REV 13.06.2003

Marion G. Müller: Grundlagen der visuellen Kommunikation

Rezensiert von Jens Jäger, Hamburg

Dass Bilder in der Kulturwissenschaft Konjunktur haben, ist inzwischen ein beinahe unvermeidlicher Allgemeinplatz geworden. Die Disziplinen, die traditionell mit Bildern arbeiten oder Instrumente zur Entschlüsselung von Zeichen oder Codes anbieten, erleben geradezu einen Ansturm auf ihre Analyseinstrumente. Früh schon hat ein Teil der Literaturwissenschaft dem Film Aufmerksamkeit geschenkt und entsprechende theoretische und methodische Zugänge entwickelt. Seit mehr als einem guten Jahrzehnt ist verstärkt Bewegung in die Sozial- und Kulturwissenschaften gekommen; ob das nun mit der „kulturwissenschaftlichen Wende“ oder dem so genannten „Iconic Turn“ zusammenhängt oder nicht: Visuelle Vermittlungs- und Kommunikationsformen werden als Analyseobjekte zunehmend wichtiger. Insofern verwundert es fast ein wenig, dass von Seiten der Medien- und Kommunikationswissenschaft erst verhältnismäßig spät eine Einführung in die Grundlagen der visuellen Kommunikation vorgelegt wird. Die Politologin Marion G. Müller hat - letztlich vor allem aus der Perspektive ihres eigenen Faches - auf engagierte Weise versucht, diese Lücke zu schließen. Ihre Arbeit ist einerseits als Einführung, andererseits aber auch als Lehrbuch (S. 7) konzipiert und soll zusätzlich einen Überblick zum Forschungsstand in den verschiedensten Disziplinen gewähren - ein schwieriger Spagat.

Der Band gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil (S. 13-120) definiert den verwendeten Bildbegriff und skizziert das Feld der „visuellen Kommunikationsforschung“. Auf dieser Basis wird in die ikonographisch-ikonologische Methodik der Bildanalyse eingeführt. Im zweiten Teil (S. 121-266), dem umfangreichsten der „Grundlagen“, wird der Versuch unternommen, eine möglichst umfassende Überblicksdarstellung zum aktuellen Stand bildzentrierter Forschungen in den Natur-, Sozial-, und Kulturwissenschaften zu geben. Es ist dabei nicht Müllers Absicht, streng den Fachgrenzen entsprechend vorzugehen oder Vollständigkeit zu erzielen; sie wählt aus und komprimiert, um wenigstens Eindrücke zu vermitteln. Die Auswahl ist mit dem von Müller bevorzugten Bildbegriff, der strikt „zwischen textueller und visueller Logik“ unterscheidet, (S. 122) begründet. Der dritte Teil (S. 267-280) skizziert Forschungsfelder und Fragestellungen. Ein Anhang (S. 281-290) ergänzt den ersten Teil durch Tips und Ratschläge zur Lehr- und Forschungspraxis.

Im ersten Teil ist der Lehrbuchcharakter am ausgeprägtesten. Müller bemüht sich um verständliche Erläuterung und handhabbare Erklärungen, die in fett gedruckten Merksätzen verdeutlicht werden. Allerdings wird man bereits trefflich über den ersten Merksatz streiten können, dass „Bilder nicht gelesen, sondern gesehen oder geschaut“ (S. 9) werden, da dies erstens kein Gegensatz sein muss, und zweitens „lesen“ ja durchaus nicht ausschließlich mit der Rezeption geschriebener Sprache verknüpft ist. Dem Bildbegriff liegt also vor allem die Abgrenzung gegenüber Sprache zugrunde, womit bereits ein Großteil philosophisch-sprachwissenschaftlich motivierter Zugänge zum Bild in die zweite Reihe verwiesen werden. Nun ist ein zunächst pragmatischer und praxisorientierter Zugang zum „Bild“ dem Rahmen einer Einführung angemessen. Allerdings hätte dem noch ein ebensolcher Zugang zum Kommunikationsmodell zur Seite gestellt werden müssen, auf dessen Grundlage sich „visuelle Kommunikationsforschung“ entfalten soll. Müller spart diese Frage aus, bzw. gibt indirekte Antworten, indem sie erläutert, dass es der visuellen Kommunikationsforschung um die Analyse materialisierter Bilder geht, wobei drei Aspekte zu berücksichtigen sind: Produktionsanalyse, Produktanalyse und Wirkungsanalyse.

