REV 21.04.2009

C. Bohlmann, Th. Fink, Ph. Weiss (Hg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts

Rezensiert von Rößler Hole
Redaktion: Robert Felfe
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Dem Corpus von Verlustgeschichten, in denen die Moderne ihr Selbstverständnis formulierte, konnte 1879 der deutsche Physiker Gustav Theodor Fechner nicht zuletzt angesichts der zeitgenössischen Entwicklungen in der Lichttechnik eine weitere hinzufügen: „Wir gleichen heutzutage jenen Käferarten, die von jeher in finsteren Höhlen lebten, deren Vorfahren schon darin lebten; sie haben keine Augen mehr für das Licht; mag es hinzudringen, sie sehen nichts davon, und sähen sie einen Schein, er führte sie nur irre.“[1] Die Schattenseite der technisch ermöglichten Allgegenwart des Lichts, so lässt sich Fechners Diagnose verstehen, ist eine kulturelle Blindheit für dessen Schönheit – aber auch dessen symbolische und metaphysische Dimensionen. Welches Verständnis kann eine von selbstverschuldeter Aufklärung und den eigenen technischen Fortschrittsgesten geblendete Zeit für das Licht der Vergangenheit entwickeln? Dass sich das Licht dem rückblickenden Auge offenbar leicht entzieht, erweist sich bereits an dem Umstand, dass sich die historische und kulturwissenschaftliche Forschung der letzten drei Jahrzehnte mit ihrem besonderen Interesse für den produktiven Charakter des Sehens nur selten eingehender mit der Rolle des Lichts in der Vormoderne beschäftigt hat. Umso begrüßenswerter ist es, dass nun ein Sammelband vorliegt, der exemplarisch die „Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts“ über historische, kulturelle und disziplinäre Blickschranken hinweg in ihrer komplexen Dynamik zu erfassen sucht. Die Herausgeber Carolin Bohlmann, Thomas Fink u. Philipp Weiss (Forschungsgruppe historische Lichtgefüge) haben sich in den letzten Jahren bereits mehrfach durch Publikationen zum Licht in der Malerei des 17. Jahrhunderts und dessen Einbettung in zeitgenössische Theoriediskurse hervorgetan.[2] Der auf eine Tagung in Wolfenbüttel zurückgehende Band versammelt nun 15 Beiträge, die aus kunst-, wissenschafts- und philosophiehistorischer Perspektive das angebotene Konzept der „Lichtgefüge“ zur Anwendung bringen.[3] In seiner Zielsetzung schließt der Band an kulturwissenschaftliche Forschungen zur visuellen Kultur der Vormoderne an, sucht aber in besonders ausgeprägter Weise die Verbindung zur Geistes- und Ideengeschichte.

Die Gestalt des analytischen Konzepts der „Lichtgefüge“ wird in der Einleitung der Herausgeber sowie in dem daran anschließenden Beitrag von Philipp Weiss umrissen. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass das gemeinsame Paradigma von Kunst und Wissenschaft im 17. Jahrhundert in der Vorstellung vom Wesen des Lichts besteht, die sich sowohl in dessen Rolle als Mittel der künstlerischen Darstellung wie als philosophisches Erkenntnismodell ausdrückt. Die Herausgeber konstatieren ein „immanentes Lichtgefüge“, demzufolge sich im malerischen Bildlicht der wesentlich generative Charakter des Lichts zeigt, wie er in der zeitgenössischen Naturphilosophie entwickelt wird. Daran anknüpfend betont Weiss die aktive Funktion des Bildlichts, das die Bildgegenstände insbesondere in ihrer farblichen Qualität überhaupt erst hervorbringe. Dieses Bildlicht ließe sich aber angesichts der Vielfalt seiner Erscheinungsweisen nicht, wie lange Zeit üblich, allein mit lichtmetaphysischen Vorstellungen erklären. Vielmehr müssten ebenso naturphilosophische Lichttheorien herangezogen werden, wobei Weiss zugleich vor der Gefahr von Deutungswillkür und Analogiebildung warnt, vor der jedoch auch die AutorInnen des Bandes nicht immer gänzlich gefeit waren. Unbedingt zuzustimmen ist Weiss’ Beschreibung des 17. Jahrhunderts als „einer breiten Kultur der Entfaltung neuer visueller und optischer Vermögen“ (27), insofern die sich darin ausdrückende Annahme kultureller Heterogenität und Diversität vorschnellen Generalisierungen vorbeugt. Dieses Bild einer von ‚Licht‘ in verschiedenster Weise durchzogenen und bestimmten Kultur vermag auch der Band in seiner Gesamtheit zu vermitteln.

