Der reich bebilderte, systematisch angelegte Sammelband, der mit 500 Seiten und 20 in deutsch, englisch und französisch verfassten Beiträgen von renommierten Professoren, Museumsmitarbeitern, Forschern, aber auch von Doktoranden erstaunlich gut handhabbar bleibt, ist das Ergebnis zweier Workshops (2005, 2006) und der Arbeit des Teilprojekts „Revolutionserinnerung in der europäischen Bildpublizistik 1789–1889“ am Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen“ der Justus-Liebig-Universität Gießen. Das Buch schließt sich an einen bereits 2007 publizierten Band an und greift einen Teilbereich des dort skizzierten Forschungsfeldes heraus: die Frage „nach der internationalen Bildwirkung der Französischen Revolution“.[1] Der jetzt erschienene Band vertieft den vergleichenden, interdisziplinären Ansatz einer „kulturhistorischen Bildwissenschaft“ und überträgt aus der Literaturwissenschaft abgeleitete Konzepte wie Intermedialität und Interpikturalität auf die Bildwissenschaft.[2] Das behandelte Thema ist überaus komplex, sollen hier doch über einen Zeitraum von 100 Jahren die Voraussetzungen der Bildpublizistik, ihre Produktion und internationale Verbreitung, ihre europäischen Märkte und Rezipienten sowie ikonographische Transfers, mediale Aspekte, visuelle Diskurse und ihre Instrumentalisierung verhandelt werden – um nur einige Bereiche zu nennen.
Der Anspruch des Sammelbandes ist kein geringerer als eine „Archäologie [der] politischen Kultur“ (XIV), die sich in der Bildpublizistik zwischen der Französischen Revolution und dem späten 19. Jahrhundert niederschlug. Jedoch ist ein umfassender Überblick selbst anhand von 20 exemplarischen Beiträgen nur schwer zu leisten, zumal sich einige der Texte auf höchst spezielle regionale oder ikonographische Aspekte oder kurze Momentaufnahmen konzentrieren. Es ist trotz allem sehr begrüßenswert, dass versucht wird, enge kulturelle Grenzen und chronologisch zu kurz greifende Abschnitte ebenso zu erweitern wie die historisch-politische Gebrauchsgraphik überhaupt wissenschaftlich fruchtbar zu machen und ihre vielfältigen Text-Bild-Beziehungen zu anderen Gattungen und Medien herauszustellen – und zwar nicht nur im Rahmen der „Nationalgeschichte“ einer einzelnen Epoche. Als Ausgangshypothese dient die Annahme, dass „die neuen bildsprachlichen Prägungen der Französischen Revolution sich nicht nur während der 1790er Jahren über weite Teile Europas verbreiteten, sondern auch bis ins späte 19. Jahrhundert als gemeinsame Referenz der demokratischen und republikanischen Bewegungen fungierten“ (XIII–XIV).
Der Band ist in vier chronologische Abschnitte gegliedert, wobei sich der erste mit der Französischen Revolution und der Zeit zwischen 1789 und 1799 befasst und naturgemäß der dichteste ist. Das zweite Kapitel widmet sich den Jahren unter Napoleon (1798–1815). Die letzten beiden Abschnitte behandeln größere Zeiträume (Vormärz bis 1849 und zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) und können das komplexe Sujet daher auch nur summarischer bzw. durch einzelne in die Tiefe gehende Analysen erfassen. Ergänzend zur chronologischen Gliederung werden im Vorwort sieben übergreifende Themenbereiche unterschieden: Produktion und Verbreitung, Produzenten und Rezipienten, Wechselspiel nationaler und internationaler Repertoires, Medialität und Intermedialität, bildpublizistische Konjunkturen, Zeitfaktoren sowie revolutionäre Bildrhetorik und ihre Interpikturalität.
Den Auftakt bildet ein Aufsatz von Tim Clayton (Fressingfield), der den internationalen Markt für englische Karikaturen von 1780 bis zu den Napoleonischen Kriegen untersucht und besonders die Rolle einzelner Personen, etwa von Rudolph Ackermann, für deren Vermittlung in Deutschland herausarbeitet. Bereits hier werden die pluralen Vernetzungen der Bildmedien und die gegenseitigen Abhängigkeiten in den Bildfindungen deutlich, die in weiteren Aufsätzen wiederholt besprochen werden. Leider bleibt es – neben Remigius Brückmanns (Bonn) methodischem Aufsatz zur deutschen antithetischen Karikatur um 1848/49, deren Vorläufer in der reformatorischen Bildsprache zu suchen sind – einer der wenigen Texte, die auch Vorbilder der revolutionären Bildpublizistik thematisieren. Ebenso bleiben generell technische Aspekte der Graphik weitgehend unberücksichtigt.
