REV 11.06.2003

Das Licht kommt jetzt von Norden - Jugendstil in Finnland.

Rezensiert von Claudia de Brün, Helsinki

Die finnische Kunst vom Ende des 19. Jahrhunderts, eine Epoche, die in Finnland als „Nationalromantik“ und als „goldenes Zeitalter“ benannt wird, muß in Deutschland, vor allem was die bildende Kunst betrifft, selbst unter Kunstinteressierten und Fachleuten noch weitgehend als terra incognita gelten. Glanzstücke dieser Epoche, sozusagen „nationale Ikonen“ wurden für die Ausstellung des Bröhan-Museums vorwiegend aus finnischen Museen zusammengetragen. Nachdem bisher lediglich Werke jeweils in kleiner Auswahl in Deutschland zu sehen waren und in Katalogen publiziert worden sind [1], bietet der zu besprechende Katalog die Gelegenheit zu einem umfangreichen Einstieg in das „unbekannte Terrain“. Das Thema kommt einem deutlich gewachsenen deutschen Interesse an finnischer Kultur entgegen. Die Bedeutung, die dieser Schau zugemessen wurde, spiegelt sich auch in der Schirmherrschaft der Staatspräsidenten beider Länder.

Die Konzeption von Ausstellung und Katalog weist jedoch einige Schwächen und Ungenauigkeiten auf, welche die hohen Erwartungen trüben. Schon der Titel wirft einige Fragen auf. Das gewählte Zitat „Das Licht kommt jetzt von Norden“ [2], wird an keiner Stelle des Kataloges als solches kenntlich gemacht und irritiert daher durch seinen Zeitbezug („jetzt“), was möglicherweise sogar beabsichtigt ist. Spätestens in der Einleitung wäre dann aber eine nähere Auseinandersetzung mit dem Satz zu erwarten gewesen, was mit der Begeisterung für den Norden im wilhelminischen Zeitalter oder auch der Lichtmetaphorik immerhin interessante Perspektiven eröffnet hätte [3].

Die „Einführung“ von Ingeborg Becker (S. 14ff), die auch für die Konzeption von Ausstellung und Katalog verantwortlich zeichnet, reißt mit dem Titel „Wildnis und Großstadtglanz - Finnische Künstler im Spannungsfeld von Nationalromantik und Internationalisierung“ eine weite Thematik an. Im Text geht die Autorin jedoch lediglich auf das zeitgenössische deutsche Interesse an Finnland sowie auf den Künstler Akseli Gallen-Kallela [4] bzw. vorwiegend auf dessen dreimonatigen Berlinaufenthalt Anfang 1895 ein. Eine Auseinandersetzung dieses Künstlers mit der Großstadtproblematik - das im Titel vorgegebene Thema - hatte jedoch bereits mit Studienaufenthalten in Paris seit 1884 begonnen, zwischen denen er sich regelmäßig nach Finnland zurückzog. So legitim ein Berlinfokus für die Einführung zu einer in Berlin stattfindenden Ausstellung auch sein mag, so offen sollte sich doch auch der Titel dazu bekennen. Einige etwas gequält wirkende Wendungen des Textes hätten dadurch vermieden werden können.

Dem Berlinaufenthalt wird im Text insgesamt eine Bedeutung zugemessen, die vor allem dem in der Thematik unkundigen Leser einen falschen Eindruck vermittelt. Die Berliner Kreise scheinen hier als Inspirationsquelle für Sujets, mit denen sich der Künstler bereits in der Pariser Zeit bzw. unmittelbar nach dem Karelienaufenthalt von 1890 auseinandergesetzt hatte. Das gilt etwa für das Interesse an Gebrauchskunst, das schon in der Pariser Zeit nachzuweisen ist. So ist in „Démasquée“ von 1888 (S. 109) ein Ryijy (ein traditioneller finnischer Wandteppich) dargestellt; und bei dem ersten noch in Paris entstandenen Werk, welches das Kalevala-Epos thematisiert, der ersten Version des Aino-Triptychon von 1889 [5], ist auch der Gestaltung des Rahmens große Sorgfalt zuteil geworden. Von besonderer Bedeutung für die kunsthandwerkliche Beschäftigung war schließlich der Bau des Wildnisalteliers Kalela, der bereits 1894 begann.

