REV-EX 10.03.2010

Jean-Antoine Houdon. Die sinnliche Skulptur

Frankfurt am Main, Liebieghaus Skulpturensammlung, 29.10.2009–28.02.2010

Rezensiert von Spickernagel Ellen, Frankfurt a.M.
Click to enlarge

Die Frankfurter Ausstellung umfasst je zur Hälfte rund 40 Porträtbüsten von Jean-Antoine Houdon (1741 – 1828) und von Bildhauern seiner Zeit, wie Jean-Baptiste Pigalle, Augustin Pajou, Jean-Baptiste II Lemoyne. Dargestellt sind hervorragende Persönlichkeiten der Aufklärung, Diderot, Voltaire, Rousseau, Gluck, aber auch Napoleon I. und Marie-Adelaide de France. Eine Ausnahme bildet die weibliche Figur des Winters, genannt Frileuse, in Marmor und in Bronze. Ihren Kopf und Oberkörper bedeckt ein Tuch, während der Unterkörper unverhüllt ist. Sie war ursprünglich als Allegorie des Winters ein Pendant zum Sommer, aber nur sie, nicht ihr gleichfalls ausgestelltes Gegenstück, wurde in zahlreichen Repliken verbreitet. Plakat, Flyer und Feuilletons bilden die "Frierende" - auch als Halbfigur oder Kopf - unter dem Label "sinnliche Skulptur" ab, so als ließe sich das Publikum nur durch Boulevardisierung in eine Ausstellung künstlerisch anspruchsvoller Skulpturen locken.

Kein anderer Künstler hat unser Bild vom Wissenschaftler, Künstler, Philosophen so nachhaltig geprägt wie Houdon. Mit zahlreichen Wiederholungen und Varianten in Marmor, Bronze, Terrakotta, patiniertem Gips erfüllten er und sein Atelier die starke Nachfrage der neuen bürgerlichen Öffentlichkeit nach ihren hervorragenden Repräsentanten. Mit den Bildnissen stellt die Schau zugleich die Fülle der Werkstoffe, die auch der Katalogbeitrag von Guilhem Scherf erläutert, vor Augen.

Angesichts der außerordentlichen Bedeutung, die den "Gesichtern Houdons"[1] zukommt und der marginalen Stellung der "Frierenden" erwartet man eine entsprechende Präsentation, trifft aber auf eine bizarre Akzentverschiebung. Im ersten Raum ist nur eine einzige Skulptur exponiert – die Frileuse in der Bronzefassung besorgt den effektvollen Auftakt der Schau. Den Marmor-Pendants (1783-85) wird nochmals ein großes Kompartiment ohne weitere Exponate zugeteilt. So wird das Museum wieder einmal zu einem Musentempel mit Göttin überhöht - die allerdings für Houdon und seine Zeitgenossen nichts anderes als eine erotisch animierte Genreplastik war.

In Nebengelassen sind plastische Werke, Gemälde und grafische Blätter allein zu dem Zweck angehäuft, die "sinnliche Skulptur" zu erklären und zu kommentieren, aber nur im Hinblick auf die bedeckte Körperhälfte. In den anderen Räumen jedoch ist, ohne didaktisches Material beizufügen, jeweils eine begrenzte Anzahl von Bildnisbüsten einzeln aufgestellt oder zu kleinen Gruppen versammelt, so dass sie auf unaufdringliche Weise männliche Individualität und Egalität im Sinn der Aufklärung vermitteln. Das hohe Potential von visueller Evidenz in den Porträts bedarf nicht – so suggeriert es die Inszenierung – der Erklärung: Das Männerbild der Aufklärung ist zeitlos gültig.

