –, die Juvarras eigene Architektur später auszeichnen sollten und ihm offenbar als wichtige Vorbilder dienten. Die Frage nach seiner theoretischen und mathematischen Ausbildung wurde gegen Ende der Tagung in der Sektion zu Juvarra in Turin von Rita Binaghi aufgegriffen. Sie sah eine mögliche Grundlage Juvarras mathematischer Ausbildung bei den Jesuiten in Messina, wo man zu dieser Zeit Architektur als angewandte Mathematik lehrte.
Juvarras großes szenografisches Oeuvre und dessen Grundlage in frühen autodidaktischen Studien bspw. der Stichwerke Andrea Pozzos wurde leider während der Tagung ausgespart. Ein weniger bekanntes Kapitel Juvarras früher künstlerischer Laufbahn ist der von Fulvio Lenzo untersuchte Aufenthalt in Neapel 1706 direkt nach seinem Triumph im Concorso Clementino im Jahre 1705. Er brachte treffsicherere Beispiele aus dem Zeichnungsmaterial, die eine Auseinandersetzung mit der neapolitanischen Architektur zeigten, schilderte die Zusammenarbeit mit Francesco Solimena bei dem Hochaltar von S. Martino in Neapel und die Inspiration durch Ferdinando Sanfelices innovative Treppenlösungen für eigene Projekte, etwa den Treppen des Palazzzo Spadafora in Messina. Ein gutes Beispiel für Juvarras konkreten Umgangs mit architektonischen Vorbildern zeigte Giuseppe Dardanello mit S. Uberto in der Venaria Reale. Er demonstrierte an dem ersten und dem schließlich ausgeführten Projekt für die Schlosskirche die große Nähe der Entwürfe zu Berninis Gestaltung von Sankt Peter, insbesondere der Vierungspfeiler, der Kathedra Petri und Berninis Altar in der Sakramentskapelle.
Juvarras eigene Lehrtätigkeit an der Accademia di San Luca in Rom wurde ebenfalls mehrfach angesprochen. Bedeutendstes Zeugnis seiner Lehrtätigkeit stellt der didaktische Zeichnungsband bzw. Lehrbuchentwurf „Galleria Architectonica“ dar, der in der Bibliotheca Reale in Turin aufbewahrt wird. Laura Cirri stellte im Vergleich mit den didaktischen Zeichnungen anderer Lehrer der Accademia heraus, dass Juvarra einen über die reine Säulenlehre weit hinausgehenden Anspruch mit seinen Lehrbuch verfolgte, in dem neben den Säulenordnungen auch Geometrie, Perspektive und eine Theorie der Schatten sowie die militärische Architektur mit Zeichnung und ausführlichen Erläuterungen versehen sind. Große Übereinstimmungen von Juvarras Zeichnungen aus der ‚Galleria Architectonica‘ und Abbildungen in zeitgenössischen Mathematik- und Perspektivtraktaten deuteten zudem Rita Binaghi zufolge auf eine gute Kenntnis sowie einen hohen Bedeutungsgrad dieser Schriften für sein Werk und seine Lehrtätigkeit. Eleonora Pistis führte durch die Untersuchung der Beziehung zu seinem Biographen, dem Schriftsteller und Gelehrten Scipione Maffei, Juvarras späteres intellektuelles Umfeld in Turin lebendig vor Augen. Sie zeigte die hohe Relevanz dieser Freundschaft und der Zusammenarbeit an einem ‚Museo Lapidario‘ an der Universität zu Turin, aus der sich ein für beide Seiten fruchtbarer Diskurs über römische Antiken und über die Architektur entwickelte und die schließlich Maffei dem Architekten mit der „Elogio del signor abate D. Filippo Iuvara Architetto“ (1738) ein literarisches Denkmal setzten ließ. Weniger bekannt und an dieser Stelle erstmals ausführlicher bearbeitet ist Juvarras Mitgliedschaft und Lehrtätigkeit bei der Turiner Accademia di San Luca ab 1716. Luigi Imperato stellte heraus, dass Juvarra dort eine wichtige Rolle spielte, engen Austausch mit der Accademia in Rom förderte und die Ausbildung der Nachwuchsarchitekten beeinflusste.
