REV-EX 08.11.2005

Girodet 1767-1824

Paris, Musée du Louvre, 22.11.2005–02.01.2006
Art Institute Chicago, 11. Februar – 30. April 2006
Metropolitan Museum New York, 22. Mai – 27. August 2006
Musée des Beaux Art in Montreal, 12.10.2006 – 21.01.2007

Rezensiert von Mechthild Fend, Institute for Advanced Studies, Princeton
Redaktion: Godehard Janzing

Anne-Louis Girodet ist ein merkwürdiger Künstler. Von dem frühen „Schlaf des Endymion“, der als Ikone eines erotischen Klassizismus gelten kann, über die monumentale Sintflutszene von 1806, die sich stilistisch an Michelangelo orientiert, über die romantisch inspirierten Ossiandarstellungen hin zu Dekorationsmalereien, die viele heutige Betrachter wohl eher als kitschig empfinden, sind die Arbeiten in ihrer Summe ausgesprochen heterogen, so dass sich kein Werk im traditionellen Sinne abzeichnet. Das mag eine Erklärung dafür sein, warum der Künstler – einer der viel versprechendsten Schüler Davids aus dem Atelier der 1780er Jahre – erst 181 Jahre nach seinem Tod mit einer umfassenden Schau gewürdigt wird. Die von Sylvain Bellenger kuratierte und in Paris von Sylvain Laveissière ausgerichtete Ausstellung zeigt gut 100 Gemälde und Zeichnungen Girodets.

Fulminanter Auftakt ist ein großformatiges Historienbild – die 1810 fertig gestellte „Revolte von Kairo“ – auf das die Besucher zusteuern, wenn sie die Stufen zu der im Souterrain des Louvre präsentierten Ausstellung herab schreiten. Das Gemälde schildert eines der grausamsten Ereignisse von Napoleons Ägyptenfeldzug, die Niederschlagung der Revolte von Kairo und das Massaker an den Mamelucken am 21. Oktober 1798. Es offenbart ein wildes Gemetzel, das die Grausamkeiten der Schlacht mit der gleichen Detailverliebtheit schildert wie die farbenprächtigen Kostüme, die Schönheit der Körper und die zärtliche Kameradschaft unter Männern. Mit Blick auf das Format, das große Thema wie auf Girodets Expertise in der Aktmalerei lässt das Gemälde die Schule Davids erkennen, doch scheint die klassische Historienmalerei zugleich außer Rand und Band geraten. Eine moralische Botschaft lässt sich dem Bild kaum abgewinnen, anstelle entschlossener Gesten regiert das Virtuose. Das orientalische Sujet und die Homoerotik, die man etwa in der Geste erkennen kann, mit der eine der zentralen Figuren des Gemäldes, der als Akt präsentierte kämpfende Maure, einen sterbenden türkischen Bey in prachtvoller Kleidung in seinen Armen hält, gehören zu den Themen, die die neuere, vor allem US-amerikanische und deutsche Girodet-Forschung nachhaltig beschäftigt haben und die überhaupt dazu beitrugen, Girodet in jüngerer Zeit in den Fokus kunsthistorischer Debatten zu rücken. Diese Fragen werden in dem von Sylvain Bellenger herausgegebenen Katalog ausführlich diskutiert, in der Ausstellung selbst jedoch nur zurückhaltend angesprochen.

Explizit wird nur in einer der Texttafeln, in Zusammenhang mit dem „Schlaf des Endymion“ von 1792 auf mögliche homoerotischen Konnotationen einiger Gemälde verwiesen. Allerdings erlaubt die grob der Chronologie folgende, aber dennoch thematisch fokussierte – und in dieser Hinsicht sehr gelungene – Hängung, entsprechende Überlegungen anzustellen. Ein ganzer Raum ist etwa Männerporträts gewidmet. Gerade in dieser Zusammenstellung von Persönlichkeiten der Zeit, die von dem romantischen Schriftsteller Chateaubriand bis zum Comte des Sèze, dem Verteidiger von Louis XVI vor dem Nationalkonvent, reicht, ist es schwierig, die Sexualisierung des schwarzen Abgeordneten Belley zu übersehen oder die Tatsache, dass im Falle des Bildnisses von General Cathelineau die Idealisierung des Dargestellten weit mehr auf dessen Schönheit und die Details seiner Kleidung zielt, denn auf kämpferischen Heroismus.