Die Berlinreise Gallen-Kallelas kann vielmehr als Suche nach einem Ausweg aus einer Krise, durchaus auch finanzieller Art, gesehen werden. Die gemeinsame Ausstellung mit Edvard Munch, die weitere Ausstellungen in Deutschland nach sich zog, sowie die Beteiligung am ersten Heft der Zeitschrift „Pan“ sind in dieser Hinsicht Erfolge. Die Bedeutung des Aufenthalts für das Oeuvre ist vor allem in der Beschäftigung mit graphischen Techniken greifbar [6]. Um sich in diesen Techniken weitere Kenntnisse anzueignen kam es auch zu einem zweiten Aufenthalt in der Stadt und einer Reise nach London.

Neben grundsätzlich irreführenden Gewichtungen haben sich in dem Artikel einige Sachfehler eingeschlichen. So sind die zitierten Briefe Gallen-Kallelas im Original nicht sämtlich finnisch, sondern meist schwedisch (S. 21) geschrieben [7]. Problematisch ist auch die Bezeichnung des Kalevala-Epos als „mittelalterlich“ (S. 18), handelt es sich doch um eine in endgültiger Fassung 1849 erschienene Kompilation mündlich tradierter Texte durch Elias Lönnrot, die kräftig vom „Herausgeber“ bearbeitet und durch neu gedichtete Teile bereichert wurde. Solche Detailungenauigkeiten zeugen von einem Mangel an Feingefühl für das Thema, der sich leider allgemein im Text und auch in der Konzeption bemerkbar macht.

Der folgende Beitrag von Hannes Saarinen ist eine informative Einführung in den historischen Hintergrund, die Zeit eines wachsenden Nationalbewußtseins und die Entstehung nationaler Symbole (S. 22ff). Die Anordnung der weiteren Texte folgt einer Einteilung nach Gattungen, die sich für das Thema als sehr unglücklich erweist. So werden die Künstler Ville und Antoinette Vallgren unter der Rubrik „Malerei und Skulptur“ präsentiert (S. 51ff.), obwohl es sich bei den gezeigten Arbeiten des Skulpteurs Ville Vallgren durchweg um Gebrauchsgegenstände handelt und seine Frau mit Lederarbeiten ohnehin eher diesem Genre zuzurechnen wäre. Auch für die anderen Künstler dieser Zeit ist es geradezu ein Charakteristikum, daß die ausschließliche Zuordnung zu einem Genre ob ihrer vielseitigen Aktivitäten nicht möglich ist. Akseli Gallen-Kallela entwarf neben der Malerei Möbel und Textilien für die Iris-Werkstätten und verfolgte mit dem Entwurf seines Atelierhauses sogar architektonische Ambitionen. Die Architekten wirkten auch als Designer von Ausstattung; der als Entwerfer von Keramik für die Iris-Werkstätten arbeitende A.W. Finch hatte bereits Karriere als Maler gemacht, und Louis Sparre hat sich ohnehin nie ausschließlich auf eine einzelne seiner vielen Begabungen beschränkt. Der Faszination, die gerade von der Vielseitigkeit dieser Künstler ausgeht, und die in den einzelnen Texten durchaus mitgeteilt wird, wirkt eine solch strikte Einteilung entgegen. Das latente Streben nach einem Gesamtkunstwerk als ein Merkmal dieser Epoche wird dadurch verdeckt. Die im Katalogteil verfolgte Ordnung greift dieses System zwar nicht auf, wirkt aber etwas schwammig („Bohème“), schlagwortartig und vor allem uneinheitlich, indem Sujetbezeichnungen („Porträt“) mit Stilbegriffen („Symbolismus“) und Gattungsbezeichnungen („Architektur“) gemischt werden.

