REV 29.03.2003

Zeitschrift "P Sanat Kültür Antika"

Rezensiert von Burcu Dogramaci, Hamburg

Aus kunsthistorischer Sicht liegt die Tuerkei abseits des geographischen Raumes, fuer den sich das Fach seit seiner Entstehung zustaendig fuehlt. Situiert auf der markanten Trennungslinie zwischen Asien und Europa, ist das Land auf den meisten Lehrplaenen deutscher kunsthistorischer Institute praktisch nicht existent. Wenn ueberhaupt, konzentriert sich ein gewisses Interesse auf das Kunstgewerbe sowie das sakrale und feudale Bauwesen der Osmanenzeit. Zwar haben einzelne europaeische Wissenschaftler versucht, den Fokus auf die Kunstgeschichte der Tuerkei zu lenken. Da ist auf den umstrittenen Wiener Kunsthistoriker Josef Strzygowski zu verweisen, der eine Expansion der Wissenschaft auf die Kunst des Orients forderte. Vor allem aber die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg praktizierte eine interdisziplinaere Verzahnung geistesgeschichtlicher Forschung; Orientalisten wie Wilhelm Prinz oder Hellmut Ritter partizipierten in den zwanziger Jahren an den Aktivitaeten dieses progressiven Hamburger Instituts. Auch in juengerer Zeit gab es Ansaetze, sich vor allem der modernen und zeitgenoessischen tuerkischen Architektur anzunehmen. Einzelne lobenswerte Publikationen wie ein Spezialheft der Zeitschrift "Architecture and Urbanism" zur zeitgenoessischen Architektur in der Tuerkei (2000/7) oder die Habilitationsschrift des Kunsthistorikers Bernd Nicolai zum Thema "Moderne und Exil. Deutschsprachige Architekten in der Tuerkei" (Berlin 1998) bilden jedoch noch die Ausnahme.

Dieser Umstand kann erstaunen, bestehen doch zwischen der Tuerkei und Deutschland besondere kulturelle Bande. Zum einen griffen zahlreiche deutsche Kulturschaffende wie Bruno Taut, Rudolf Belling und Carl Ebert als Lehrer und Kuenstler in den kuenstlerischen Entwicklungsprozess der Tuerkei ein. Zum anderen partizipieren die Kinder und Enkelkinder der seit den sechziger Jahren in die Bundesrepublik migrierten sogenannten "Gastarbeiter" an der zeitgenoessischen Kulturszene unseres Landes. Obwohl allein diese wichtigen historischen Schnittstellen ursaechlich fuer eine weiterfuehrende Beschaeftigung auch aus kunsthistorischer Sicht sein koennten, stellt die zeitgenoessische Kunst und Architektur der Tuerkei wohl fuer die meisten westeuropaeische Kunsthistoriker eine terra incognita dar. Allein die in Istanbul stattfindende Biennale fuer Gegenwartskunst vermag das Vakuum temporaer anzufuellen und lenkt das Interesse auf einen allzu fernen Schauplatz. Aber selbst den Besuchern dieses Ereignisses wird sich nur mit Muehe erschliessen, inwieweit die ausgestellten Werke auch auf spezifische kuenstlerische Traditionen des Landes Bezug nehmen.

Allenfalls Namen wie der des fuehrenden Baumeisters der Osmanenzeit, des Moscheenarchitekten Sinan, sind auch hierzulande gelaeufig - sein Wirken ist bezeichnenderweise vor allem durch die Monographie des Schweizer Architekten Ernst Egli popularisiert worden, der seinerseits durch seine jahrelange Bautaetigkeit fuer die Regierung und als Rektor der Architekturfakultaet der Akademie der schoenen Kuenste in Istanbul eine bedeutende Rolle in der juengeren tuerkischen Kunstgeschichte gespielt hat. Ansonsten jedoch ist unsere Vorstellung von der tuerkischen Kunst durch die tiefgreifenden Restriktionen eines islamischen Abbildungsverbots gepraegt, das eine der christlichen Hemisphaere aehnelnde kontinuierliche Entwicklung der Bildhauerei und Malerei unmoeglich gemacht zu haben scheint.

