Täuscht nur der Eindruck oder ist Frankreich ein wenig aus der Mode gekommen, zumindest in der deutschsprachigen Kunstgeschichtsschreibung? Und schon gar das französische 16. Jahrhundert? Vergleicht man die Publikationen zur französischen Kunst mit denjenigen zur italienischen wird jedenfalls ein gewisses Ungleichgewicht deutlich, gerade für das 16. Jahrhundert. Dabei wird in dieser Epoche die französische Kunstproduktion nicht zuletzt von Italienern bestritten. Man gewinnt beinahe den Eindruck, als übten die französischen Werke eine fast verstörende Wirkung aus.
Seltsame, verstörende und überraschende Elemente sind allerdings in der französischen Hofkunst der Epoche König Franz’ I. tatsächlich offenkundig, besonders im Vergleich mit Italien. Es werden ja z.B. wirklich – um ein klassisches Klischee zu bedienen – erotische Themen in einer Offenheit präsentiert, die es in Italien nicht gibt. Nicht selten fehlt aber überhaupt eine eindeutige inhaltliche Festlegung. Den Erwartungen, die von italienischen Vorbildern geprägt sind, wird nicht entsprochen, sie werden statt dessen über- oder gelegentlich auch unterboten. Der Anfangsverdacht liegt nahe, die verstörende französische Hofkunst des 16. Jahrhunderts mit Franz I. in Verbindung zu bringen, denn der König pflegte eine Herrschaftspraxis, die offenkundig darauf angelegt war, seine Zeitgenossen zu verstören und zu überwältigen. So sinnvoll dieser Anfangsverdacht auch ist, so sehr problematische Konsequenzen könnte er in der Konkretisierung haben. Politikwissenschaft und Psychologie könnten über die Kunstgeschichte einen schnellen Sieg davontragen. Christine Tauber schreibt zwar tatsächlich eine politische Kulturgeschichte, erliegt jedoch keinesfalls der Versuchung, Kunst nur als Funktion von Politik zu denken – oder gar als Funktion der „Persönlichkeit“ Franz’ I. Ihr gelingt die Synthese von „Kunstgeschichte“ und „dezidiert politischer Kunstgeschichte“ und sie unterläuft damit a priori alle methodisch zu kurz greifenden Instrumentalisierungs- und Abbildungsdebatten.
Am Beginn steht nach einer kurzen Einleitung ein Kapitel mit der Überschrift „Italianità oder Gallità. Die Herrschaftsinszenierung des französischen Königs in seinen ersten Regierungsjahren“ (S. 9-49). Damit wird direkt der Kern der Schwierigkeiten berührt, die es bei der Behandlung der französischen Kunst des 16. Jahrhunderts gibt. Im Gegensatz zur gängigen Forschungsmeinung betont die Verfasserin das anfängliche Überwiegen einer spezifisch französischen Ausrichtung der höfischen Repräsentation, da sie die schon traditionelle Präsenz vieler Italiener noch nicht als „bewußte Instrumentalisierung italienischer Kultur und Kunst“ (S. 9) deutet. Immerhin war der König von Frankreich jahrhundertelang einer der wichtigsten Akteure der italienischen Politik. Bis zur Niederlage von Pavia schien es für Franz I. möglich, Italien dauerhaft für Frankreich zu gewinnen, erst danach war es für ihn sinnvoll, ja nötig, aus Frankreich gewissermaßen das bessere Italien zu machen (S. 11).
Das folgende Kapitel heißt „Kunstspiel als Überlegenheitsdemonstration: Zur Strukturlogik manieristischer Kunst“ (S. 51-75). Die Verfasserin umschreibt hier ihr Konzept des Manierismus. Sie versteht ihn als einen genuin modernen Stil, der wesentlich durch einen Habitus der Überbietung gekennzeichnet ist und der gerade daher auch politisch und zur Herrschaftsrepräsentation einsetzbar ist. Und zwar gerade dann, wenn die tatsächliche Herrschaftsausübung problematisch wird. Zum Vergleich wird an Rudolf II. erinnert (S. 289). Mit dieser Sicht der Dinge konterkariert die vorliegende Arbeit durchaus ein immer noch wirksames landläufiges Vorurteil, das Manierismus gern als „l’art pour l’art“ deuten möchte. Manierismus kann sehr wohl ein „Politikum“ sein.