Die Artikel des Textteils bieten fundierte und überwiegend sehr gut präsentierte Einstiegsinformation zu einzelnen Künstlern und Themen, im Gegensatz zum leider recht flachen Katalogteil. In den Gattungsblöcken werden jeweils nach einem Überblickstext ein oder zwei speziellere Themen abgehandelt. Dadurch ist es zu Wiederholungen gekommen. Der finnische Pavillon zur Pariser Weltausstellung 1900 war sowohl allgemein für die Entwicklung der finnischen Architektur als auch für die seiner Architekten, wie Eliel Saarinen, wichtig. Folglich kommt er in den Artikeln von Ritva Wäre „Die Nationalromantik in der finnischen Architektur“ (S. 63f) und Marika Hausen zu Saarinens Frühwerk (S. 78f) vor, zudem ist ihm der Artikel Pekka Korvenmaas (70ff) ganz gewidmet. Durch eine bessere redaktionelle Koordination hätten einige unnötige Wiederholungen vermieden und die Autoren sich jeweils auf die Bereicherung um einige Aspekte beschränken können. Ähnlich verhält es sich mit Akseli Gallen-Kallela, der zudem ebenfalls am Ausstellungspavillon beteiligt war. Neben der schon erwähnten Einführung ist ihm ein Artikel Janne Gallen-Kallela-Siréns gewidmet, und weder die Artikel Soili Sinisalos (S. 32ff), eine breiter angelegte Einführung in das Malereithema, und Pekka Korvenmaas (S. 74ff) noch Marianne Aavs (90ff) und Marketta Tamminens (96, 98) zum Kunstgewerbe kommen ohne Gallen-Kallela aus. Seine Vielseitigkeit macht ihn ohne Zweifel zu einer wichtigen Persönlichkeit seiner Zeit und die Rezeption als „Nationalkünstler“ ist davon sicher nicht zu trennen. Aber auch andere Künstler und Künstlerinnen hätten in der Rubrik „Malerei und Skulptur“ genauere Betrachtung verdient und ein breiteres Bild wäre einer Ausstellung, die sich einer ganzen Epoche widmet, sicherlich angemessen gewesen.

Der Artikel Janne Gallen-Kallela-Siréns zu Akseli Gallen-Kallela (S. 42ff) fällt als zum Teil problematisch auf. Er beginnt mit einer recht polemisch gehaltenen Einführung zum historischen Hintergrund, die gleich eine Kritik an der gesamten zeitgenössischen kunsthistorischen Forschung zur Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts beinhaltet. Für die finnische Kunst wird ein Stilvakuum konstatiert, in dem Gallen-Kallela und seine Zeitgenossen frei von historischen Wurzeln arbeiten konnten. Internationale Einflüsse werden zurückgewiesen: Gallen-Kallelas Kunst sei nicht von Affinität, sondern von Distanz zur europäischen Kunst bestimmt.

Die danach vom Leser erwarteten neuen Erklärungsmodelle der Kunst Gallen-Kallelas sind jedoch recht banal und mitnichten neu. Bäuerliches Kunsthandwerk, finnische Flora und Fauna werden angeführt - diese Einflüsse wurden schon von den Zeitgenossen des Künstlers erkannt [8]. Das Porträt des Bauern Olkkola von 1889 (S. 45) etwa sei nicht von Pariser avantgardistischen Stilrichtungen bestimmt, sondern nur naturalistische Darstellung - daß auch der Naturalismus in den 1880er Jahren in Paris noch nicht passé war, übersieht der Autor offenbar. Einige Charakteristika der Kunst Gallen-Kallelas werden jedoch gut beobachtet. So der Dualismus von Monumentalität und Detailtreue oder von universellem Thema und menschlichem Gefühl - Bedeutung erhielten die in der Natur oder im bäuerlichen Milieu beobachteten Dinge oder Szenen in Gallen-Kallelas Werken erst durch ihre Wendung ins Monumentale. Die Bezeichnung als Nationalstil wird dieser Kunst tatsächlich nicht gerecht und verstellt zudem den Blick auf eine durch das Nebeneinander zahlreicher Künstler und Stilrichtungen geprägte Epoche.

In diesem Sinne ist letztlich auch der Titel der Ausstellung, „Jugendstil in Finnland“, nicht angemessen, wiewohl verständlich, da sie im „Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus (1889-1939)“ stattfand. Die Periode scheint vielmehr ein Lehrstück, wie wenig mit versuchten Stilzuordnungen wie Jugendstil oder Symbolismus zu gewinnen ist. Affinitäten zu internationalen Strömungen zu leugnen, führt jedoch auch nicht weiter. Diese Affinitäten sind zudem nicht allein im künstlerischen Stil zu finden, sondern machen auch vor dem Lebensstil nicht halt. Der Versuch Gallen-Kallelas, sich in die Einsamkeit der Natur zurückzuziehen, die Umgebung und die Kleidung in Anlehnung an bäuerliche Traditionen zu gestalten, zeugt davon. Damit stand er weder in Finnland noch international allein. Die Abkehr von Traditionen und die Suche nach einer zugleich neuen und ursprünglichen Lebensform findet sich in der Zeit allenthalben in Europa. In Finnland kam dieser Suche durch das Fehlen einer eigenen nationalen Tradition eine besondere Bedeutung zu. Ein allgemeiner gefaßter Begriff von „Lebensreform“ vermag dieses Phänomen und den Zusammenhang finnischer und internationaler Strömungen besser zu beschreiben als herkömmliche Stilbegriffe.