Im Folgenden werden entsprechend des eingangs konturierten Bildbegriffs Analysen von Bildern (Medien) vorgestellt, denen Zweidimensionalität eigen ist: Graphik, Pressefotografie, Film und Fernsehen. Das Schwergewicht liegt zudem auf der Darstellung von Personen und mit ihnen verbundene Ereignissen. Das in den Beispielen verwendete Analyseschema fußt auf Erwin Panofsky. Müller plädiert also für ein ikonographisch-ikonologisches Konzept, wobei sie jedoch die Produktionsebene von Bildern stärker hervorhebt und Möglichkeiten einer empirischen Wirkungsanalyse (S. 54f.) anschneidet, die im Unterschied zur historischen Rezeptionsforschung auf aktuellen Rezipientenbefragungen beruht.

In ihren Beispielanalysen versucht Müller den Leserinnen und Lesern auch die Faszination durch die Bilder zu vermitteln, um damit ihre These der „assoziativen Logik der Bilder“ zu untermauern, die „automatisch zu inhaltlichen Analogieschlüssen“ führe (S. 83). Diese These gälte es jedoch zu diskutieren, zumal Bildern damit etwas als Wesensgehalt unterstellt wird, das ebensogut eine kulturell vermittelte Rezeptionshaltung sein könnte, deren Funktionsweise, Funktionalisierung und historische Bedingtheit nicht Ausgangspunkt, sondern Gegenstand visueller Kommunikationsforschung sein müsste. Der pragmatisch motivierte Umgang mit dem Bild zeigt sich hier also bereits in den Grundlagen problematisch. Dessen ungeachtet liefert Müller im ersten Teil eine didaktisch aufbereitete Anleitung, wie bei einer Bildanalyse vorgegangen werden kann, die funktional und operationalisierbar erscheint. Allerdings fällt die kritische Würdigung der ikonographisch-ikonologischen Methode zu knapp aus, was im ersten Teil aus didaktischen Gründen zwar verständlich ist, im zweiten aber auch nicht nachgeholt wird.

Der zweite Teil stellt Ansätze für die visuelle Kommunikationsforschung aus unterschiedlichsten Disziplinen vor. Der Versuch beeindruckt zunächst durch die Breite der rezipierten Studien. Allerdings erweist sich bei der Lektüre bald, daß die methodischen Überschneidungen teils sehr groß sind und z.B. kunsthistorische, historische und sozialwissenschaftliche Forschungsansätze ohnehin aus den gleichen Quellen schöpfen. Müller räumt diese Überschneidungen durchaus ein, indem sie ihre Einteilung als idealtypisch verstanden wissen möchte (S. 123).

Vorgestellt werden neben den zu erwartenden Feldern der Kommunikations- und Medienwissenschaften auch höchst spezialisierte Forschungen (Physiologie und Gehirnforschung). Das Schwergewicht liegt jedoch auf sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten einschließlich der Kunstgeschichte. Müller verfolgt dabei ein Schema, das zunächst den „Beginn“ von visueller oder Bildforschung in der betreffenden Disziplin skizziert und das jeweilige Erkenntnisinteresse darlegt. Logischerweise können nur grobe Überblicke gegeben werden, die auch selten die Bandbreite der jeweiligen Forschung vermitteln können. Aus der Notwendigkeit der Auswahl ergeben sich dann auch Ungleichgewichte, so wenn beispielsweise im Abschnitt über Psychologie und Pädagogik rasch von Siegmund Freud über Gustave Le Bon zu C.G. Jung gesprungen wird, um anschließend ausführlicher über die Problematik der Interpretation von frühkindlichen Zeichnungen zu berichten. Selbstverständlich haben Psychologie und Pädagogik mehr über Bildwahrnehmung und -verarbeitung zu bieten, und das gilt mutatis mutandis für alle anderen von Müller abgehandelten Disziplinen. Das verwundert vor allem für den Fall der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Ansätze (183-200). Statt ausführlicher über die im angloamerikanischen Raum bereits seit längerem erfolgreich etablierte Disziplin der „Visual Studies“ zu berichten, wird eher über Versäumnisse in Deutschland gesprochen. Nachfolgend wird den Lesern ein Eindruck aktueller Forschung zur visuellen Kommunikation vermittelt. Vor allem Untersuchungen zu Wahlkämpfen oder Politiker(selbst)darstellung werden referiert und nur sehr knapp über Film- und Fernsehforschung in der Medienwissenschaft berichtet.

