REV Nov 21, 2009

Gabriele Köster: Künstler und ihre Brüder

Reviewed by Irmlind Luise Herzner
Editor: Philipp Zitzlsperger
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Innerhalb der venezianischen Kunst- und Kulturgeschichte zählt die künstlerische Tätigkeit in den - nur in Venedig 'Scuole' genannten Bruderschaften - zu den faszinierendsten Themen überhaupt. Das zeigt sich nicht zuletzt an der kaum noch überschaubaren Literatur der letzten 30-40 Jahre, die auf frühen Archivstudien des 19. Jahrhunderts aufbauen konnte. Zu den wichtigsten Arbeiten zählt nach wie vor Brian Pullans Studie "Rich and Poor in Venice. The Social Institutions of a Catholic State " von 1971, die durch systematische Aufarbeitung der Archive der Scuole Grandi die Funktion und die Rolle dieser Institutionen im Sozialleben Venedigs dargestellt hat. Mittlerweile sind die Hauptwerke, in erster Linie die großen Bilderzyklen und die aufwendige Bautätigkeit der Scuole Grandi, auch kunsthistorisch ausgesprochen gut bearbeitet. Im Zeitraum bis etwa 1600 gab es sechs vornehme Scuole Grandi mit besonderen Regeln, sowie ca. 300 Scuole Piccole, die jedem zugänglich waren.

Gabriele Köster geht es in ihrer Geschichte der venezianischen Scuole Grandi in erster Linie um eine Darstellung der Künstler als Mitglieder (confratelli) in den Bruderschaften, also um einen Beitrag "zu einer Sozialgeschichte des Künstlers" (26). Die Kunstwerke als solche interessieren daher nur am Rande (wie schon die unzulänglichen Abbildungen deutlich machen). Allein vom Umfang her sprengt die Dissertation, wenn auch in überarbeiteter Fassung, den üblichen Rahmen bei weitem. Enorme Mühe hat Gabriele Köster in die erneute Aufarbeitung der Archivdokumente investiert. Deren Ergebnis ist unter anderem ein prosopographischer Anhang von mehr als 200 Seiten mit Angaben zu 1372 Mitgliedern der Berufe Maler, Bildhauer, Baumeister, Steinmetze oder Maurer. Freilich sollte man sich über den Nutzen dieser großen Zahl nicht täuschen lassen: Innerhalb der Gruppe der Maler (ca. 300) sind nur die allerwenigsten Künstler im heutigen Sinn, auf die jedoch der Titel des Buches abhebt. Bildschnitzer sind mit 140 Einträgen vertreten, Goldschmiede, Mosaizisten, Bauleiter etc. mit etwa 50 Nennungen. Gut zwei Drittel der Einträge betreffen oft nur mit Vornamen genannte Maurer oder Steinmetzen, wobei aus verständlichen Gründen die Identität oder Nichtidentität vieler "Antonios", "Giovannis" oder "Pietros" nicht festzustellen ist, geschweige denn in irgend einer Form kunsthistorisch nutzbar wäre. Viele bekannte Künstler (z. B. Giovanni Battista Cima, Paolo Veronese) waren übrigens nur Mitglieder in den Scuole Piccole. Nur implizit kommt zur Sprache, dass andere, finanziell besser gestellte Berufsgruppen, wie z. B. Kaufleute, in den sechs Scuole Grandi mit zusammen mehreren 1000 Mitgliedern eine sehr viel größere Rolle spielten, denn die einflussreichen Vorstandsämter waren häufig ihnen vorbehalten: nur wenige Künstler wurden in den Vorstand gewählt - Gentile Bellini bekleidete als einziger Maler das zweithöchste Amt des Vicario -, kein bedeutender Maler oder Bildhauer wurde je Guardian Grande. Damit relativiert sich auch die Frage nach einem möglichen Einfluß der Künstler auf die Kunstpolitik der Scuole, der Gabriele Köster ein eigenes Kapitel (175 ff) widmet.

Im Kapitel "Amt und Stand" (53-85) wird die Struktur der Scuole Grandi ausführlich dargestellt. Die gesellschaftsumspannende Mitgliedschaft von Inhabern hoher Staatsämter mit einfachen Handwerkern in ein und derselben Scuola Grande, auf die Gabriele Köster großen Wert legt, bestand wohl in erster Linie auf dem Papier und war eher dem Prestige der einzelnen Scuole förderlich, zumal adelige Mitglieder nicht der Disziplin, wie z. B. der Anwesenheitspflicht, unterworfen waren und somit an gemeinsamen Anlässen nicht unbedingt teilnahmen.