Ein weiterer Raum, der den Leitfaden des Auftaktbildes weiterspinnt, präsentiert Porträts von Orientalen. Girodet demonstriert damit nicht nur ein zeittypisches Interesse für die Physiognomien von Vertretern unterschiedlicher Ethnien, wie sie in Folge des Ägyptenfeldzugs auch in Paris anzutreffen waren, sondern darüber hinaus ein bemerkenswert untypologisches malerisches Augenmerk für den Reichtum an und die Nuanciertheit von Hauttönungen.

Den familiären Girodet zeigt eine Gruppe von Porträts seines Stiefvaters Benoît François Trioson und seines Sohnes Benoît Agnès. Girodet porträtierte den Jungen im Alter von 7, 10 und 13 Jahren; diese außergewöhnliche Reflexion über Kindheit und Adoleszenz zeigt sich – betrachtet man allein die zunehmende Bändigung der zunächst üppigen Lockenfrisur – als eine pädagogische Zähmung, die in all ihren Etappen den Ausdruck träumerischer Melancholie trägt.

Weitere thematische Gruppen bilden unter anderem die Frauenporträts, die Ossianthematik, oder Napoleondarstellungen. Ausgewählten Gemälde – wie etwa der „Schlaf des Endymion“ oder das als „dernier chef d’oeuvre“ präsentierte „Pygmalion und Galatea“, an dem Girodet von 1813 bis 1819 arbeitete – ist jeweils ein einzelner Raum gewidmet. Besonders exquisit gehängt ist die monumentale, von den Zeitgenossen einhellige gelobte „Scène de déluge“ und ausgewählte Zeichnungen dazu, die in einem angrenzenden Raum zu sehen sind. Die Studien, die zweifellos zu den schönsten Arbeiten des Künstlers zählen, werden durch die sparsame Hängung zu kleinen Meisterwerken gemacht und durch die perfekte Abstimmung der Tonalität von Papier und Zeichenmaterial mit der bisterfarbig gestrichenen Wand im hohen Maße ästhetisiert. Das ist reinstes Vergnügen, zugleich jedoch emblematisch für das Bemühen der Ausstellung, aus Girodet einen großen Künstler zu machen. Der Ästhetisierungswille bedingt wohl auch den Fokus auf das Original und damit die Entscheidung, in die Präsentation zwar Zeichnungen aufzunehmen, die druckgrafischen Arbeiten nach Girodet (mit einer Ausnahme) hingegen auszusparen. Und das, obwohl Stiche und Lithographien nach Gemälden bereits zu Lebzeiten erheblich zur Popularisierung des Künstlers beitrugen. Ausgespart bleiben auch die druckgrafischen Mappen nach seinen Entwürfen, die Schüler kurz nach seinem Tod zusammenstellten und produzierten. Das gilt selbst für die größtenteils noch unter Aufsicht Girodets von Chatillon gestochene Anakreonmappe mit eigenen Übersetzungen des Künstlers, obgleich Barthélémy Jobert sie in einem materialreichen, aber wenig analytischen Katalogbeitrag über die Druckgrafik als Quintessenz des Spätwerks würdigt, da Girodet hier seine literarischen und künstlerischen Interessen zusammenführen konnte.

