Gefühl als Gesetz – das ist so etwas wie eine Maxime Caspar David Friedrichs, die zumindest zwei Mal in seinen um 1830 entstandenen „Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern“ angeführt wird. [1] Angesprochen ist mit ihr dort die innere Korrespondenz von "reiner" Empfindung und Natur. Sie dient dazu, eine Nachahmungsästhetik in die Schranken zu weisen und dem Künstler ästhetische Lizenzen einzuräumen, die ihn von einer bloßen Nachahmung der Natur genauso freistellen wie von der Nachahmung kanonischer Vorbilder der Kunstgeschichte. Der Künstler darf, ja muss laut Caspar David Friedrich in die Natur „hinein sehen“, will er den geistigen Gehalt der Natur erkennen, aufnehmen und wiedergeben. Es geht bei dieser Operation nun keineswegs um eine Verabsolutierung des Künstler-Ichs, sondern vielmehr um eine Synchronisation seines inneren Gefühls mit der Natur. Ist diese Harmonisierung hergestellt, entsteht eine Kunst, die sich weder an den Regeln der Tradition, noch an der Akkuratheit ihrer Abbildungsqualität, genauso wenig wie an der Qualität ihrer Ausführung messen lässt, sondern ihren Wert einzig und allein darin findet, die Wahrheit der Natur anschaulich zu machen.
Helmut Börsch-Supan hat solche kunstreligiösen Ideen über die metaphysische Natur des Menschen und der Natur sich zu eigen gemacht und als Titel eines Buches gewählt, das in Identifikation mit seinem Gegenstand diese Kunstdoktrin Caspar David Friedrichs verteidigen und zur Grundlage der Beschäftigung mit ihm machen möchte. Nach seinem auf Vorarbeiten von Karl Wilhelm Jähnig beruhenden ¼uvrekatalog von 1973 und der parallel erschienenen und seitdem mehrfach neu aufgelegten Monographie legt Börsch-Supan damit nun keine neue, übergreifende Darstellung des Werkes von Friedrich vor, sondern eher so etwas wie kleinere Streifzüge durch Friedrichs Welt. Annonciert wird das Buch als eine Untersuchung speziell zu zwei von Friedrichs Bildern: dem ‚Großen Gehege’, das sich heute in der Galerie Neue Meister in Dresden befindet, und den ‚Kreidefelsen auf Rügen’, die das Museum Oskar Reinhart in Winterthur aufbewahrt. Wer sich jedoch hierzu neuere Einsichten oder auch nur längere Ausführungen verspricht, sieht sich enttäuscht. Beide Bilder dienen eher als Aufhänger für Ausführungen, die von dort aus in die verschiedensten Richtungen und zu zahlreichen anderen Werken des Malers schweifen. Es ist daher schwer zu sagen, mit was man es bei diesem Buch genau zu tun hat. Weder handelt es sich dabei um eine kohärent geschriebene Untersuchung noch um eine Sammlung von Aufsätzen. Eher um eine Zusammenstellung einzelner Kapitel, die gelegentlich die Form von Exkursen annehmen. Am ehesten lässt sich das Buch somit als eine Art Supplement zu den zahlreichen anderen Friedrich-Publikationen des Autors charakterisieren, der hier in Form von Nachträgen und Neuanläufen seine früheren Ausführungen zu dem Künstler gleichsam anreichert, partiell verbessert, abschwächt oder an sie erinnert. Vor allem aber ist es eine Art von Verteidigungsschrift in eigener Sache. Der Autor revidiert nicht seine älteren Einsichten, sondern aktualisiert sie aus dem Rückblick. Stellenweise gerät ihm das zur Kampfschrift gegen die neuere Forschung, von der er nur weniges gelten lässt. Börsch-Supan kämpft gegen die Partei der „Sinnoffenheit", deren Vertreter er als unfaire Gesellen diffamiert, die "ihre Übermacht zu behaupten wissen" (S. 226). Gemeint sind damit offenbar im Wesentlichen die Kontrahenten Werner Busch und Hilmar Frank. Aber immer auch jene „auf Ideologisierung“ bedachten Kunsthistoriker der „siebziger Jahre“, die Friedrich „zum Vorkämpfer ihrer eigenen Anschauungen machen wollten und daher die Verankerung seines Denkens in christlich geprägter Moral leugnen mussten“ (S. 50). Sicherlich ist es zutreffend, dass Friedrich protestantischer Christ war. Und es ist nachvollziehbar, wenn ein Kunsthistoriker aufgrund des eigenen protestantischen Bekenntnisses hier eine besondere Affinität empfindet. Daraus aber lässt sich schwerlich das Recht ableiten, den Künstler zum Vorkämpfer allein der eigenen Anschauungen machen zu können. Zum kulturkritischen Rundumschlag wird der Text dann, wenn von „modernen Menschen“ die Rede ist, wobei das „modern“ in Anführungsstriche gesetzt wird, was die Selbsttäuschung dieser Spezies anzeigen soll, handelt es sich doch für Börsch-Supan bei modernen Menschen um Menschen „mit mangelndem Geschichtssinn“ (S. 52). Und immer wieder liest man Sätze wie den über das Bemühen des Künstlers, seine „Aussagen vor dem Zugriff oberflächlich Denkender zu schützen, denn er hatte schmerzliche Erfahrungen mit denen gemacht, die seine Anschauungen aus Mangel an Verständnis oder aus Antipathie bekämpften“ (S. 47), die offenbar zugleich auch die Erfahrungen Börsch-Supans bezeichnen sollen.