Gabriele Köster sind bei ihrer umfangreichen Archivarbeit einige Ergänzungen und Neufunde gelungen. Die Dokumente zur Steinmetz- und Goldschmiedefamilie Gruato, die über Generationen hinweg der Scuola Grande della Misericordia angehörte, geben freilich keinerlei Auskunft über etwaige künstlerische Tätigkeit (Nr. 755-762). Bekannt ist jetzt das Sterbedatum Vittore Gambellos, genannt Camelio, 1527, das Gabriele Köster anhand der Begräbniskosten im Archiv der Scuola Grande San Marco korrigieren konnte.

Ihre Entdeckung der Handschrift "De origine delle scuole o fraterne di Venezia" des Jacopo Grillo aus dem Jahre 1584 mit Listen der Guardiani Grandi (81) gibt zwar Einblick in die Zusammensetzung der Vorstände über mehrere Generationen, bestätigt aber den Eindruck, dass Künstler in leitenden Funktionen der Scuole Grandi keine große Rolle spielten.

Die Dokumente sind größtenteils in den Fußnoten zu finden, wobei man bedauert, dass bei den Zitaten von bereits bei anderen Autoren publizierten Archivalien Auslassungen nur in seltenen Fällen kenntlich gemacht sind: Damit ist der praktische Wert dieser erneuten Zitate für weitere Forschungen erheblich geschmälert. Eine Art Regest mit entsprechender Literaturangabe hätte in den meisten Fällen genügt; ein vollständiger Dokumentenanhang am Ende hätte das Buch dagegen zu einem Standardwerk machen können.

Das Kapitel "Bilder, die nie gemalt wurden" (236-252), beschäftigt sich mit Tizians langjährigen Problemen mit der Scuola Grande San Rocco. So kann Gabriele Köster 1526 als Eintrittsjahr Tizians bestimmen, also viel früher als bisher angenommen. Der Maler sollte 1551 aus der Bruderschaft ausgeschlossen werden, weil er seine Mitgliedsbeiträge fast zwei Jahrzehnte nicht entrichtet hatte, was ihm jedoch gegen einen freiwilligen Pauschalbetrag erlassen wurde. Sein Antrag von 1553, das große Gemälde für die Stirnwand im Albergo zu malen, wurde vom Generalkapitel freilich mehrheitlich abgelehnt, und das, obwohl Gabriele Köster eine Intervention zu seinen Gunsten von Seiten befreundeter Confratelli vermutet. Schließlich malte Tintoretto die große "Kreuzigung" dann nach 1565.

Breiten Raum widmet Gabriele Köster im Kapitel "Brüderliche Fürsorge" (157 ff) Tizians "Tempelgang Mariä" im Albergo der Scuola Grande di Santa Maria della Carità, weil sie glaubt, die Ikonographie mit der Praxis der Mitgiftvergabe an bedürftige Mädchen verbinden zu können. Das war jedoch in allen Bruderschaften elementarer Bestandteil der karitativen Tätigkeit, andererseits ist das ikonographische Thema dem Marien-Patrozinium der Scuola geschuldet. Von einer spezifischen "Kontextualisierung" wird man also kaum sprechen können. Genau so wenig überzeugen die Erläuterungen zur Bedeutung der drei jungen Frauen in der Mitte des Bildes: die rotgekleidete Gestalt kann mangels Attributen kaum als Personifikation ("Caritas") identifiziert werden; und die hell gekleidete, angeblich barfüßige (160/161) Gestalt davor trägt eben doch Sandalen. Somit scheidet eine Deutung als Tugend ("Humilitas") auch hier aus. Eine als Braut gekleidete Mitgiftanwärterin ist sie aber wohl auch nicht, denn Schleier und gelbes Gewand sind in der fraglichen Zeit als Brautkleidung nicht bekannt. Eher kommt eine Deutung als Elisabeth in Frage, die in der Literatur vorgeschlagen wurde. Die "familienpolitischen Konnotationen" der anderen Begleitpersonen (162 f.) sind ebenfalls nicht nachzuvollziehen. Der Besonderheit von Tizians Bild wird man nicht gerecht, wenn man nicht von dessen gestalterischen Qualitäten spricht. Übrigens bekam Tizian in der "Carità" keinen weiteren Auftrag; die anderen beiden Bilder für den Albergo wurden anschließend von sonst kaum bekannten Malern ausgeführt. Dazu und zu den vorhandenen Dokumenten äußert sich Gabriele Köster nicht weiter. Die Vermutung ist jedoch naheliegend, dass Tizian nicht zum Zuge kam, weil bekannt war, dass er seine Auftraggeber zu lange warten ließ.