Welche Facetten die Geschichte der Kuenste in der Tuerkei haben, vermittelt zumindest in Ansaetzen das in Istanbul herausgegebene Kunstmagazin "P Sanat Kültür Antika", das im Jahr 1996 begruendet wurde. Vorab sei gesagt, dass es sich nicht um eine Fachzeitschrift mit wissenschaftlichem Anspruch handelt. Die aufwaendige Hochglanzbroschuere spricht vor allem den kunstinteressierten Laien und den Kunsthaendler an und ist wohl am besten mit der hiesigen "Weltkunst" zu vergleichen. Jedes Heft des alle drei Monate erscheinenden Periodikums ist einem Thema gewidmet, zu dem es Aufsaetze zur westlichen und tuerkischen Kunstgeschichte vereinigt. Liebe, Medizin, Schiffe oder Tiere in der Kunst - schon die Titel vermitteln, dass hier keine vertiefte Beschaeftigung mit einer kuenstlerischen Position gesucht wird oder gar ein intensiver Diskurs entstehen kann. Vielmehr schreiben die tuerkischen und nichttuerkischen Autoren ueber die vielfaeltigen Moeglichkeiten der Umsetzung eines Themas in der europaeischen UND der tuerkischen Kunst der vergangenen Jahrhunderte. Unter dem Leitspruch "Von der Vergangenheit zur Gegenwart, von Ost nach West" wird der Brueckenschlag zwischen Zeiten und Re(li)gionen versucht. Die Texte sind informativ, leicht verdaulich und vor allem ueppig illustriert. Weder dem Betrachtungszeitraum noch der kuenstlerischen Gattung sind Grenzen gesetzt, und so wechselt der Fokus der Autoren von der antiken Vase zu Pisanellos Tierzeichnungen und osmanischen Buchmalereien. Das Crossover von Epochen, Kuenstlern und Laendern wirkt willkuerlich, ja beliebig, und die Beitraege zu Rembrandts "Anatomie des Dr. Tulp" (P, 2002/27) oder Chagalls Adaptionen der Fabeln La Fontaines (P, 2002/6) duerften fuer den kundigen Leser kaum Neuigkeiten bringen. Anders die Beitraege ueber tuerkische Kuenstler: Ein Artikel ueber den Maler Bedri Rahmi (P, 2003/7), der 1931, nach seiner Ausbildung an der Akademie der Kuenste in Istanbul, nach Paris ging und augenscheinlich sowohl Marc Chagall als auch die deutschen Expressionisten rezipierte, atmet den Reiz des Unbekannten. Ebenso anregend ist ein Aufsatz ueber den tuerkischen Impressionisten Vecih Bereketoglu (P, 2002/26), der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Seestuecke und Schiffe malte, all dies vor der Kulisse Istanbuls, die sich durch den flirrenden Farbauftrag aufzuloesen scheint. Ohne Frage ist Bereketoglu ein eindrucksvoller Protagonist der tuerkischen Freilichtmalerei, der auf die franzoesischen Impressionisten des 19. Jahrhunderts reagierte und somit zu jener breiten internationalen Bewegung von Malern gehoerte, die wesentliche kuenstlerische Erfahrungen in Frankreich sammelten.

Sicherlich, das "P" Kunstmagazin ist keine Publikation, die auf eine kritische Hinterfragung kultureller Wechselbeziehungen abzielt. Dennoch kann "P" Denkanstoesse geben, was Parallelen und Unterschiede zwischen zwei kulturellen Sphaeren betrifft, die sich im ungleichmaessigen Takt historischer Ereignisse beruehrt und entfernt haben. Gerade deshalb erscheint es wichtig, eine Publikation wie "P" zumindest als Informationsmoeglichkeit wahrzunehmen - und dies trotz ihres populaeren Inhalts. Denn die Zeitschrift bietet, da sie zwei Mal im Jahr auch in englischen Ausgaben erscheint, der tuerkischen Sprache Unkundigen eine Moeglichkeit, sich ueber historische und zeitgenoessische Entwicklungen jenes saekularisierten islamischen Landes zu unterrichten. Im Gegensatz zur tuerkischen "Mutterausgabe" fokussieren gerade die englischsprachigen Hefte von "P" die islamische, osmanische und tuerkische Kunst. Da das 21. Jahrhundert unter dem widerspruechlichen Vorzeichen einer umfassenden Globalisierung durch Technisierung und der gleichzeitigen Radikalisierung von Religions- und Kulturkonflikten zu beginnen scheint, sind Moeglichkeiten der Information ueber einen bislang wenig bekannten Kulturraum der Begegnung und Vermittlung abendlaendisch-christlicher und orientalisch-muslimischer Einfluesse und Traditionen nur willkommen.

Vor diesem Hintergrund waere es wuenschenswert, wenn deutsche Institutionen sich mit einer Zeitschrift wie "P" ausstatteten. Vielleicht waere damit ein Schritt in Richtung Grenzerweiterung getan, wie er anhand der empfehlenswerten Architekturzeitschriften wie "Mimarlik" oder "Arkitekt", die bereits an einigen deutschen Bibliotheken gehalten werden, leider nur fuer tuerkischkundige Leser moeglich ist. Beide Magazine taten sich kuerzlich mit deutschen Themen hervor. "Mimarlik" beobachtete unter dem Titel "Die Wiedergeburt einer Hauptstadt" die baulichen Transformationen in Berlin (2001/12), und "Arkitekt", die mit Unterbrechungen seit 1931 auf dem Markt ist und somit die architektonische Entwicklung der Tuerkei kontinuierlich begleitete, hatte juengst den Aufmacher "Deutsche Architekten in der Tuerkei" auf der Titelseite (2002/04). Die deutsche Bautradition und Gegenwartsarchitektur, so scheint es, ist fuer tuerkische Fachzeitschriften kein unbekanntes Terrain, sondern ein selbstverstaendlich wahrgenommener Ausgangspunkt fuer aktuelle Reflexionen.

Empfohlene Zitation:
Burcu Dogramaci: [Rezension zu:] . In: ArtHist.net, 29.03.2003. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/25551>.

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