REV 20.03.2012

Jan von Brevern: Blicke von Nirgendwo

Rezensiert von Joseph Imorde, Universität Siegen
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Es gibt nicht nur Bilder für die Geologie, sondern – und das führt Jan von Brevern in seinem Buch „Blicke von Nirgendwo“ vor Augen – auch eine Geologie der Bilder. Denn neben unzähligen anderen Attributen haben Bilder unzweifelhaft auch die Eigenschaft sich abzulagern, sich in Strukturen und Systemen aufzufalten. Sie werden nicht selten zu heuristischen Landschaften geformt und türmen sich hier und da selbst zu Bergen auf. Der Bildwissenschaftler kann, ja er muss da zum Geologen werden, wo er der wechselvollen Historie bildnerischer Sedimentierung nachgeht und die überlieferten und bis heute sichtbaren Spuren politischer, sozialer und technologischer Kataklysmen im Kleinen nachgeht, um sie dann im Großen zu organisieren. Die bildwissenschaftliche Erzählung, die hier anhand dreier Fallstudien ausgebreitet wird, bietet – so könnte man sagen – einen Blick in die wechselvolle Geschichte epistemischer Übersetzungsarbeit. Konkret geht es um Bilder der Alpen, das heißt um Versuche, die häufig konstatierte Unordnung der Berge durch immer wieder neue und immer wieder andere technische, mediale und dadurch auch theoretische Systematisierungsanläufe in den Griff zu bekommen. Die vorgestellten Protagonisten, Aimé Civale, John Ruskin und Eugène Viollet-le-Duc, sind deshalb vergleichbar, weil sie – jeder für sich – am Rande der sich langsam formierenden Fachwissenschaft Geologie stehen. Sie teilen auch das gemeinsame Schicksal, keine bleibenden Spuren in den Erdwissenschaften hinterlassen zu haben. Die fotografisch und zeichnerisch dargebotenen Forschungsergebnisse der drei Amateurwissenschaftler sind seit langem überholt und haben sich, wie so viele bildgebende Verfahren in den Naturwissenschaften, als pure Konstruktionen herausgestellt. Atemberaubend ist aber zu beobachten, mit welchem praktischen Einsatz und auch mit welcher theoretischen Fortune man sich dem Gegenstand anzunähern verstand und mit welchen fantastischen Vereinfachungen man den Bergen um und nach 1850 zu Leibe rücken konnte.