Den Beziehungen von Naturphilosophie und Kunst sind die beiden Beiträge der Wissenschaftshistoriker Alan E. Shapiro und Fokko Jan Dijksterhuis gewidmet. Während Shapiro den Parallelen von René Descartes’ mechanistischer Theorie des Lichts mit der Lichtdarstellung in der niederländischen Malerei nachgeht, fragt Dijksterhuis nach der Präsenz traditioneller Bedeutungsdimensionen des Lichts in Christiaan Huygens’ Schriften zur Optik. Obwohl sich einige Ähnlichkeiten zwischen den theoretischen Reflexionen über das Licht und seiner künstlerischen Darstellung finden lassen, scheinen diese mitunter wohl die Folge des spezifischen Erkenntnisinteresses zu sein, weswegen beide Autoren einräumen, dass die dargelegten Beziehungen im Quellenmaterial nicht explizit vorlägen – ja im Falle von Huygens auch keine wechselseitigen Einflüsse von Optik und Kunst nachweisbar seien.

Die damit nahegelegte Autonomie von naturphilosophischer Optik und künstlerischen Lichtdarstellung gegenüber einer rückhaltlosen wechselseitigen Einflussnahme scheint die kategorialen Grenzziehungen zu bestätigen, die der Philosoph Thomas Leinkauf in seiner Darstellung der „Implikationen des Begriffs ‚Licht‘ in der frühen Neuzeit“ vornimmt: „Der wissenschaftliche Licht-Begriff der Frühen Neuzeit“, so Leinkauf, „koppelt sich […] grundsätzlich von den anderen Dimensionen desselben Begriffes ab“ (94f.). Wobei Leinkauf eine Wissenschaft im Auge hat, die sich wesentlich durch eine Geometrisierung ihrer Gegenstände auszeichnet, weswegen Autoren wie Franceso Patrizi oder Bernardo Telesio (und man könnte wohl noch Robert Fludd und Henry More für das 17. Jahrhundert ergänzen), die naturphilosophische und theologische Ansätze verbanden, nur in den Fußnoten auftauchen (96f.). Leinkauf unterscheidet insgesamt vier Typen des Lichtbegriffs, wobei er neben dem „wissenschaftlichen“ noch den „philosophisch-theologischen“ näher erörtert und beide gegen die kurz umrissenen „natürlich-phänomenbezogegen“ und den „ästhetisch-poetischen“ Bedeutungsfelder absetzt. Im Kontext der frühneuzeitlichen Philosophie und Theologie überwiegen, das legt Leinkaufs Analyse nahe, Derivate der neuplatonischen Lichtmetaphysik, in denen kognitive Prozesse ebenso wie intelligible Seinswirklichkeiten in Figurationen des Lichts ihr ‚einleuchtendes‘ Bild finden.

Dem Übergang von philosophisch-theologischen Denkfiguren in künstlerische Gestaltung sub specie lucis ist der Beitrag des Kunsthistorikers Joseph Imorde gewidmet. Ausgehend vom bekannten Theologem, dass das als überhelles Licht (lux) gedachte Göttliche ausschließlich in verschleiertem Zustande für menschliche Augen sichtbar ist, untersucht Imorde Erscheinungsformen des Schleiers – von der diaphanen Wolke bis zum Leib Christi – in ihrer künstlerischen Umsetzung. Paradoxes Ziel der Darstellungen und Inszenierungen des Lichts als einem verschleierten, etwa in den aufwändig gestalteten theatra sacra der römischen Ordenskirchen, war die Sichtbarmachung und Erlebbarkeit der unsichtbaren Seinswirklichkeit. Das künstlerisch gestaltete Kunstlicht, so zeigt der Beitrag, kann diese zugleich ästhetische wie symbolische Dimension behaupten, gerade weil es sich durch seinen indirekten Schein einer Erfassung oder gar naturphilosophischen Zerlegung entzieht.

Einen ganz anderen Aspekt der Wissensgeschichte des Lichts behandelt der Kunsthistoriker Hilmar Frank, dessen bemerkenswerter Beitrag die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Möglichkeiten der künstlerischen Nachahmung natürlicher Licht- bzw. Helligkeitsverhältnisse vom 17. bis an die Wende zum 20. Jahrhundert nachzeichnet. Lange bevor die physikalische Optik, die philosophische Ästhetik und später die Physiologie erklären konnten, wie Gemälde trotz ihrer erheblich geringeren Leuchtdichte natürliche Lichtverhältnisse nachahmen können, war dieses Phänomen Frank zufolge Teil des künstlerischen Erfahrungswissens. Es gehört dabei zu den ironischen Pointen dieser Geschichte, dass gerade der Einsatz von Instrumenten, die das urteilsschwache Auge ersetzen sollten und auf deren Messungen sich die Bildkritik gründete, den wesentlichen Anteil des Auges am Helligkeitseindruck übersehen lässt. Als die Sinnesphysiologie der Moderne schließlich entdeckte, dass der Eindruck natürlicher Lichtverhältnisse im Bild häufig durch eine deutliche Abweichung von diesen erreicht wird, hatte die Malerei den Weg der Mimesis bereits verlassen, während das neuartige optische Wissen in die Filmtechnik einging.