[1] Etwa: Finnischer Jugendstil. Malerei. Architektur. Kunstgewerbe. (Ausstellungskatalog zu „Finnland 1900“), Nürnberg/Wien 1973; Landschaft als Kosmos der Seele: Malerei des nordischen Symbolismus bis Munch 1880-1910, Heidelberg 1998.
[2] Es handelt sich offenbar um einen Ausspruch Hermann Sudermanns 1883, überliefert von Adolf Paul (Min Strindbergbok, Stockholm 1930, S. 75), in deutscher Übersetzung zitiert nach Kerttu Karvonen-Kannas: Axel Gallén/Akseli Gallen-Kallela - ein nationaler Kosmopolit, in: Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen, Mitteilungen aus der deutschen Bibliothek (Hg. Hans Fromm u.a.) Nr. 32, Helsinki 2000, S. 144.
[3] Vgl. dazu etwa Julia Zernack: Nordenschwärmerei und Germanenbegeisterung im Kaiserreich, in: Bernd Henningsen u. a. (Hg.): Wahlverwandschaft. Skandinavien und Deutschland 1800 bis 1914, Berlin 1997, S. 71-78.
[4] Im Folgenden wird durchgehend die erst 1907 offiziell fennonisierte Namensform gebraucht, da sie sich als eine Art Markenzeichen des Künstlers durchgesetzt hat, wenngleich „Axel Gallén“ für die behandelte Zeit historisch korrekt wäre.
[5] Abb. in Akseli Gallén-Kallela, (Ateneum) Helsinki 1996, S. 163, Nr. 77.
[6] Zu inhaltlichen Anregungen auch der Berliner Zeit immer noch grundlegend: Sarjas-Korte, Salme: Suomen varhaissymbolismi ja sen lähteet, tutkielma Suomen maalaustaiteesta 1891-1895, Helsinki 1966.
[7] Vgl. Ilvas, Juha (Hg.): Sanan ja tunteen voimalle - Akseli Gallen-Kallelan kirjeitä/A self-portrait in words - The letters of Akseli Gallen-Kallela (= Kuvataiteen keskusarkisto 3/Valtion Taidemuseo / = The Central Art Archives 3/The Finnish National Gallery), Helsinki/Rauma 1996, S. 98. Der zitierte Brief an Sparre ist auf schwedisch verfaßt, vgl. ebenda S. 129, während der finnische Brief an Danielson als Ausdruck fennomanischer Gesinnung gedeutet werden kann, vgl. ebenda S. 98 und 128f.
[8] „Er (Gallen-Kallela) ist ein echter Sohn seiner schönen und düsteren Heimat, deren genügsame und ernste Bevölkerung er packend naturgetreu vorführt und deren erhabene, großartige Naturschönheit ihn mächtig ergriffen hat.“ Dresdener Zeitung vom 12. April 1895 zur Ausstellung in Lichtenbergs Kunstsalon/Dresden, zitiert nach: Axel Gallén in der ausländischen Presse, Helsinki 1895, S. 67. In dieser Broschüre finden sich zahlreiche Äußerungen in diese Richtung.

Becker, Ingeborg (Hrsg.): Das Licht kommt jetzt von Norden - Jugendstil in Finnland. Ausstellungskatalog Bröhan-Museum (Berlin 2.11.2002-2.3.2003), Berlin: Selbstverlag 2002
ISBN-10: 3-9807894-1-1, 256 S. 326 Abb., 25,- EUR im Museum

Empfohlene Zitation:
Claudia de Brün: [Rezension zu:] Becker, Ingeborg (Hrsg.): Das Licht kommt jetzt von Norden - Jugendstil in Finnland. Ausstellungskatalog Bröhan-Museum (Berlin 2.11.2002-2.3.2003), Berlin 2002. In: ArtHist.net, 11.06.2003. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/25716>.

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