Das vierte Kapitel hat folgerichtig einen politikgeschichtlichen Schwerpunkt, denn hier charakterisiert die Verfasserin das politische Handeln Franz’ I. Sie greift dabei die Begegnung zwischen ihm und Heinrich VIII. von England heraus (1520) sowie die Zweikampfangebote Karls V. Bei diesen Gelegenheiten erwies sich Franz I. jeweils als überraschend ungreifbar und als verstörend unberechenbar. Berühmt wurde sein unangemeldeter morgendlicher Besuch im Schlafzimmer Heinrichs VIII. Ebenso eigentümlich war die Art seiner Weigerung, sich den Zweikampfforderungen Karls V. zu stellen. Franz I. verstieß mit seinen gezielten Regelbrüchen aber nicht einfach nur gegen traditionelle Zeremonialpraktiken, er überbot vielmehr die Erwartungen der Zeitgenossen – wahrlich eine manieristische Herrschaftsausübung. Zu dieser gehörte jetzt strukturell die Unberechenbarkeit des Königs, der seine Arcana keineswegs in irgendwelchen Zeremoniellhandbüchern veröffentlichte. Ein Gedanke, der den Zeitgenossen nicht fremd ist, so protestierte etwa die Kurie gegen die nichtautorisierte Drucklegung (1516) des päpstlichen Caeremoniales. Gleichzeitig wird natürlich bereits an dieser Stelle eine zentrale Problematik deutlich: Der Betrachter bleibt von den Arcana Regis weitgehend ausgeschlossen. Das Modell „Franz I.“ eignete sich jedenfalls nicht für eine europaweite Rezeption wie später das Modell „Ludwig XIV“.
Der unberechenbare König, der sich immer neu und anders zeigt, erscheint dadurch gleichsam als ein „Rex artifex“ und erweist sich als überlegener und moderner Herrscher. Hierin erkennt Christine Tauber eine Besonderheit der Kunstpatronage des Königs, wie sie im fünften Kapitel darlegt (S. 131-193). Konkret liefert sie Fallstudien u.a. zu Rosso Fiorentinos Gemälde „Mose verteidigt die Töchter des Jethro“. Sie interpretiert das Bild als Entréebillet des Künstlers bei Hofe, ein Gedanke, der bisher analytisch noch nicht durchgeführt wurde, der aber wesentlich dazu beiträgt, die Charakteristika des Bildes zu verstehen. Breiten Raum nimmt ferner die Saliera Benvenuto Cellinis ein, sowie dessen weitere Projekte für Franz I. In der von Franz I. geübten Form von Kunstpatronage kam es zu einer Reziprozität der Abhängigkeiten zwischen Auftraggeber und Künstler. Der König braucht grenzüberschreitende „autonome“ Künstler, will jedoch die Deutungshoheit über die für ihn geschaffenen Werke behalten und kann letztlich nur allein „souverän“ sein. Der Bruch mit Cellini war also von Anfang an programmiert, da dieser die „Reziprozität der Abhängigkeiten“ nicht respektierte, während Rosso die innere Struktur der neuen Verhältnisse besser erkannt hatte.
Der sechste große Abschnitt (S. 195-289) widmet sich der Grande Galerie in Fontainebleau, in der nicht nur die Ideale des Königs besonders deutlich zur Geltung kommen, sondern die überhaupt sein wichtigstes Kunstprojekt war, das immer wieder ganz unterschiedlich gedeutet wurde. Logisch schließt sich dieses Kapitel an die vorangegangenen an, da hier Kunst, Politik und Patronageverhältnis zu den ausführenden Künstlern zusammenhängend dargeboten werden können, ebenso der italienische Kulturtransfer. Besonders wichtig dürfte der überzeugende Besichtigungsvorschlag sein, den die Verfasserin macht (S. 206-230). Bis heute erweist sich ja ein Besuch der Galerie durchaus als intellektuelle Überforderung des Betrachters. Nicht zuletzt weil die italienischen Vorbilder transformiert und z.T. auch persifliert und ironisiert werden, vor allem aber weil ein einheitlicher Concetto verweigert wird. Diese Verweigerung, verstanden als „programmatische Programmlosigkeit“, bot dem König die Möglichkeit, seine autoritative Deutungshoheit zu wahren. Und das hat er tatsächlich getan, nutzte er doch die Galerie, um hier Besucher zu empfangenen, denen er stundenlang die Darstellungen an den Wänden erläuterte. Man hat mit gutem Grund angenommen, die Anlage sei vor allem für den Besuch Karls V. bestimmt gewesen, den der König tatsächlich am 25. Dezember 1539 durch die Galerie führte. Der Kaiser war nicht beeindruckt.
Die Mittel, die italienischen Vorbilder zu überbieten, waren vielfältig und nicht unproblematisch: Das gespiegelte Zitat, das seinerseits ein anderes Zitat zitiert, wird eben nicht von jedermann verstanden. Besonders deutlich wird die Komplexität der Galerie bei den metamorphotischen Spiegelungen, die ein Höchstmaß an Gelehrtheit und ein großes Bildgedächtnis erfordern. Dafür bieten sie aber auch die Möglichkeit, sich an der eigenen Erkenntnis zu erfreuen. Der König konnte hier seine eigenen Kenntnisse glänzen lassen, und unangenehme Fragen hatte er – als Meister des Spiels – nicht zu befürchten. Karl V., der die „direkte“ Kunst Tizians besonders schätzte, wird an der „indirekten“ Rossos nicht viel Geschmack gefunden haben. Auf jeden Fall besitzen die Wände eine faktisch undurchdringliche Verweisstruktur, die für den Betrachter als solche nicht durchschaubar ist und auch nicht sein sollte.