Die Tendenz zur Ästhetisierung des Oeuvres ist auch deshalb bedauerlich, weil die bizarre – oder schlicht: schräge – Seite Girodets zu kurz kommt (allerdings ist der Kategorie des Bizarren ein schöner Katalogbeitrag von Susan Libby gewidmet). So werden die Besucher mit den Merkwürdigkeiten mancher Gemälde alleingelassen. Ein Beispiel ist das karikaturhaften Gemälde „Mademoiselle Lange als Danaé“ von 1799. Selbst wenn man mit der Skandalgeschichte um die Schauspielerin Anne Françoise Élisabeth Lange vertraut gemacht wird (sie hatte ein in ihrem Auftrag entstandenes Porträt Girodets zurückgewiesen und seine öffentliche Präsentation im Salon unterbunden, weil sie sich nicht hinreichend attraktiv dargestellt sah), fällt es schwer nachzuvollziehen, wie der Künstler so viel Zeit und Energie in eine gemalte Karikatur stecken konnte, die die Liebschaften und Eitelkeiten von Mlle Lange in komplizierten, aber wenig subtilen symbolischen Anspielungen diffamiert. Denn über diese Affäre hinaus, ist die Karikatur in Öl ein Hybrid, das auf eine Desintegration der Bildgattungen in der Kunst um 1800 verweist, wie Werner Hofmann bereits 1995 in „Das entzweite Jahrhundert“ vorgeschlagen hat.

Ganz offensichtlich sollen Girodets Produktionen in dieser Ausstellung in den Kategorien des Idealschönen wahrgenommen werden, und auch in den Katalogtexten bemüht Bellenger den Terminus des „beau idéal“ immer wieder. Doch wenngleich das „beau idéal“ für Gemälde wie den deutlich an Winckelmann geschulten „Schlaf des Endymion“ den angemessenen ästhetischen Rahmen bildet (was die Frage nach der sexuellen Identität nicht ausschließt), so hat doch der späte Girodet zur Zersetzung dieser klassizistischen Kategorie ebenso viel beigetragen wie der frühe zu ihrer visuellen Formulierung. Gerade in den mythologischen Gemälden des Empire und der Restaurationszeit lässt sich eher eine Krise des Klassizismus erkennen, die zur gleichen Zeit nicht nur bei Girodet, sondern etwa auch bei Guérin oder David zum Ausdruck kommt. Eine Kontextualisierung mit solchen Arbeiten, die unter anderem mit exaltierter Farbigkeit oder fast karikaturhaft anmutendem Physiognomien aufwarten, hätte zu einem Verständnis dieser aus heutiger Sicht bisweilen befremdlichen Ästhetik beitragen können.

Der 500 Seiten starke Ausstellungskatalog geht in dem präsentierten Bildmaterial weit über das in der Ausstellung Gezeigte hinaus. Von den zahlreichen im Katalog angesprochenen Themen und Problemstellungen seien hier nur die Fragen der Homoerotik, der kulturellen und sexuellen Differenz herausgegriffen, weil sich daran eine interessante und durchaus symptomatische Auseinandersetzung der französischen Forschungstradition mit neueren angloamerikanischen Studien entzündet. Als deren einzige Vertreterin kommt im Katalog Abigail Solomon-Godeau zu Wort. Darüber hinaus spricht Bellenger die genannten Fragestellungen in seinen Katalogbeiträgen in ernsthafter und durchaus kenntnisreicher Form an, freilich diskutiert er sie nur, um sie schließlich als Anachronismen zu verwerfen. So macht er etwa in dem Katalogtext zum Porträt Belleys die äußerst suggestive Gegenüberstellung des Bildnisses mit Mapplethorpes „Man in Polyesthersuit“ von 1980 (S. 323), nur um die Lesenden darauf hinzuweisen, dass sie das Gemälde von 1797 genau so nicht betrachten sollten. Die enge Wildlederhose: schlicht Mode der Zeit. Das sich abmalende, nicht eben kleine Geschlecht: wer vermag heute zu beurteilen, ob es nicht wirklich so aussehen hat (S. 331)? Dieser verzweifelte Hinweis auf die Mimesis nimmt jeglichen künstlerischen wie interpretatorischen Gestaltungsspielraum. Der pauschale Vorwurf, der dabei gegen methodische Ansätze der Psychoanalyse, der Linguistik, des Strukturalismus, des Feminismus und der Sozialwissenschaften und gegen Konzepte der Homoerotik oder Homosexualität gemacht wird (S. 214 und 319), ist insofern ungerecht, als sich gerade die Geschlechterstudien, die gay- and queer studies einbegriffen, um eine Historisierung dieser Kategorien bemüht haben, ebenso wie die postcolonial studies um die der Rasse. So hat etwa Viktoria Schmidt-Linsenhoff in ihrem Aufsatz über „Male Alterity“ (2000), der sich Girodets Endymion und Belley widmet, die Sexualisierung von Schwarzen – die sich nicht zuletzt in der visuellen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts manifestiert – in einen historischen Kontext eingebunden.