Ähnlich knapp fällt die Darlegung der historischen und kunsthistorischen Forschung aus. Ob wirklich die „berühmtesten Historiker (...) ihre geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse an visuellem Quellenmaterial“ (S. 223) entwickelten, muß in dieser apodiktischen Form stark bezweifelt werden. Zudem ist zwar die „Historische Bildkunde“ verdienstvoll, doch lässt sich der Umgang der Geschichtswissenschaft mit dem Bild auf diese vor allem in Deutschland kultivierte Spielart nicht reduzieren, wie die kürzlich erschienene Arbeit von Peter Burke „Eyewitnessing: The Uses of Images as Historical Evidence“ (2001) belegt, die nun in einer deutschen Übersetzung vorliegt (Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003). Die Debatte um visuelle Quellen und somit um visuelle Kommunikation in der Vergangenheit hat im übrigen die Grenzen von Mittelalter und Früher Neuzeit überschritten, worauf Müller zwar verweist, allerdings an anderer Stelle (S. 114-116). Auch hat der Nationalsozialismus der „Historischen Bildkunde“ nicht den Garaus gemacht, sondern die Historische Bildkunde hat im Dienste der nationalsozialistisch orientierten Geschichtswissenschaft floriert, wenngleich wichtige Vertreter (z.B. S. Steinberg) ins Exil gedrängt wurden. Müller tut den Ansätzen der Kunstgeschichte ebenfalls ein wenig Unrecht, wenn sie neben der aktuellen Warburg-Forschung nur - sehr knapp - die Stilgeschichte (fast ausschließlich im Hinblick auf Heinrich Wölfflin) und anschließend nochmals den ikonographisch-ikonologischen Ansatz Panofskys referiert. Die gegenwärtige Kunstgeschichte wird von Müller zu stark mit den Aktivitäten von Aby Warburg (1866-1929) und dessen unmittelbaren intellektuellen Umfeld identifiziert, wobei sie die während der NS-Zeit in Deutschland verbliebenen „Mitglieder“ wie z.B. den Mediävisten Percy Ernst Schramm ausblendet. Es kann daher nicht verwundern, wenn im dritten Teil insbesondere Warburg-Forschung und politische Ikonographie - die Müller ohnehin favorisiert und als einen der wegweisenden Ansätze der visuellen Kommunikation bezeichnet (S. 214) - sowie die Exilforschung als Forschungsdesiderata aufscheinen. Hier wäre eine etwas differenziertere Betrachtung hilfreich gewesen.

Vor dem Hintergrund, dass „Grundlagen der visuellen Kommunikation“ als Pionierleistung im Rahmen von Politologie, Kommunikations- und Medienwissenschaft gesehen werden muss und auch keinen enzyklopädischen Anspruch vertritt, sind die Ungleichgewichte und die Ungenauigkeiten wohl vor allem der komprimierten Darstellung geschuldet, sowie einer manchmal zu stark Hamburg-zentrierten Betrachtung. Entscheidend ist, dass Müller insgesamt deutlich werden lässt, wie fruchtbar und anschlussfähig „visuelle Kommunikationsforschung“ ist und Themen wie Krieg und Propaganda, Werbung, politische Öffentlichkeit usw. ohne Bildanalysen kaum sinnvoll zu bearbeiten sind. Es ist daher nur zu wünschen, dass die „Grundlagen“ ihr Ziel erreichen und die Leserinnen und Leser zur Nutzung der angegebenen Literatur anregt.

Eine Kritik wiegt aber gerade bei einem explizit als Lehrbuch entworfen Werk viel schwerer: Es enthält kaum einen Literaturhinweis zu Hilfsmitteln (mit Ausnahme der Warburg Electronic Library und dem Bildindex Politische Ikonographie) oder einschlägigen Lexika. Kaum ein Nachschlagewerk wird vorgestellt oder kommentiert, weder zu einzelnen Medien, zur Ikonographie, Symbolen oder Allegorien noch zu Bilder- oder Mediensammlungen, sei es allgemeine, sei es solche zu spezielleren Sammlungen (z. B. zum politischen Plakat oder dem Porträt). Auch über einschlägige Fachzeitschriften oder WWW-Angebote werden die Leser und Leserinnen nicht genügend informiert. Das macht den Einstieg in dieses spannende Forschungsfeld nicht eben einfacher.

Müller, Marion G.: Grundlagen der visuellen Kommunikation, Konstanz: UVK 2015
ISBN-10: 3-8252-2414-7, 299 S., zahlreiche teils farb. Abb., € 19,90

Empfohlene Zitation:
Jens Jäger: [Rezension zu:] Müller, Marion G.: Grundlagen der visuellen Kommunikation, Konstanz 2015. In: ArtHist.net, 13.06.2003. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/25697>.

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