Wenn die Galerie durchaus die Probleme des hermetischen königlichen Kunstsystems demonstrierte, das im Grunde nur auf eine kleine Elite zugeschnitten war, ja sogar letztlich nur auf den König selbst, dann dürfte das nicht verborgen geblieben sein. Die Welt der Galerie war wesentlich eine der Moderne, lieferte allerdings auch eine beachtliche Menge von Antikenzitaten, die den imperatorischen Anspruch des Königs betonten. Dennoch erschien es Franz I. nötig, auch tatsächliche Antiken vorzuweisen, die er sich in der Form von Antikenabgüssen verschaffte. Franz I. ließ „erstmals in der Geschichte der Antikenkopien identisch große Bronzeabgüsse der Belvederischen Antiken anfertigen“ (S. 305). Besonders wichtig war der Laokoon. Damit überbietet er sowohl die Marmororiginale als auch die späteren Marmorkopien. Im letzten Kapitel werden diese Kopien zusammen mit einigen anderen Werken ausführlich behandelt (S. 291-338). Auch diese Abschnitte zeigen die souveräne Stellung des Königs, der die Reproduktions- und Deutungshoheit über die höchstrangigen Kunstwerke beanspruchte, die die Epoche kannte. Die Konkurrenz zu den römischen Imperatoren – von der Antike bis zur Gegenwart – und auch zu den römischen Päpsten wird an dieser Stelle besonders offenkundig.
Insgesamt gelingt Christine Tauber ein erstaunliches Buch. Das zeigt sich zuerst in ihrem Umgang mit kulturwissenschaftlichen Methoden, denn die hier praktizierte Kunstgeschichtsschreibung ist eben nicht theorielastig, sondern theoriegestützt. Und vor allem verschwinden die untersuchten Gegenstände nicht hinter der Theorie. Immer wird Kunst als ästhetische Hervorbringung in ihrem spezifischen ästhetischen Eigenwert betrachtet. Letztlich geht es der Verfasserin darum, in einem im besten Sinne fächerübergreifenden Ansatz, strukturale Vergleichbarkeiten zwischen der Herrschaftspraxis Franz’ I. und der von ihm geförderten Kunst herauszuarbeiten. Das geschieht dank der zurückhaltenden Anwendung strukturanalytischer Modelle. Nie wird etwas behauptet, was sich nicht anhand von Bild- oder Textquellen belegen ließe. (Das unterscheidet dieses Buch von vielen anderen Büchern.) Wie nebenher entsteht dabei ein sehr tragfähiger Begriff des französischen Manierismus. Besonders gelungen ist sicher die ausführliche Analyse der Grande Galerie in Fontainebleau, die nicht zu unrecht heute meist Galerie François Ier genannt wird. Man darf diese Passage wohl als ein Kernstück der vorliegenden Arbeit ansehen. In diesen Abschnitten wird die französische Renaissance sehr klar als ein aus Kulturtransfer resultierendes Phänomen erkennbar. Ebenso lehrreich sind die Untersuchungen zu den Antikenkopien, die auch allgemeinere Rückschlüsse zur Bedeutung von Kopien sowie zur Materialikonographie erlauben.
Das Thema ist insgesamt nicht gerade leicht, denn die Kunst, um die es hier geht, ist nun einmal ausgesprochen intellektuell und soll den Betrachter überfordern, wie klar herausgearbeitet wird. In deutlicher Unterscheidung vom Helden des Buches widerstand die Autorin der Versuchung, ihre eigene profunde Gelehrsamkeit zu nutzen, um einen hermetischen Text zu produzieren, der ein ähnliches Gefühl der Exklusion vermitteln würde wie die Galerie François Ier. Das geschieht auch deshalb nicht, weil Christine Tauber einen angenehmen Stil schreibt, der die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen macht, gewissermaßen in einer nicht-manieristischen Überbietung der manieristischen Gegenstände. Nicht vergessen sei die solide Ausstattung des Bandes. Das vorliegende Werk ist eine große Leistung, die die deutsche kunsthistorische Frankreichforschung in hervorragender Weise bereichert.
Tauber, Christine: Manierismus und Herrschaftspraxis. die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François Ier (= Studien aus dem Warburg-Haus), Berlin: Akademie Verlag 2009
ISBN-13: 978-3-05-004565-8, 419 S., EUR 79.80
Recommended Citation:
Hecht Christian: [Review of:] Tauber, Christine: Manierismus und Herrschaftspraxis. die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François Ier (= Studien aus dem Warburg-Haus), Berlin 2009. In: ArtHist.net, Jun 7, 2009 (accessed Nov 5, 2024), <https://arthist.net/reviews/251>.
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