Die Berliner Baugeschichte ließe sich ohne Weiteres als Geschichte von Abriss und Zerstörung schreiben. Mit der Expansion gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts fielen zahlreiche, teils mittelalterliche Gebäude dem Repräsentationsbedürfnis und der Bauwut der jungen Reichshauptstadt zum Opfer. Nach umfänglichen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs taten zahlreiche Abrisse der Nachkriegszeit ihr Übriges zur Vergangenheitsbeseitigung, darunter die Sprengung des Berliner Schlosses 1950, die Zerstörung der Schinkelschen Bauakademie oder die Niederlegung historischer Stadtquartiere auf der Fischerinsel und um die Marienkirche. Seit Mauerfall und Wiedervereinigung konnten in Berlin zwar viele Gebäude und Baudenkmäler vor endgültigem Verfall gerettet werden, doch zahlreiche denkmalwerte und denkmalgeschützte Objekte – vor allem im Ostteil der Stadt – fielen der Goldgräberstimmung unter Immobilieninvestoren Mitte der neunziger Jahre zum Opfer.
Angesichts des Verlustes von historischer Bausubstanz mag das Volumen der neuen Denkmaltopografie für den Berliner Bezirk Mitte überraschen. Mit über 700 reich illustrierten Seiten stellt das gewichtige Werk ein umfassendes Verzeichnis aller denkmalgeschützten Bauten zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz, zwischen ehemaligem Checkpoint Charlie und Nordbahnhof dar. Der Band besteht im wesentlichen aus drei Teilen: aus einer Einführung in die Geschichte und Stadtentwicklung Berlins, aus einem Hauptteil mit Texten und Fotos zu den einzelnen Objekten sowie aus der Denkmalliste für den Bezirk.
Da der Stadtbezirk Mitte das historische Zentrum Berlins um die Nikolai- und Marienkirche umfasst, Berlin also Jahrhunderte lang fast deckungsgleich mit dem heutigen Areal des Bezirks Mitte war, stellt eine Historie des Bezirks in weiten Teilen zugleich eine Berlin-Geschichte dar. Die Herausgeber haben daher zurecht die Entscheidung getroffen, den einführenden Teil umfangreich zu gestalten, da er den Nukleus für die Denkmaltopografien anderer Stadtteile darstellt. Der einführende Text gliedert sich in zwei Teile, wobei die Hauptstadtwerdung Berlins 1871 als Zäsur angesetzt wurde. Beide Essays bieten eine Zusammenfassung entscheidender Entwicklungen der Berliner Architektur- und Stadtbaugeschichte. Zahlreiche historische Fotos, Zeichnungen und Stiche in gut gewählter Mischung illustrieren diese Historie, wobei neben hinlänglich bekannten, unumgänglichen Abbildungen wie dem Memhard-Plan von 1652 auch selten publizierte Fotos zu sehen sind, etwa eine Aufnahme von den Abrissarbeiten zu einem Straßendurchbruch vor der Marienkirche aus dem Jahre 1886. Da sich weite Teile der Berliner Architekturgeschichte nur unter Einbeziehung vieler zerstörter Bauten schildern lassen, ist die Einführung ein gutes Komplement zum anschließenden Hauptteil, der in seiner Auflistung denkmalgeschützter Bauten per definitionem keine zerstörten Objekte behandelt. Ebenfalls in der Einführung finden einige der zahlreichen Utopien und Stadtplanungen für Berlin Erwähnung, etwa die ambitionierten städtebaulichen und verkehrsplanerischen Vorhaben der zwanziger Jahre. Eines der schönsten Zitate der einführenden Essays stammt von Kurt Tucholsky, der das Berliner Phänomen geißelt, sich stets mit verkehrsreichen Metropolen wie Paris messen zu wollen: „Nun hat Berlin diesen Verkehr nicht, bildet sich aber ein, ihn zu haben, und die Polizei regelt diesen imaginären Verkehr so, wie ihn nie ein Mensch in Paris geregelt hat, noch regeln würde. ... Und der Rummel kommt auch einem tiefen Drang des Neudeutschen entgegen, sich so zu fühlen, wie er sich die Amerikaner vorstellt. Er kann leicht darauf verzichten, ein Kerl zu sein – aber in einer Stadt zu wohnen, die eine ‚Ssitti’ hat und einen ‚Brodweh’, det hebt Ihnen.“ (S. 153).
So erfreulich jedoch die Präzision und Detailtreue der beiden einführenden Essays ist, so oft nehmen sie Informationen zu einzelnen denkmalgeschützten Bauten vorweg, die im Hauptteil erneut auftauchen. Der roten Faden der Berliner Stadtentwicklung droht über diesen Exkursen gelegentlich verloren zu gehen.