Während Börsch-Supan mit Verweisen auf die eigenen Publikationen nicht spart, kommen die anderer Autoren nur spärlich vor. Forschungsarbeiten, die der eigenen Auffassung nicht entsprechen, werden wiederholt ignoriert. Das fällt zumindest demjenigen auf, der wie der Verfasser dieser Rezension selbst Autor von Publikationen ist, die explizit jeweils die hier zur Diskussion gestellten Hauptbilder – ‚Das Große Gehege’ und die ‚Kreidefelsen auf Rügen’ – zum Gegenstand haben und die, wie die anderer Autoren auch, weder im Text noch im Literaturverzeichnis Erwähnung finden. [2]
Dem Auftakt zum ‚Großen Gehege’ folgt ein Kapitel, das das Umfeld dieses Gemälde erkundet. Gefolgt von einem weiteren, das die „Äußerungen“ Friedrichs in den Kontext der Dresdner Malerei um 1830 einordnet sowie einem, das sich "Gestalten im Umkreis Friedrichs" widmet, worin Carus, Goethe, Dahl und Schinkel behandelt werden. Darauf folgt ein Exkurs, in dem die Buchstabenkürzel X und Y, die sich in Friedrichs Manuskript anstelle der Künstlernamen finden, mit einzelnen historisch fassbaren Künstlern Dresdens identifiziert werden. Ein Kapitel zu den „Kreidefelsen auf Rügen“ setzt diese, wie schon das ‚Große Gehege’, in den Kontext vorausgehender und nachfolgender Werke. Weitere Kapitel sind dem „Wegmotiv“ in Friedrichs ¼uvre, den „Zeiten-Zyklen“ sowie Grundsätzen der Bildgestaltung gewidmet, wobei in letzterem Werner Busch der Vorwurf gemacht wird, seine formanalytischen Untersuchungen an Friedrichs Bildern unter Vernachlässigung der Raumorganisation allein auf ihre Flächengestaltung bezogen zu haben und dabei Börsch-Supans frühe Untersuchungen zu Friedrichs Formdenken in der Dissertation von 1960 unter den Tisch fallen zu lassen. Statt auf mathematische Genauigkeit komme es, wie Börsch-Supan betont, auf die Evidenz für den Betrachtereindruck an. Da Friedrich das Gefühl über die Messung gesetzt habe, soll nun der wissenschaftliche Betrachter sich daran halten und aufhören, die Bilder nachzumessen. Was im Rahmen wissenschaftlicher Experimente selbstverständlich legitim ist, wird von Börsch-Supan zu einer Frage von Weltanschauung und Moral gemacht. Ein letztes Kapitel widmet sich Friedrichs Selbstdarstellungen. Hier findet sich auch noch einmal eine Zusammenfassung von Börsch-Supans Ansichten: „Friedrichs Forderung an den Maler, mit dem geistigen Auge zu sehen, gilt auch für den Betrachter. Es bedeutet, über das Gegenständliche hinaus den dahinter liegenden Sinn und über das Gegenwärtige hinaus das Zukünftige zu entdecken. Damit wird das nicht Sichtbare oder doch noch nicht Sichtbare mit ins Bild gebracht, das Alltagswissen, vor allem aber der christliche Glaube.“ (S. 200) Festzustellen, dass Friedrich mit seinen Bildern einem solchen christlichen Mystizismus verhaftet war, ist das eine. Ein anderes, dies zur einzig akzeptablen Grundlage der Beschäftigung mit dem Künstler zu erklären, wie Börsch-Supan es tut.