Houdon wechselte den Adel gegen die intellektuelle Elite aus und die Repräsentation ständischer Bedeutung gegen die des Geistes; die von ihm Porträtierten verdanken ihren Rang der eigenen künstlerischen und intellektuellen Leistung. Es gab noch keine Porträtkonvention für die Sichtbarmachung dieser männlichen Potenz, erst Houdon entwickelte die Zeichen der Genialität in Verbindung mit dem obsessiven Interesse seiner Zeit an der Physiognomik, die die Wahrheit des einzelnen Menschen jenseits gesellschaftlicher Verstellung aufzudecken versprach. Die Porträtbüste bevorzugte den "Sitz des Geistes" und schloss den männlichen Körper aus. Es ist bezeichnend, dass in Ausnahmen, wie der berühmtesten seiner Skulpturen, der Ganzfigur Voltaires - in der Ausstellung die Terrakotta-Statuette von 1778 - der ausgezehrte Körper des greisen Philosophen in weiten Gewanddraperien versinkt, die eingefallenen Gesichtszügen aber "Feuer" und "Ruinenzauber" besitzen, wie Grimm und Diderot schreiben (Ausstellungskatalog S.120, Sauerländer, S.42).

Der Verismus in Willibald Glucks Bildnis (1775, Gips, bronzefarben patiniert) ist oft hervorgehoben worden. Die Pockennarben auf seinen Wangen wirken wie ein schwaches Echo der tief in den Mantel eingegrabenen Schraffuren. Doch der Blick des Komponisten ist über jede Trübung erhaben, er scheint sich in jenen Raum zu richten, den er zum Klingen bringt. Comte de Buffon, der durch seine "Histoire Naturelle" in 45 Bänden zum einflussreichsten Naturhistoriker des 18. Jahrhunderts wurde, rechnete, bei aller Eleganz der Frisur, nicht mit der Beschönigung seiner etwas groben Züge mit der fleischigen Nase und dem stämmigen Hals. Die Bronzebüste von 1781 verbindet ein ausgeprägtes Volumen und Festigkeit im Bau mit den Zeichen innerer Bewegung. Die sensible Oberflächenmodellierung, die senkrecht eingegrabene Stirnfalte, die leicht geöffneten schmalen Lippen und vor allem der sichere, entschieden von den Betrachtern abgewendete Blick, der keine Kommunikation mit den Betrachtern sucht, charakterisieren das autonome männliche Subjekt. Für die Büste des Marquis von Condorcet, Mathematiker und Mitglied des Nationalkonvents, wählte Houdon eine zeitgemäß elegante Kleidung. Sein ebenmäßiges, großflächig dimensioniertes Gesicht ist weich modelliert; auch er wendet Kopf und Augen in die gleiche Richtung, so als ob es keinen Widerspruch zwischen Körper und Geist geben könnte. Die Durchlässigkeit der naturalistisch gegebenen Physiognomie zu dem, was Gelehrte und Künstler produzieren, kennzeichnet Houdons Konzeption des Genies.

Bei weiblichen Bildnissen kam die Verknüpfung von Verismus und Überhöhung nicht in Frage. Für Fürstinnen verlangte die Gattung jene idealen und repräsentativen Formen, wie Marie-Adelaide de France sie besitzt (Marmor, 1777). Auf Rollenbilder von Schauspielerinnen, deren Ausdruck von Empfindung und Leidenschaft Houdons geschlechtsspezifische Festlegung physiognomischer und mimischer Prägungen verdeutlichen könnte, verzichtet die Ausstellung. Sie nimmt jedoch auch den eindrucksvollen Köpfen durch die Lichtführung zu viel von ihrer Wirkung. Grelle Spots zerreißen das feine Licht- und Schattenspiel, das ihre viel gerühmte Lebendigkeit hervorruft.

Da die Besucherin in all diesen Exponaten die Titel gebende "sinnliche Skulptur" nicht zu erkennen vermag, erwartet sie anhand der "Frierenden" eine Erhellung dieser ästhetischen Kategorie – doch vergeblich. Auch der einführende Katalogbeitrag listet nur zahlreiche Interpretationsansätze auf, ohne eine klare These im Zusammenhang der Gender-Debatten des 18. Jahrhunderts, in die Houdon so entschieden eingriff, anzubieten.