Der Hauptteil besteht aus Katalogtexten zu den einzelnen denkmalgeschützten Objekten und Ensembles. Die Textlänge variiert je nach Bedeutung und Komplexität der Denkmale, liegt jedoch meist bei etwa einer halben Seite. Die Texte sind von Autoren verfasst, die teils Mitarbeiter des Berliner Landesdenkmalamts, teils Gutachter im Auftrag der Behörde sind und daher mit profunden Kenntnissen aufwarten können. Bei zahlreichen Texten lag die Schwierigkeit vor allem in der Auswahl und Gewichtung bekannter Fakten, da zu prominenteren Bauten wie dem Brandenburger Tor eine Fülle von Forschungsarbeiten vorliegt. Die Beiträge stellen verschiedene Gesichtspunkte zu den jeweiligen Bauwerken heraus und nennen in aller Regel die wesentlichen Aspekte. Die unterschiedlichen Ansätze der Autoren gestalten den Band abwechslungsreich, da manche Texte etwaige Vorgängerbauten erwähnen, andere die stadträumliche Situierung eines Gebäudes betonen und wieder andere den historischen oder architekturgeschichtlichen Stellenwert des Objekts hervorheben. So liegt die Bedeutung des „Tränenpalastes“, einer 1962 errichteten ehemaligen DDR-Grenzabfertigungshalle am Bahnhof Friedrichstraße, nicht nur in der Konstruktion ihrer freitragenden Stahl-Glas-Fassade, sondern in ihrer ehemaligen Funktion als Kontrollstelle zwischen West und Ost. Mit dieser notwendigen und sinnvollen Erweiterung des Denkmalbegriffs rücken die Verfasser vom Konzept des „reinen Kunstwertes“ ab, das viele ältere Kunstführer kennzeichnet, insbesondere den „Dehio“, der bis in die jüngsten Ausgaben hinein fast ausschließlich die kunstgeschichtliche Dimension der ausgewählten Objekte betont. Die Begründung des Denkmalwerts, der am Beispiel des Tränenpalastes als einem „tief im Bewusstsein der Berliner Bevölkerung verankerte[n] Dokument der deutschen Teilung“ überzeugend dargelegt wird, gelingt den Autoren nicht in allen Fällen und wird in zahlreichen Objekterläuterungen ausgespart. Dabei könnte es gerade eine Legitimation für eine derart opulente Publikation sein, in allgemeinverständlicher Form die Qualität eines Denkmals zu skizzieren und damit seine Bedeutung auch einem breiteren Publikum nahe zu bringen.
Mag der Denkmalwert einer mittelalterlichen Kirche oder eines frühklassizistischen Stadttores noch unmittelbar einleuchtend sein, so muss das für ein gründerzeitliches Mietshaus, einen schlicht gekachelten S-Bahnhof aus der NS-Zeit, eine zurückhaltende Gartengestaltung der 1960er Jahre nicht immer evident sein. So schwer die Begründung eines Denkmalwerts in solchen Fällen sein mag, so wichtig ist er für eine öffentlichkeitswirksame Vermittelbarkeit von Denkmalschutz und damit für den Erhalt des jeweiligen Objektes. Dass die Begründung eines Denkmalwerts nicht automatisch eine voluminöse Argumentation erfordert, beweisen einige der Autoren des Bandes. So bezeichnen Christiane Oehmig und Volker Hübner das Witwenhaus der „Hollmannschen Wilhelminen-Amalien-Stiftung“ (1839, Architekt unbekannt) kurz als einen der „ältesten überlieferten Sozialbauten Berlins“.
Kategorien wie „Seltenheit“ oder „Einzigartigkeit“ werden im vorliegenden Buch selten verwandt, wohl aus Angst, man könne die Begriffe inflationieren, weil die meisten Denkmale natürlicherweise „einzigartig“ sind. Dennoch wäre es zum Verständnis hilfreich, wenn der Leser beispielsweise die Fassade des „Admiralspalastes“ an der Friedrichstraße (1910-11 von Heinrich Schweitzer) mit ihrer Kolossalordnung und flächiger Füllung der Mauerfelder mit römischen und maurischen Motiven als für Berlin einzigartige Gestaltung vorgestellt bekäme. Schließlich ist „Einzigartigkeit“ kein unbedingtes Kriterium für ein Denkmal. Ein Berliner Mietshaus aus der Zeit um 1900 kann gerade durch das „Typische“ erhaltenswert sein, durch das, was es mit unzähligen anderen Bauten seiner Art verbindet und damit zum pars pro toto macht.