Inhaltlich knüpfen Pascal Dupuy (Rouen) mit einem Beitrag über englische Karikaturen zur französischen Revolution unter dem Konsulat sowie Stéphane Roy (Ottawa) an Clayton an. Roy behandelt den intensiven text- und bildlichen Dialog zwischen Frankreich und England bis 1830 und zwar jenseits der nationalstereotypischen Rivalitäten: Roy gelingt es, die Interdependenz ikonographischer Modelle sowie die Modalitäten ihrer Herstellung, ihrer Zirkulation und ihres Konsums sowie letztlich auch die zunehmende Kommerzialisierung der (reproduzierten) revolutionären Darstellung herauszuarbeiten. Dabei entsteht ein differenziertes Bild symbolischer und finanzieller britischer Dominanz auf dem französischen Graphikmarkt; anhand weniger Beispiele wird eindrücklich gezeigt, wie mühelos ikonographische Modelle über nationale und mediale Grenzen hinweg von einer zur nächsten Revolution hin und her zu wechseln vermochten.
In ähnlicher Weise thematisiert Rolf Reichardt (Gießen) prägnant den zeitabhängigen Bedeutungswandel eines Revolutionsmotivs zwischen 1789 und 1803: Der aus der strafrechtlichen Tradition des Ancien Régime stammende abgeschlagene Kopf („tête coupée“) steht zu Beginn der Revolution für ein spontanes Ritual der souveränen, sich erhebenden Volksmenge und ist zunächst positiv besetzt. Spätestens 1792 hingegen verkörpert seine Darstellung zwei Formen revolutionärer Justiz, den Racheakt bzw. die politische Guillotinierung, und verkehrt sich, verstärkt durch englische und deutsche Bildpublizistik, zur Anklage gegen die Revolution. Der im Vergleich zu den übrigen Texten etwas lang geratene Aufsatz von Christine Vogel (Vechta) und Rolf Reichardt behandelt das Fortdauern der bildlichen Revolutionserinnerung in französischen und deutschen Volkskalendern von 1789 bis 1849, die als bedeutende Akteure der politischen Öffentlichkeit herausgestellt werden. Die scheinbar naiv-volkstümlichen Kalender bedienten sich meist anlässlich von Jahrestagen der Revolution bekannter Motive (z.B. Sturm auf die Bastille), die durch selektive Übernahme und teilweise den Inhalt verkehrende Abwandlung für zwei konkurrierende Bildtraditionen eingesetzt werden konnten: die republikanische und die totalitäre. Der Beitrag von Christina Schröer (Münster) umfasst die Jahre 1795-97 und untersucht mithilfe detaillierter Bildanalysen speziell die royalistische, indirekte bis radikale Regimekritik unter dem Direktorium und damit verbunden die Herausbildung einer neuen politischen Kultur der Opposition. In dem klar strukturierten Text wird die Notwendigkeit zur differenzierten Betrachtung von Bildinhalten und Argumentationsstrategien besonders deutlich hervorgehoben. Der weit gespannte Beitrag von Michael Diers (Hamburg), der die Grenzen des Ereignisbildes auslotet und das Ende der Kunst zugunsten des populären Bildes um 1800 konstatiert, fällt insofern aus dem Rahmen, als er der einzige dezidiert kunsttheoretische Text ist.
Im zweiten Abschnitt stellt Philippe de Carbonnières (Paris) den außerordentlich reichen Bestand der bisher in der Forschung kaum beachteten pro-napoleonischen Karikaturen des Pariser Musée Carnavalet vor und deckt damit eine Form der Selbstbeschränkung in der bildpublizistischen Forschung auf. Marina Peltzer (Brüssel) arbeitet u.a. anhand von anti-napoleonischen Karikaturen aus St. Petersburg und Moskau die ambivalente Darstellung des russischen Volkes heraus, das einerseits als Befreier Europas auftrat, andererseits aber in einem alten feudalistischen System bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 – worauf die Bildpublizistik keinen geringen Einfluss ausübte – keinerlei eigene Rechte genoss.