In einer Art wissenschaftsgeschichtlichen Nachwort („Leben und Nachleben“) entwirft der Autor noch einmal eine Skizze, in der sich seine Demut zu zahlreichen Invektiven aufschwingt. Die Diagnose, bei Friedrich habe sich „die Tragik seiner Existenz nach zwei Generationen des Vergessenseins seit seinem Tod im 20. Jahrhundert fortgesetzt“, „weil der Künstler in den Strudel der modernen Kunstströmungen und ideologischen Wirrnisse hineingezogen wurde“(S. 203), erläutert Börsch-Supan damit, dass „die Oberfläche seiner Malerei deren Tiefendimension verschleiert“, aber auch damit, dass „lange Zeit ein solides Wissensfundament fehlte“. Eine widersprüchliche Erklärung, waren es doch gerade die Erfahrungen mit und durch die moderne Kunst, die überhaupt erst den Blick auf Friedrich wieder ermöglichten und war es nicht zuletzt das hauptsächlich durch die Arbeiten Börsch-Supans in den siebziger Jahren gelegte solide Wissensfundament, das zu einer beispiellosen Entfaltung der Beschäftigung mit diesem Künstler auf hohem kunsthistorischen Niveau geführt hat. Aber einer eben, die Börsch-Supan nun nicht anzuerkennen bereit ist. Der Versuch des Autors, sich auf eine abgeklärte und überlegene Position zu stellen, misslingt dann auch: So wird zwar der „Gelehrtenstreit über die richtige Interpretationsweise, bei dem immer komplizierter gedacht wird, um Evidenz durch Argumentationskunst zu ersetzen“ (S. 206), kurzerhand für die heutige kulturelle Bedeutung Friedrichs als unwichtig abgetan. Über ihn sich zu beruhigen, gelingt dem Autor aber nicht. Den Gegnern wird unterstellt, dass das eigene Gefühl verkümmert und die Fähigkeit zum Nachfühlen abhanden gekommen sei (S. 208). Das sind starke Worte.
Gegen die These von der „Sinnoffenheit“ der Bilder Friedrichs postuliert Börsch-Supan stattdessen „Botschaften von sprachlichem Charakter“. Eine irreführende Opposition, denn die Tatsache, dass Friedrichs Bilder einzelne konventionelle Zeichen wie etwa Anker und Kreuz verwendete und sie ganz generell einem christlichen Fühlen und Denken Ausdruck geben, ändert nichts daran, dass er eine Malerei konzipierte, die die herkömmliche christliche Bildsprache und ihre Ikonographie radikal transformierte. Diese Transformation muss aber nicht als Säkularisierung im Sinne einer Verabschiedung des christlichen Weltbildes gelesen werden, sondern kann als eine Bemühung verstanden werden, auf den veränderten Bewusstseinshorizont seiner Zeit zu reagieren, indem er eine seinen protestantischen Grundüberzeugungen adäquate Ästhetik entwickelt, in der die religiöse Erfahrungsdimension der Kunst einer stimmungshaften Landschaftsmalerei übertragen wird. Von Stimmungen aber will Börsch-Supan nichts wissen, bedeutet sie seinem Verständnis nach doch nichts anderes als Offenheit, die als Abwesenheit von Sinn gefürchtet wird. So wirft er etwa einem Autor wie Richard Hamann, der den Begriff der Stimmung in Bezug auf Friedrich 1914 verwendete, vor, damit von etwas „Vagem“ zu handeln, „das ein richtungsloses Träumen erlaubt“ und den „allgemeinen oberflächlichen Vorstellungen von der Romantik“ entsprochen habe (S. 204). Einem solchen, seinerseits oberflächlichen, Verständnis von Stimmung ist entgegenzuhalten, dass diese sich keineswegs in einer diffusen Träumerei erschöpft, vielmehr ein ästhetisches Verfahren darstellt, in dem Erkenntnispotential liegt und das eine dezidierte Weltdeutung vorträgt. Es bedeutet, zu verstehen, dass der Geltungsanspruch protestantischen In-der-Welt-Seins von diesen Bildern als gefühlte, sinnliche Wahrnehmung vermittelt werden soll und die Vermittlung von Erfahrung über Begriffe demgegenüber zweitrangig wurde, nicht zuletzt deswegen, weil das neue ästhetische Konzept eine viel weitreichende Wirkung zu erlangen versprach. Börsch-Supan aber perhorresziert Stimmung als Beliebigkeit, wobei seine manichäistische Perspektive auf Friedrich ihm seine Wahrnehmung so sehr verzerrt, dass er kurzerhand behauptet, der Begriff der Stimmung spiele für den Künstler keine Rolle und erscheine nicht in Friedrichs Texten (S. 204). Das ist offensichtlich falsch und zudem wider besseres Wissen behauptet, zitiert er doch selbst am Anfang seines Buches einen der Abschnitte aus den „Äußerungen“, die sich über Stimmung auslassen. Der Begriff der Stimmung wird von Friedrich in eindeutig zustimmender Weise implizit sehr häufig, aber auch immer wieder ganz explizit benutzt. [3] Wie anders soll man sich also Börsch-Supans Behauptung erklären, als mit dem geradezu zwanghaften Bemühen des kunsthistorischen Exegeten, den Künstler und sein Werk auf Kosten des historischen Materials den eigenen Vorstellungen anzupassen? Börsch-Supan verfährt damit genau in der Weise, die er der Fraktion der Befürworter von „Sinnoffenheit“ unterstellt und dort nicht müde wird, als Missachtung der Quellen und Mangel an historischem Bewusstsein anzuprangern.