Berechtigt ist hingegen Bellengers Einwand gegen eine Ableitung der Themenwahl und –behandlung aus einer wie auch immer gearteten sexuellen Identität Girodets. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen James Smalls, Tom Crow und Darcy Grimaldo-Grigsby, die – wenngleich mit unterschiedlichem Nachdruck – jeweils behaupten, Girodet sei schwul gewesen. Die Frage lässt sich im nachhinein wohl nicht mehr eindeutig klären, doch Bellenger kann in seiner ausführlichen, themenorientierten Biographie, die eine Vielzahl neuer Quellen erschließt, glaubhaft machen, dass Girodet auch mit Frauen intime Beziehungen hatte. Mit Solomon-Godeau stimmt er vor allem darin überein, dass die Beantwortung der Frage nach der sexuellen Identität für das Verständnis der Bilder allenfalls zweitrangig ist. Die Autorin diskutiert in ihrem Katalogbeitrag am Beispiel von Girodets Endymion Probleme der neueren Gay- und Queer Studies und plädiert wie bereits in ihrem Buch „Male trouble“ (1997) dafür, Bilder wie diese gemalte Aktstudie in ihrem visuellen und institutionellen Umfeld zu betrachten. Dieses Umfeld bildeten das Atelier Davids und die von den Schülern produzierten Männerakte, die um 1790 allgemein eine Tendenz zur Erotisierung aufweisen, so dass die Darstellungsweise also kaum aus einem subjektiven Begehren heraus erklärt werden kann, sondern eher mit der homosozialen Dynamik innerhalb des Ateliers. Diese Form der Kontextualisierung ist für Solomon-Godeau freilich kein Grund, auf feministische wie psychoanalytische Methoden zu verzichten und für eine Historisierung von Sexualität zu plädieren.

Bei aller Kritik ist diese Ausstellung unbedingt sehenswert. Zu den großen Verdiensten der Kuratoren gehört, zahlreiche bislang kaum bekannte Werke aus Privatsammlungen aufgespürt und zusammengetragen zu haben, so dass der Besuch selbst für KennerInnen Girodets so manche Entdeckung birgt. Lohnenswert ist auch die kleine Begleitausstellung „Gérard, Girodet, Gros. L’Atelier de David“, die im ersten Stock des Denonflügels Zeichnungen von Davidschülern aus dem Besitz des Louvre zeigt. Der umfangreiche Katalog zur Girodetausstellung (Gallimard, 49,00 Euro) wird sicher für absehbare Zeit das Referenzwerk zu Girodet darstellen. Die Schau ist noch bis zum 2. Januar 2006 im Louvre zu sehen; sie reist anschließend ins Art Institute Chicago (11. Februar – 30. April 2006), ins Metropolitan Museum New York (22. Mai – 27. August 2006) und in das Musée des Beaux Art in Montreal (12.10.2006 – 21.01.2007).

Empfohlene Zitation:
Mechthild Fend: [Rezension zu:] Girodet 1767-1824 (Paris, Musée du Louvre, 22.11.2005–02.01.2006). In: ArtHist.net, 08.11.2005. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/27657>.

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