Sehr instruktiv sind einige Beiträge im dritten und vierten Teil des Buches, welche die bisher auf Frankreich und England zentrierte Sicht auf andere Länder erweitern, so Philippe Kaenel (Lausanne), der sich mit der Schweizer Karikatur zwischen 1848 und 1890 auseinandersetzt. Er kann belegen, dass sich die Schweizer Bildpublizistik, die zwar sehr lokal verbreitet, aber aufgrund der 1828/29 eingeführten Pressefreiheit eine der reichsten in Europa gewesen ist, vor allem auf französische Modelle (u.a. Daumier), aber auch auf deutsche Vorlagen wie den „Kladderadatsch“ und die „Fliegenden Blätter“ stützte. Sie arbeitete vor allem mit Nationalstereotypen und trug zur Entwicklung einer schweizerischen Identität in Abgrenzung zu anderen Nationalitäten bei. Alberto Milanos (Mailand) Text löst sich von der bildlichen Übermacht der Französischen Revolution und verdeutlicht anhand der Verwendung von (National-)Farben in populärer italienischer Druckgraphik (Kalender, Spielkarten Fächer) während des Risorgimento die Konflikte zwischen patriotischer Propaganda und habsburgischer Zensur. Wolfgang Cilleßen (Frankfurt/M.) stellt fest, dass in den Niederlanden keine eigenständige Graphikproduktion zur Revolution von 1848 existierte und nahezu alle Porträts, Historien und Karikaturen, die meist abschreckende Aspekte der Revolution behandeln, nach deutschen, englischen oder französischen Vorbildern kopiert wurden. Hier lässt sich Ursula E. Kochs (München) analytisch umfangreicher Durchgang durch französische Bildzitate in Münchner und Berliner Satirejournalen bis um 1900 inhaltlich anschließen.
Am konkreten Beispiel von Eugen Napoleon Neureuthers bürgerlich-liberaler Serie zum 27.-29. Juli 1830 erläutert Werner Busch (Berlin) die Entstehung der neuen Gattung des historischen Genres und Raimund Rütten (Frankfurt/M.) behandelt anhand der Bildpublizistik der Citoyenne Marie-Cécile Goldsmid den künstlerischen Entwurf einer Sozialutopie. Der das Buch beschließende Text von Jürgen Döring (Hamburg) beleuchtet die verherrlichenden Mai-Bilder der sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in den 1890er Jahren. Diese zeichnen sich durch eine erstaunliche Vielfalt an Stil und Bildsprache aus und sollten die ästhetische Erziehung der Arbeiterschaft fördern. Damit entfernt sich der Text einerseits vom eigentlichen Thema des Bandes; andererseits wird der Bogen zur Anfangshypothese geschlagen, indem die Personifikationen der Freiheit und des Friedens auf ikonographische Vorbilder der Revolutionen von 1789 und 1848 zurückgeführt werden.
Die Beiträge mit ihren neuen Ansätzen und detailreichen Fallstudien gewähren in ihrer Vielschichtigkeit einen faszinierenden, wenn auch durchaus heterogenen Einblick in die politische Kultur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Sie führen die grenzüberschreitende Qualität des Bildmediums Druckgraphik deutlich vor Augen und illustrieren den regelrechten „Bilderkampf“ (XVIII) um die Deutung revolutionärer Ereignisse und Symbole sowie die Ausbildung eines kollektiven Gedächtnisses. Schlussendlich ist das Fehlen eines Registers zu bemängeln, wodurch eine thematische Suche praktisch unmöglich ist. Das ist bedauerlich, ergänzen sich doch mehrere Aufsätze hervorragend (z.B. Clayton/Roy) und erlauben dadurch eine differenziertere Betrachtung. Zitierweise und Bildunterschriften unterscheiden sich in den einzelnen Beiträgen hin und wieder (bei stellenweise gleichem Bildmaterial), was den Leser verwirren kann. Auch die Bildqualität erschwert es an wenigen Stellen, im Text beschriebene Details und zum Verständnis wichtige Feinheiten zu erkennen. Alles in allem darf man trotz der 2008 beendeten Förderung des Gießener Sonderforschungsbereiches auf hoffentlich folgende Publikationen der Autoren gespannt sein, die die begonnene Reihe fortzuführen vermögen.
Anmerkungen:
[1] Rolf Reichardt, „Interkulturelle Wechselbeziehungen der historischen Bildpublizistik als Forschungsaufgabe“, in: Kaenel, Philippe; ders. (Hgg.). Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert, Hildesheim u.a. 2007, S. 3-16, hier S.10. Elf der 20 hier eingeladenen Autoren konnten bereits zu diesem Band beitragen. Auch wird hier der Forschungsstand mit zahlreicher Literatur vorgestellt.
[2] Ebd., S. 3.
Cilleßen, Wolfgang; Reichardt, Rolf (Hrsg.): Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789 - 1889, Hildesheim [u.a.]: Olms 2010
ISBN-13: 978-3-487-14492-4, XX, 504 S., EUR 74.00
Empfohlene Zitation:
Christien Melzer: [Rezension zu:] Cilleßen, Wolfgang; Reichardt, Rolf (Hrsg.): Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789 - 1889, Hildesheim [u.a.] 2010. In: ArtHist.net, 03.01.2012. Letzter Zugriff 18.12.2024. <https://arthist.net/reviews/2471>.
Dieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.