Besonders die Fotografien von Aimé Civale sind Zeugnisse ikonischer und damit auch theoretischer Unschärfe – und das in einem ganz buchstäblichen Sinne. Das Bild „Les Aiguilles Rouges“ aus dem Jahr 1861 lässt unmittelbar deutlich werden, wie weit die wissenschaftlichen Erwartungen und ihre technische Realisierbarkeit in der Alpenfotografie der damaligen Zeit noch voneinander entfernt waren. Dabei verband Civale mit dem Unternehmen die gewaltigsten Hoffnungen. Der Autodidakt hatte sich nichts weniger vorgenommen, als die Alpen in ihrer Gesamtheit aufzunehmen, bestenfalls in 360° Panoramen, von denen dann auch 41 entstanden, in mehr als zwei Jahrzehnten Arbeit. Das war alpine und fotografische Grundlagenforschung auf allerhöchstem Anspruchsniveau. Das Projekt zielte auf die Verfertigung eines Inventars der Alpen, um dieses dann den Erdwissenschaften als Arbeitsgrundlage bereitzustellen. Der mit den damaligen Mitteln und Ressourcen unausführbare Plan ging dabei von äußerst positivistischen Voraussetzungen aus. Die bildlichen Ergebnisse sollten Objektivität, Vergleich- und Überprüfbarkeit bieten. Doch machten diese Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens in der dünnen Luft des Buet auf 3090 Metern Höhe einige Probleme. Civales Bild der „Aiguilles Rouges“ lässt erkennen, dass die alpine Wirklichkeit sich ihrer fotografischen Aufnahme und bildlichen Wiedergabe in verschiedenster Weise zu wiedersetzten verstand, hier konkret durch die Eintrübung des eigentlichen Bildhelden, des Mont Blanc. Die vor Ort erzielte Unschärfe lässt sich aber nicht einseitig als ein Scheitern am Gegenstand deuten, sondern muss – und darauf macht Jan von Brevern aufmerksam – auch in ihrer epistemischen Offenheit und Anschlussfähigkeit gewürdigt werden. Klarheit und Schärfe sind auch in den Erdwissenschaften nicht die einzigen Kriterien gelungener Bildproduktion. Der Wert einer Aufnahme musste sich (und muss sich noch immer) mit dem entsprechenden Gebrauch einstellen, das heißt mit den sehr unterschiedlichen Referenzsystemen, in die der jeweilige Betrachter, Nutzer oder Interpret die Fotografie oder die Zeichnung einzuordnen beliebt. Fehlende Objektivität und Unschärfe konnten und können zur Tugend werden, wo nach den ästhetischen und epistemischen Potentialen von Fotografien gefragt wird, oder auch da, wo man die Rätselhaftigkeit fotografischer Aufnahmen als Tugend feiert. John Ruskin vertrat die bemerkenswerte Meinung, dass unscharfe Bilder nicht etwa von Nachteil seien, sondern man sie im Gegenteil als Ausdruck eines generellen, geradezu anthropologischen Wahrnehmungsproblems betrachten müsse, denn nichts in der Welt sehe man wirklich deutlich – „we never see anything clearly“. Hier war die kategoriale Unterscheidung von Sehen und Erkennen gemeint. Natürlich war in den Alpen vieles zu sehen und auch alles mögliche zu beobachten, ohne dass man dabei irgendetwas Umfassendes wirklich begreifen musste. In der sich oft einstellenden Unschärfe fotografischer Aufnahmen, in der mit jedem Bild notwendig auch gegebenen Reduktion der Wirklichkeit auf etwas viel weniger Kontingentes, sah Ruskin eine Chance. Denn erst das ikonische Defizit machte das sichtbar, was man vor Ort möglicherweise überhaupt nicht wahrgenommen hatte oder was dort einfach mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Das distanzierte Bild brachte im besten Falle das Wesentliche der Formen zur Anschauung, das heißt die großen Linien – „the leading lines“. Ruskin interessierte sich in den Bergen deshalb auch wenig für einen einzigen, idealen Standort, sondern umwanderte zum Beispiel das Matterhorn, um sich persönlich mit der Relativität medial verbreiteter Ansichten vertraut zu machen. Das fotografische Bild war dem Theoretiker kein unfehlbarer Referent der Wirklichkeit mehr, sondern wurde ihm zum Instrument der Erkenntnisgenese, ein Werkzeug dazu, neue Bilder und damit größere Theorien zu fabrizieren. Bilder stellen in diesem Sinne nicht mehr nur Inventare des Sichtbaren bereit, sondern sie sind selbst nun die Gegenstände, mit denen Sichtbarkeit erzeugt und Sinn generiert wird. Hier liegt das synthetisierende Potential methodisch reduktiver Ideo-logie – vielleicht am radikalsten von Eugène Viollet-le-Duc in Bezug auf die Alpen angewendet. Viollet-le-Duc wird von der Idee – der geradezu fixen Idee – getrieben, in den Bergen Spuren ehemaliger Regelhaftigkeit erkennen zu wollen. Für den Architekten sind die Alpen Ruinen, deren ursprüngliche Form er durch die strikte Anwendung zeichnerischer Mittel sich zu rekonstruieren bemüht. Zur Systematisierung der gegebenen Unordnung und zur Wiederherstellung des Urzustandes wird selbst ein Instrument zum Einsatz gebracht, die Camera lucida. Dieses Werkzeug bietet dem Architekten den Vorteil, die Details weitestgehend unbeachtet lassen zu können, um sich dafür auf die großen Umrisse der Gegenstände oder auch die übergreifenden Linien der Topografie zu konzentrieren. Viollet-le-Duc findet mit Hilfe des so genannten „Téléiconographen“ in den Bergen, was er finden will, nämlich die geometrischen Linien eines ehemaligen Idealzustandes und das in der von ihm bevorzugten geometrischen Form – dem Rhombus. Die „technischen“ Zeichnungen des großen Restaurators behaupten zwar ein induktives Verfahren, gehen aber ganz im Gegenteil von stärksten Prädispositionen aus. Erst die in die Wirklichkeit hineinprojizierte Vorstellung zwingt die Berge in eine Ordnung und verfestigt durch anschließende bildnerische Übersetzungsarbeiten die vorausgesetzte Hypothese dann zur alles erklärenden Theorie. Die einzelnen Untersuchungsgegenstände werden dabei absichtsvoll dekontextualisiert. Die strikte Reduzierung auf Umrisslinien und geometrische Formen nimmt den Bergen notwendigerweise ihre Individualität, gibt ihnen dafür aber etwas anderes, ihre allgemeingültige Form. Autopsie kann bei dieser Art der Offenlegung von Regeln generalisierendster Art nur schaden. Das Entscheidende der Beobachtung ist die bewusste, die methodische und die systematisierte Distanznahme. Diese materialisiert sich bei den drei behandelten „Bildermachern“ in den fotografischen oder auch zeichnerischen Versuchsanordnungen. Bilder stellen der Unordnung der Berge, das heißt der Kontingenz einer vollkommen unverstandenen Welt, das scheinbar Konstante entgegen, nämlich die Unveränderbarkeit des bildlichen Präparats. Erst unter der positivistischen Prämisse ihrer ikonischen Konstanz können auch die größten Gegenstände bearbeitet und verstanden werden. Erst unter der Bedingung ihrer Mediatisierung kann ihnen Mobilität, Volatilität, ja Überallheit zukommen. Es ist die Festlegung auf das Bild als dem eigentlichen Gegenstand der Untersuchung, die nun als Grundlage für die Einlösung der Kriterien positivistischer Wissenschaft dient. „Blicke von Nirgendwo“ behandelt in diesem Sinne die epistemische Macht und referentielle Potentialität von Bildern. Das Buch analysiert und diskutiert die weitreichenden Probleme der Bildproduktion und des Bildergebrauchs im 19. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf die Hoffnungen und Zweifel, die „Bildermacher“ dem neuen Medium der Fotografie entgegenbrachten.