Börsch-Supans große, ja außerordentliche Verdienste keineswegs nur, aber gerade auch für Caspar David Friedrich stehen außer Frage. Auch das jetzige Buch kann mit vielen Einsichten und Beobachtungen aufwarten, die aus der immensen Vertrautheit mit dem Werk und der stupenden Kenntnis der Zeit geschöpft sind. Dazu bietet es die Abbildung eines bislang unpublizierten kleinen Gemäldes, ‚Welle und Düne’, das um 1820 datiert wird (Farbtafel IV). In Bezug auf das Gemälde ‚Augustusbrücke in Dresden’ wird dann erneut jene Seelenverwandtschaft postuliert, die Börsch-Supan zum privilegierten Interpreten machen soll: „Seine Sinnfülle erschließt das Bild nur dem geistig Sehenden, für die Botschaft Offenen. Es ist mit einer einzigartigen poetischen Intelligenz erdacht, die sich wissenschaftlicher Erforschung verweigert, wenn sie nicht nach den tiefen Wurzeln im Herzen des Malers fragt.“ (S. 187) Die titelgebende Maxime „Gefühl als Gesetz“ ist so gesehen vor allem zu lesen als ein moralisches Argument Börsch-Supans gegen die „auf Rationalität eingeschworene Wissenschaft“ (S. 124), um seinerseits als Wissenschaftler Recht zu behalten, als ein moralisch aufrechter, besserer, fühlender Wissenschaftler nämlich. Daraus folgt ein halb beleidigter, halb wehleidiger Rückzug, der sich in Form von „Äußerungen“ bei Betrachtung von Gemählden Friedrichs sowie von Texten größtentheils noch lebender Kunsthistoriker Bahn bricht. Was damit anfangen? Börsch-Supan gegen den Strich lesen – malgré tout.
[1] Caspar David Friedrich, Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern, hg. von Gerhard Eimer, Frankfurt 1999 (Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte; 16), S. 24, Z. 140 und S. 114, Z. 2779.
[2] Zum ‚Großen Gehege’ erschien zuletzt der Aufsatz von Gregor Wedekind, Bilder für ehrliche Leute. Zum Problem der Mimesis bei Caspar David Friedrich, in: Der unbestechliche Blick. Festschrift zu Ehren von Wolfgang Wolters, zu seinem siebzigsten Geburtstag, hg. von Martin Gaier, Bernd Nicolai und Tristan Weddigen, Trier 2005, S. 413–427. Den Kreidefelsen auf Rügen widmet der Autor ein ganzes Kapitel in Roswitha Schieb und Gregor Wedekind, Rügen. Deutschlands mythische Insel, Berlin 1999, S. 107–160. Ein weiterer Aufsatz dazu erschien von Johannes Grave, Eine 'wahrhaft Kosegartensche Wirkung'? Caspar David Friedrichs ‚Kreidefelsen auf Rügen’, in: Pantheon 58, 2000, S. 138–149.
[3] Cf. Caspar David Friedrich, Die Briefe, hg. von Herrmann Zschoche, Hamburg 2006, S. 52 und S. 120 sowie Friedrich, Äußerungen 1999 (wie Anm. 1), S. 91 und S. 114.
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Gefühl als Gesetz, München [u.a.]: Deutscher Kunstverlag 2008
ISBN-13: 978-3-422-06807-0, 240 S., EUR 24,90
Recommended Citation:
Wedekind Gregor: [Review of:] Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Gefühl als Gesetz, München [u.a.] 2008. In: ArtHist.net, Dec 18, 2009 (accessed Dec 22, 2024), <https://arthist.net/reviews/283>.
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