Die Jahreszeiten-Pendants waren für die Bibliothek eines Pariser Stadthotels bestimmt (Höhe: 145 cm). Die Unterschiede sind eklatant: Der Sommer – eine bekleidete, mit Attributen überfrachtete Gestalt, der Winter - halb nackt, ohne allegorische Verweise. Den Rücken der einen bedeckt ein auffällig schematisch behandeltes Gewand, die andere zeigt ein klar und kräftig modelliertes Gesäß, vorsätzlich akzentuiert durch die leichte Beugung, die eine als Statuenstütze dienende Vase veranlasst. Wirkt der Marmor hier etwas stumpf, ohne stoffliche Differenzierung, so steht er dort im Dienst einer effektvollen sinnlichen Darbietung von Schleier und Körper. Es ist offensichtlich, dass der Bildhauer die tradierte, bereits obsolete Allegorie zitiert, um vor dieser Folie einen anderen Blick auf den weiblichen Körper zu konstruieren. Die ausstellungsdidaktischen Maßnahmen lassen jedoch die spektakuläre Entblößung außer Acht. Eine Jahreszeiten-Folge von Boucher (1755) belegt zwar, dass er die Serie zu wechselnden erotische Vergnügen umdeutete, aber statt diesem Hinweis nachzugehen, drängen Wandtexte und Exponate, die auf die Verhüllung der Frierenden fixiert sind, dem Publikum das Thema weiblicher Trauer, Melancholie und Scham auf. Mittels des großen Umhangs sollen so heterogene Beispiele wie eine an der Urne Trauernde und das Motiv "Tod und Mädchen" die Verwandtschaft mit der "Frierenden" belegen. Skandalös aber ist es, in Sichtweite zur Frileuse eine Pieta des Liebighauses (15. Jahrhundert) zum Vergleich der Trauerempfindung aufzustellen. Die Intimität eines Kabinetts wird genutzt, um mit Greuzes "Mädchen, das sein totes Vögelchen betrauert" und dem "Zerbrochenen Krug" die Aufmerksamkeit auf das Thema der verlorenen Unschuld zu richten, als läge hier der Schlüssel für Houdon. So wird das Publikum vom Unterleib abgelenkt, der gleichwohl den Blick fesselt.

Dabei liegt es auf der Hand, dass die pornografische Dimension der Skulptur in Bildern wie Bouchers "Ruhendem Mädchen" (1752), Fragonards "Gimblette" und erotischen Grafiken des 18. Jahrhunderts vorgegeben ist. Sie entleihen ihre sexuelle Wirkung dem "Urbild" der "Venus Kallipygos" - das Liebieghaus besitzt eine im Katalog abgebildete, aber nicht ausgestellte Bronzeversion aus dem 16. Jahrhundert. Neben solchen Bildern und der "Schönhintrigen Venus" würde die Hauptfigur der Schau als Ganze in den Blick genommen und die eklatante Teilung des Körpers ließe sich reflektieren, geht es doch hier um den Diskurs der Kunst in Bezug auf Weiblichkeit und Sinnlichkeit.

Houdon stimulierte einerseits die Schaulust am weiblichen Körper und folgte andererseits der bürgerlichen Ästhetik, die den direkten Blick auf Nacktheit im Namen der Moral untersagte. Seit den 60er Jahren feierte Diderot in den "Salons" Greuzes "bürgerliches Genre" und die neue Lust, im Anblick der sittsam bekleideten jungen Frauen ihren unbekleideten Körper zu imaginieren. Sinnliche Empfindung wurde zu einer Leistung der Phantasie erklärt. Houdon jedoch deutete die Kleinform des Genre satirisch, der Bruch in der Statue forderte zwei Rezeptionsweisen heraus – den offenen, schamlosen Blick und die sinnliche Vorstellung.

Anmerkung:
[1] Vgl. Willibald Sauerländer, Ein Versuch über die Gesichter Houdons. München und Berlin 2002.

Bückling, Maraike; Houdon, Jean-Antoine (Hrsg.): Jean-Antoine Houdon, München: Hirmer Verlag 2009
ISBN-13: 978-3-7774-2332-6, ca. EUR 48.00, ca. EUR 49.90

Empfohlene Zitation:
Spickernagel Ellen: [Rezension zu:] Jean-Antoine Houdon. Die sinnliche Skulptur (Frankfurt am Main, Liebieghaus Skulpturensammlung, 29.10.2009–28.02.2010). In: ArtHist.net, 10.03.2010. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/289>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^