Auch der Rembrandt-Spezialist Ernst van de Wetering konstatiert ein Primat des Künstlerwissens vom Licht, das er anhand einiger Bilder des niederländischen Meisters rekonstruiert. Van de Wetering gibt dem Leitbegriff der „Lichtgefüge“ dadurch eine Wendung, dass er damit das Zusammenwirken der unterschiedlichen Arten der Beleuchtung und Reflexion innerhalb des Bildes bezeichnet. Dabei besticht der Beitrag durch die Aufschlüsselung der vielfältigen Gestaltungsweisen des gemalten Lichts, die durch ihre illusionistische Wirkung häufig übersehen werden.

Gleich drei Beiträge – von Thomas Fink, Yvonne Toros und Francesca Fiorani – beschäftigen sich mit dem französischen Mathematiker Gérard Desargues und dessen Arbeiten zu Geometrie und Perspektive. Fink argumentiert, dass die projektive Geometrie Desargues’ den ursprünglichen Universalitätsanspruch der analytischen Geometrie Descartes’ einlöst und in seiner Übertragung auf das natürliche Licht (lumen naturalis) des Denkens als anschauliches Modell Einfluss auf die weitere Entwicklung der philosophischen Logik durch Spinoza und Leibniz nahm. Toros vertieft diese Annahme, indem sie den Spuren der arguesianischen Geometrie in der Ethik Spinozas nachgeht, die sich jedoch in ihrer ganzen Bedeutung häufig wohl nur Kennern der Materie erschließen. Fiorani hingegen untersucht die Arbeiten von Desargues und seinem Assistenten Abraham Bosse zur Luftperspektive in ihrem Verhältnis zu Leonardo da Vincis Malereitraktat sowie ihre Rezeption in der französischen Malerei. Wenngleich in diesen drei Beiträgen das Konzept der „Lichtgefüge“ bisweilen in den Hintergrund gerückt zu sein scheint, zeigt sich an ihnen dennoch, dass die Wissenskulturen der Frühen Neuzeit selbst dort, wo sie im höchsten Maße abstrakt argumentieren, auf vielfältigste Weise vom Licht durchdrungen sind.

Ein Wermutstropfen des in seinem Angebot unterschiedlicher Auslegungen des Konzepts der „Lichtgefüge“ insgesamt erfreulichen und inspirierenden Bandes ist sicherlich eine gewisse ‚Sparsamkeit‘ bzw. Ungleichverteilung in Bezug auf Abbildungen. Insbesondere für die Gemälde Rembrandts und Vermeers wären angesichts des Themas farbige Reproduktionen angebracht gewesen. Davon gänzlich unberührt bleibt der Eindruck, dass mit dem vorliegenden Band ein ertragreiches und spannendes Feld für die kulturwissenschaftliche Forschung eröffnet wird, das in der Lage ist, die mit Panofsky einsetzende Fixierung auf die Zentralperspektive als dominierendem ‚Denkbild‘ der Vormoderne zu relativieren.

Anmerkungen:
[1] Fechner, Gustav Theodor. Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht. Hg. v. Wilhelm Bölsche. 3. Aufl. Berlin, 1918, S. 39.
[2] „Im Lichtschein des Raumes“. Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov. Hg. v. Sabine Schulze. Frankfurt a.M., 1998, S. 260-311; Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts (= Kritische Berichte 4 (2002)); „Machina Boyleana. Joseph Wright of Derbys Experiment mit der Luftpumpe“. kunsttexte.de. Quellenstandort online: http://www.kunsttexte.de/download/fofu/fink-weiss.pdf [2002]; „Das Unsichtbare sichtbar machen. Die Lichtgeister des Jacopo Tintoretto“. Fundiert. Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin 1 (2003), S. 44-51. Quellenstandort online: http://www.elfenbeinturm.net/archiv/2003/06.html.
[3] Inhaltsverzeichnis: http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a18_1/apache_media/IML6HJXIEF9FL7AT7XIF5JTYG37RYN.pdf

Bohlmann, Carolin; Fink, Thomas; Weiss, Philipp (Hrsg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts. Rembrandt und Vermeer - Spinoza und Leibniz, München: Wilhelm Fink Verlag 2008
ISBN-13: 978-3-7705-4454-7, 320 p., EUR 34.90

Empfohlene Zitation:
Rößler Hole: [Rezension zu:] Bohlmann, Carolin; Fink, Thomas; Weiss, Philipp (Hrsg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts. Rembrandt und Vermeer - Spinoza und Leibniz, München 2008. In: ArtHist.net, 21.04.2009. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/260>.

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