Was Jan von Brevern an den Erdwissenschaften entwickelt, lässt sich, und das scheint einer der wichtigsten Aspekte des Buches zu sein, leicht auf andere Fächer übertragen. Gerade die sich parallel als Universitätsfach entwickelnde Kunstgeschichte durchlebt mit der Erfindung der Fotografie und mit der damit verbundenen Entwicklung der Reproduktionsindustrie einen positivistischen Schub. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich dem Fach erst mit den neuen technischen Wiedergabe- und Reproduktionsverfahren die Möglichkeit bietet, den geschilderten Paradigmen materialistischer Wissenschaftlichkeit zu entsprechen, das heißt Objektivität zu behaupten und Überprüfbarkeit in nachhaltiger Weise zu gewährleisten. Durch die Festschreibung ihres dokumentarischen Wertes wurde die Fotografie zum wichtigsten Instrument für Forschung und Lehre. Um einer wissenschaftlichen Betrachtung permanent zugänglich zu sein und gleichzeitig der unterweisenden Beschäftigung zur Verfügung zu stehen, brauchte es sowohl das Herauslösen des Artefakts aus dem lokalen und kulturellen Zusammenhang, wie dann auch das mediale Ablösen der Betrachtung vom Original. Der mit der technischen Reproduzierbarkeit notwendig einhergehende Schwund nachvollziehbarer Kontextualität und begreifbarer Materialität hat in der Kunstgeschichte – ganz ähnlich wie in der Geologie – zu kompensatorischen Schüben geführt, die sich als Prozesse wissenschaftlicher, häufiger aber ideo-logischer Reinformierung beschreiben lassen. Diesen Reinformierungen dient die Armut der fotografischen oder zeichnerischen Wiedergaben dazu, einen vermeintlichen Reichtum zu synthetisieren, der notwendigerweise nicht in den Gegenständen, sondern vor, neben oder hinter ihren Reproduktionen liegt. Das dem Kontext entrissene Bild nötigt den kunsthistorischen (und geologischen) Betrachtern – seien es nun Wissenschaftler oder Amateure – neue Funktionsbestimmungen ab. Diesen kompensatorischen Reinformierungen ist die mediale Fernstellung des Gegenstandes Anlass dazu, artifizielle Kontexte zu generieren – tiefere Sinne zu konstatieren oder auch höhere Ordnungen zu beschwören. Es ist nicht das kleinste Verdienst des Buches „Blicke von Nirgendwo“ auf die so buchstäblich ideo-logischen Hintergründe der Bildproduktion im 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht zu haben.

Brevern, Jan von: Blicke von Nirgendwo. Geologie in Bildern bei Ruskin, Viollet-le-Duc und Civiale (= eikones), Paderborn [u.a.]: Fink 2012
ISBN-13: 978-3-7705-5169-9, 311 S., [4] Bl (Leporellofalt.), ca. EUR 37.90

Empfohlene Zitation:
Joseph Imorde: [Rezension zu:] Brevern, Jan von: Blicke von Nirgendwo. Geologie in Bildern bei Ruskin, Viollet-le-Duc und Civiale (= eikones), Paderborn [u.a.] 2012. In: ArtHist.net, 20.03.2012. Letzter Zugriff 18.04.2024. <https://arthist.net/reviews/2868>.

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