Dabei beschränkte sich Juvarras Einfluss nicht auf seine Schüler in der Accademia. Vielmehr beeinflusste er durch seine Werke und Zeichnungen zeitgenössische Architekten in Italien und ganz Europa. Schon bei seinem Einführungsvortrag hatte John Pinto anhand eines kenntnisreichen Vergleichs der Biographie Juvarras mit derjenigen Nicola Michettis, der gleichzeitig mit Juvarra bei Carlo Fontana ausgebildet worden und zeitweise Hofarchitekt Peter des Großen in Russland war, das Phänomen der Internationalität des römischen Spätbarocks anschaulich gemacht. Dadurch gelang der Hinweis, dass Juvarras internationale Tätigkeit kein Einzelfall war, er aber seine Zeitgenossen in seiner Wirkung weit übertraf obgleich viele seiner Pläne unverwirklicht blieben. Dies gilt auch für die Planungen Juvarras für die königlichen Residenzen in Lissabon (Walter Rossa/Giuseppina Raggi) und Madrid (Jose Luis Sancho), die zwar in großen Teilen über das Planungsstadium nicht herausgelangten, dennoch einen deutlichen und bleibenden Effekt auf die Architektur in diesen Ländern ausübten. Er beeinflusste aber nicht nur seinerseits sondern setze sich auch mit den Entwicklungen in der Architektur der von ihm bereisten Städte und Länder auseinander und nahm Kontakt zu der kulturellen, architektonisch wie musikalisch interessierten Elite auf, so etwa in London mit Lord Burlington und dessen illustren Kreis (Tommaso Manfredi).Offensichtlich war sein Ansehen im Ausland sogar noch höher als in seiner langjährigen Wirkungsstätte Turin. In Lissabon erhielt er von Johann V. von Portugal das wertvolle diamantenbesetze Kreuz des Cavalliere di Cristo, dass er mit viel Stolz trug und in seinen Porträts nach 1720 prominent dargestellt wird. Hingegen wurde Juvarra am savoyischen Hof bei den Ernennungen übergangen und auch nach seiner Rückkehr nicht mit dem Adelstitel angesprochen (Andrea Merlotti). Ein besonders interessantes Beispiel für Juvarras aktiv vorangetriebene europaweite Ausstrahlung sind die „Disegni di Prospettiva Ideale“ mit 41 perspektivischen Capricci. Sie gingen als Initiativbewerbung 1732 an August den Starken nach Dresden und dienten der gezielten Auftraggeberakquise. Cristina Ruggero, die für deren bevorstehende Erstpublikation verantwortlich zeichnet, verdeutlichte zudem, dass die Zeichnungen trotz ihres ‚kapriziösen‘ Charakters auch als Anregung für reale Architektur dienen konnten.
Durch eine Vielzahl an Einzelstudien weniger bekannter Werke in Italien, aber auch im Ausland wurde die ungeheure Vielschichtigkeit seiner Tätigkeit und Aspekte des Werkes Juvarras, die in der bisherigen Forschung weitgehend unbearbeitet blieben, ans Licht geholt. So etwa seine Idealprojekte für dem Garten der Villa Orsucci in Segromino bei Lucca (Alessandra della Nista) oder auch in der Veneria Reale (Paolo Cornaglia) und ihr Verhältnis zur der tonangebenden französischen Gartenbaukunst, aber auch die noch unpublizierten Pläne Juvarras zum Palazzo Martinengo Colleoni di Pianezza, der von Alessandro Brodini analysiert wurde. Hierbei wurden besonders das Atrium des Palastes und dessen stilistische Bedeutung für das künstlerische Umfeld in Brescia herausgearbeitet. Erkenntnisreich war auch die detaillierte Analyse von verschiedenen Projekten Juvarras für den Konklavepalast in Rom, bei dessen Analyse Giovanna Curcio Juvarras Fähigkeit herausstellte, auf die praktischen Anforderungen der komplexen, örtlich vorgegebenen Strukturen zu reagieren.