Angesichts der Fülle von Bauten unterschiedlichster Gattungen und Epochen werden selbst Berlin-Kenner in der Denkmaltopografie Unbekanntes finden. Manchen dürfte die Vielzahl der erhaltenen Häuser aus dem 18. Jahrhundert in der Gegend um den Hackeschen Markt überraschen, wenig bekannt dürfte auch die Ausstattung des ehemaligen Parteigebäudes der National-Demokratischen Partei Deutschlands mit spätstalinistischer Inneneinrichtung von 1957 sein. Während die „Neue Synagoge“ in der Oranienburger Straße mit ihren weithin sichtbaren, teilvergoldeten Kuppeln bereits ein fester Punkt auf touristischen Rundfahrten durch Berlin ist, tritt das 1910 in einem Hinterhof errichtete Gotteshaus der Beth-Zion-Gemeinde im Stadtraum gar nicht in Erscheinung. Der Leser wird anhand der Abbildungen des Bandes häufig auf Bauten aufmerksam, die er im Stadtbild bestenfalls flüchtig wahrgenommen hatte. Die aktuellen Fotos sind in angemessener Größe und guter Druckqualität wiedergegeben, so dass selbst Details ablesbar werden. Erfreulich ist das Druckbild auch durch Absatzmarken und den Fettdruck des jeweiligen Objektnamens und seiner Adresse, weil dies eine schnelle Orientierung ermöglicht. Die Berliner Denkmalliste für den Bezirk Mitte mit 726 Bau- und Gartendenkmalen sowie Ensembles bildet den Abschluss des Bandes, der durch ein umfassendes Namens-, Adress- und Objektregister erschlossen ist.
Der vorliegende Band ist Teil eines von der Kulturministerkonferenz beschlossenen, monumentalen Editionsprojektes, mit dem das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland denkmaltopografisch erfasst werden soll. Die seit 1981 zahlreich erschienenen Bände kamen in unterschiedlichen Verlagen heraus und sind von den zuständigen Denkmalbehörden bearbeitet worden. Für die Hauptstadt liegen Bände zu den Bezirken bzw. Ortsteilen Zehlendorf, Friedrichshain, Friedenau, Grunewald und Reinickendorf vor. Damit ist bislang nur ein Bruchteil der Stadtfläche Berlins erfasst. Jeder Band enthält die Denkmalliste für das entsprechende Gebiet, als Reihe sind die Bücher durch einheitliches Format und Einbandgestaltung erkennbar. In ihrer Struktur unterscheiden sich die Bände hingegen vielfach. Während einige lediglich die Denkmalliste enthalten und auf Fließtext praktisch ganz verzichten, bemühen sich andere um einen durchgehenden Text. Diese Lösung bot sich etwa für den Band zum Berliner Ortsteil Grunewald an, da in der Villenkolonie vorwiegend Bauten derselben Gattung zu finden sind, die sich leichter zusammenschauen lassen.
Der aktuelle Band zum Bezirk Mitte konnte auf Vorgängerpublikationen zurückgreifen. Bereits in den achtziger Jahren erschienen zwei Berlin-Bände in der Reihe „Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR“, die inzwischen antiquarischen Sammlerstücke sind. Der 1983 erschienene Band zu den Innenstadtbezirken der DDR-Hauptstadt umfasst auch den Bezirk Mitte und stellt einen Grundstock an Objekten vor, der im aktuellen Band wesentlich erweitert wurde.
Das erste Berliner Denkmalverzeichnis war 1893 unter dem Titel „Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin“ erschienen. Vor dem Hintergrund des rasanten Baugeschehens im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts und den häufig drohenden Abrissen sollte diese Publikation ein Beitrag zu den Bemühungen um den Erhalt vieler Bauten sein. Die gegenwärtige Situation ähnelt der vor gut einem Jahrhundert: insofern könnte der vorliegende Band eine vergleichbare Funktion wahrnehmen, auch wenn er für viele geschleifte Bauten zu spät kommt.
Landesdenkmalamt Berlin (Hrsg.): Denkmale in Berlin: Bezirk Mitte, Ortsteil Mitte, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2003
ISBN-10: 3-935590-80-6, 704 S., 49,80 €
Empfohlene Zitation:
Frank Schmitz: [Rezension zu:] Landesdenkmalamt Berlin (Hrsg.): Denkmale in Berlin: Bezirk Mitte, Ortsteil Mitte, Petersberg 2003. In: ArtHist.net, 08.09.2003. Letzter Zugriff 27.12.2024. <https://arthist.net/reviews/25870>.
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