Häufig beschrieben sind die langjährigen Bemühungen Tintorettos um Aufnahme in eine Scuola Grande. Was ihm in der Scuola Grande San Marco trotz der Aufträge von 1548 und 1562 nicht glückte, funktionierte dann in der Scuola Grande San Rocco durch die listige Schenkung des Rochusbildes für den Soffitto des Albergo: 1565 erfolgte endlich die ersehnte Aufnahme als Mitglied. Auch hier gab es zunächst einigen Widerstand gegen das Engagement des Malers, der dann bis zum Jahre 1588 eines der eindrucksvollsten Ensembles für Bruderschaftsräume in Venedig schuf und auch mehrfach Ämter im Vorstand bekleidete. Gabriele Kösters erneute Sichtung der Dokumente bringt gegenüber dem bisherigen Stand der Kenntnis jedoch nur ohnehin übliche Details seiner Tätigkeit in der Scuola zur Sprache (z. B. bei der Abstimmung von Mitgiften, Kandidaturen für Vorstandsämter), andererseits zitiert sie nicht einmal den Text der Schenkungsurkunde Tintorettos für das Rochusbild vom 22. Juni 1564. Dabei hat sie sicherlich recht mit ihrer Annahme, dass Tintoretto wohl nur in Absprache mit dem zu seinen Förderern zählenden Guardian Grande das Bild bereits vor der offiziellen Zustimmung malen konnte und der angebliche Wettbewerb also gar nicht stattfand. – Zur Wahl des Passionszyklus im Albergo hätte noch etwas mehr gesagt werden können, denn sicher ist in erster Linie der Besitz eines Dorns aus der Dornenkrone Christi der Anlass für diese Entscheidung gewesen; die Rückbesinnung auf die Passionsfrömmigkeit (335) mag einen zusätzlichen Stimulus gegeben haben.

Innerhalb des Kapitels "Städtische Repräsentation und bürgerliche Identität", (305 ff) referiert Gabriele Köster über "Gruppenporträt und Selbstbildnis des Künstlers" anhand der prominentesten Beispiele (323 ff). Ihr Vorschlag, im Schwammträger Stephaton auf der großen "Kreuzigung" der Scuola Grande San Rocco ein Selbstporträt Tintorettos als Büßer zu erkennen, überzeugt schon deshalb nicht, weil die Gesichtszüge einem bei Tintoretto häufig anzutreffenden Typus entsprechen und keine tatsächlich erkennbare Ähnlichkeit mit dem Maler zeigen. Da helfen auch die umfänglichen theoretischen Erläuterungen zur "künstlerischen Autoreflexivität" (336 ff) nicht weiter.

Eine Straffung des gesamten Textes hätte dem Buch sicherlich gut getan, zumal Gabriele Köster vielfach auf bereits komplett publizierte Archivalien und grundlegende Forschungsergebnisse vor allem britischer und amerikanischer Autoren zurückgreifen kann. Über Gebühr ausgedehnte Fußnoten zu marginalen Sachverhalten und ständige Wiederholung der entsprechenden Nummern als Hinweise auf im Anhang alphabetisch aufgezählte Personen sind überflüssig; wichtig wäre dagegen ein Index gewesen. So begrüßt man diese erste deutschsprachige Zusammenschau der im Sozialleben Venedigs so bedeutenden karitativen Organisationen, wirklich neue Erkenntnisse zur Stellung der Künstler in der Gesellschaft und zur "Kunstpolitik" der Scuole Grandi halten sich aber in Grenzen.

Köster, Gabriele: Künstler und ihre Brüder, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2008
ISBN-13: 978-3-7861-2548-8, EUR 89.00, sfr 139.00

Recommended Citation:
Irmlind Luise Herzner: [Review of:] Köster, Gabriele: Künstler und ihre Brüder, Berlin 2008. In: ArtHist.net, Nov 21, 2009 (accessed Sep 27, 2024), <https://arthist.net/reviews/270>.

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