Juvarras Bedeutung als Kuppelbaumeister kam in mehreren Vorträgen nun erstmals in angemessener Breite zur Sprache. So konnte Roberto Caterino unter anderem an der Superga den Wiederaufgriff bestimmter Formen aus der Renaissance, aber auch eine Überwindung deren statischer Probleme verdeutlichen. Juvarras weniger beachtete Kuppellösungen für historische Gebäude, wie etwa die Kuppel von S. Andrea in Mantua, wurde von Mauro Bonetti analysiert. Er zeigte, wie Juvarra auf Lösungen Borrominis aufbauend in mehreren Etappen ein neuen Kuppeltyp mit steiler Silhouette und wenigen Belastungspunkten entwickelte, der geeignet war, die durch die historische Bausubstanz gestellten Probleme zu bewältigen. Irene Giustinias und Elisa Salas Vorstellung von Juvarras Beratertätigkeit bei der Überkuppelung des Doms in Brescia sowie Andrea Spiritis Erläuterung der historischen Hintergründe des Kuppelbaus des Doms von Como bereicherten das Bild Juvarras vielseitiger Tätigkeiten um den Aspekt des landesweit gefragten Wölbungs-Fachmanns, der auf historische Architektur und statische Probleme gezielt zu reagieren wusste.
Zum Abschluss der Tagung wurde Juvarras umfangreiches Schaffen in Turin zum Thema. Costanza Roggero zeigte anhand großer Straßengrundrisse die teilweise recht drastischen Eingriffe in das Stadtbild, in das er durch Straßenverbreiterungen und Abriss vorhandener baulicher Substanz eingriff und es anderseits durch eigene Bauten, etwa die Treppenhausfassade des Palazzo Madamas oder auch die auf Fernwirkung konzipierte Votivkirche Superga bleibend prägen sollte. Dem symbolischen Gehalt der Turiner Werke widmeten sich Cornelia Jöchner und Elisabeth Wünsche-Werderhausen. Jöchner untersuchte die Superga in ihrer Funktion als Votivkirche bzw. „Dinggedächtnis“ hinsichtlich der herrschaftlichen Repräsentation und architektonischen Typologie und verglich sie mit anderen Votivkirchen, etwa der Karlskirche in Wien. Wünsche-Werderhausen deutete das stilistisch und formal altertümliche Castello di Rivoli und seine ungewöhnlichen Aufteilung in vier Appartements als Symbol des ehedem umkämpften savoyischen Herrschaftsanspruchs und die 2 überzähligen Appartements in Analogie zu Residenzen im Kaiserreich als Gästewohnung für den Kaiser und dessen Gemahlin, was möglicherweise nach der Verschlechterung der Beziehung zum Kaiserreich 1719 zur der Einstellung der Bauarbeiten geführt habe.
Das straff organisierte Programm von 41 jeweils halbstündigen Vorträgen in italienischer Sprache führte zu einer breitgefächerten Darstellung der Werke Juvarras und der durch sie aufgeworfenen Fragen. Bedingt durch die Dichte des Programms blieb dabei leider keine Zeit für Fragen und Diskussionen zwischen den Vorträgen, die für eine weitere Systematisierung der Forschungsergebnisse zu Juvarra allerdings sehr wünschenswert gewesen wären. Dennoch entstand ein facettenreicher Überblick zu den künstlerischen Wurzeln Filippo Juvarras in der Silberschmiedekunst, seiner akademischen Ausbildung, aber auch seiner eigenen Lehrtätigkeit an der Accademia di San Luca in Rom und Turin. Die sorgfältigen Analysen weniger bekannter Projekte in italienischen Städten und im europäischen Ausland sowie seiner prägenden Tätigkeit in Turin ergänzten das eindrucksvolle Bild seiner außerordentlichen Vielseitigkeit und internationalen Wirkung. Die angekündigten Tagungsakten werden somit einen wichtigen Beitrag zur Juvarra-Forschung und neue Ausgangspunkte für die weitere Forschung bieten.
Empfohlene Zitation:
Anna Bülau: [Tagungsbericht zu:] Filippo Juvarra (1678-1736) Architetto dei Savoia, Architetto in Europa (Turin, 13.–16.11.2011). In: ArtHist.net, 21.03.2012. Letzter Zugriff 22.12.2024. <https://arthist.net/reviews/2948>.
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