The Camille Diaries
Art Laboratory Berlin, Online-Symposium organisiert von Regine Rapp und Christian de Lutz
Im Sommer 2013 nahm die Theoretikerin Donna J. Haraway an einem Workshop mit dem Titel „Narration Spéculative“ teil, wo sie gemeinsam mit anderen WissenschaftlerInnen die Geschichten von Camille verfasste. Diese fortwährende „spekulative Fabulation“ befasst sich mit der Vorstellung dessen, was es heißen könnte, klimaneutrale, umwelt- und verantwortungs-bewusste [response-able], „communities of compost“ und sympoietische Beziehungen zu mehr-als-menschlichen AkteurInnen zu bilden und zu erhalten. In Camilles Welten ist die Zahl der Weltbevölkerung auf drei Milliarden geschrumpft, jedes Kind hat mehrere Eltern und verfügt über die Wahl eines tierischen Symbionten - im Falle Camilles ist dies ein Monarchfalter.[1]
Das Symposium „The Camille Diaries“ hat diese spekulative Fabulation aufgenommen und in Form verschiedener künstlerischer Positionen, die vom 28. August bis zum 4. Oktober 2020 in der zugehörigen Ausstellung „The Camille Diaries: New Artistic Positions on M/otherhood, Life and Care“ im Art Laboratory Berlin zu sehen waren, weitergeführt.[2] Das Programm des Symposiums zielte auf einen Austausch von KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und künstlerischen Arbeiten, in welchem aktuelle Bedingungen und Entwicklungen, als auch neue Vorstellungsräume für ein fürsorgliches Zusammenleben reflektiert wurden. Dass die multiplen Perspektiven auch Reibungen und Verwicklungen hervorrufen können, wenn sie miteinander in Kontakt treten, wurde im Laufe des Symposiums wiederholt deutlich. So erinnerte Astrida Neimanis (Sydney) in ihrem Eröffnungsvortrag „The missing keyword“ an die Berücksichtigung von sorgetragenden Müttern. Neimanis bezog sich dabei auf posthumane, feministische Positionen wie sie u.a. Haraway vertritt, die ein grundlegendes Verantwortungs-Verhältnis zu anderen Arten und Organismen im Sinne einer „inter-species relationship“ fordern. Gleich zu Beginn des Symposiums fasste Neimanis den Konflikt zwischen feministischem Posthumanismus und der sozio-historischen Realität weiblicher Reproduktionsarbeit treffend zusammen: “at the end of the day, someone still has to clean up the shit in a companion species relationship.”
Das folgende erste Panel mit dem Titel „M/Others, Wombs, Placentas“ umklammerte und begrüßte diese streitbare Verwicklung und stellte reproduktive Technologien und die Verschmelzung von Substanzen und Körpern in den Fokus. Tuçe Erel (Berlin), die das Panel moderierte, betonte die bedeutsame Rolle von Provokation und Reibung, die Grundlage für eine offene Diskussion seien. Dabei stellten die KünstlerInnen der Ausstellung in kurzen Vorträgen zunächst ihre Werke sowie den Entstehungsprozess und Kontext desselben vor.
Margarita Pevere (Berlin/Helsinki) präsentierte von der Decke hängende gläserne Labor-Behältnisse in Herz-Form, die flüssige Bakterienkulturen und aus Urin extrahierte Hormone der Künstlerin beinhalteten. Einer Verschmelzung von mehr-als-menschlichen Akteuren ging die Arbeit von Ai Hasegawa (Tokyo) nach, die sich entlang des Gedankenexperiments entspann, aussterbende und bedrohte Tierarten in menschlichen Gebärmüttern aufzuziehen. Die Auseinandersetzung mit Reproduktionsgewebe bildete in anderer Form auch den Mittelpunkt der Arbeit von Cecilia Johnsson (Amsterdam), die in Zusammenarbeit mit Rodrigo Leite De Oliveira (Amsterdam) das Projekt „HAEM“ entwickelte. Dafür gewannen sie molekulares Eisen aus menschlichen Plazentas, das nach der Trocknung in einem Eisenofen erhitzt und anschließend zu einer metallenen Kompassnadel geformt wurde.
In der anschließenden Panel-Diskussion wurden die gezeigten künstlerischen Arbeiten unter den Begriffen von Biopolitik und Ressourcen betrachtet. Dabei verhandelten die Diskutierenden die eigenen Kontexte und ihre Rolle in einer ökologisch-globalen Komplexität, die die Figur der Kunstschaffenden und das Format der zoom-Konferenz als biopolitisches Privileg thematisierte.
Das zweite Panel verlagerte den Schwerpunkt hin zu fluiden und wässrigen Substanzen. Unter dem Titel „Fluid Inheritance“ wurden jedoch auch dynamische Verbindungen zu Themen wie biochemischer Relation, Kooperation und Sorge gezogen. Eine Diskussionsgrundlage bildete hier Neimanis Buch "Bodies of Water", das Wasser als transversale Materie versteht, mit welcher menschliche Körper in intensivem Austausch und Abhängigkeit stehen.[3]
Špela Petric (Amsterdam/Ljubljana) zog Pflanzen mithilfe menschlich-hormonaler Substanzen heran und untersuchte dabei deren biochemische Kooperation. In „Phytoteratology“ schlugen diese monströsen Körper Verbindungen zu Fragen von Körpergrenzen, deren endokriner Transgression, als auch möglicher Toxizität. Dies griff auch Mary Maggics (Wien) fortwährender Recherchekomplex „River Gynecology“ zum Kali Code Fluss in Indonesien auf. Mit Maggics Arbeit wurde auch der bisher eher unterschwellig gebliebene Aspekt kolonialer Machtverhältnisse thematisiert, der im Spiegel der geopolitischen Lage von Müll- und Abfallhandel betrachtet wurde. „River Gynecology“ fragte darüber hinaus nach einer möglichen Sorge-Beziehung zum Kali Code Fluss, der in der ansässigen Bevölkerung als „highway“ für mythische Figuren gilt. Die Installation „Mammalga“, die Naja Ankarfeldt, Amanda Baum und Rose Leahy (Kopenhagen/London) als zeremonielles Ritual mit einer invasiven Algenart entwickelten, führte diese spirituelle Komponente fort und Laura Benítez Valero (Barcelona) nannte die vorangegangenen Arbeiten Formen einer „production of knowledge for life“. Valero griff auf das Diktum des „Situierten Wissens“ von Haraway zurück und betonte – auch ihr eigene prekäre Lage einbeziehend – die unter den aktuellen Umständen einer Pandemie unverzichtbare Forderung nach einer Re-Artikulation von Sorge.
Passenderweise folgte darauf das dritte Panel „Modes of Care“, das nicht nur verschiedene Begriffe von Sorge, sondern auch Ambivalenzen von Sorgebeziehungen entfalten konnte. Den Beginn machte die filmische Arbeit von Sonja Levy (London), in welchem die Rolle von Kunstschaffenden im Anthropozän hinterfragt und damit bewusst die eigene Praxis zur Disposition gestellt wird. „For the Love of Corals“ beschreibt Korallen als subversive Figuren. Sie zerrütten die kanonisierten Kategorien der westlich-kolonialen Naturgeschichte und untergraben den Begriff der Individualität in zweierlei Dimensionen: erstens als symbiotische Zusammenschlüsse von Organismen und zweitens als sensitives Resonanzbild für umweltliche Veränderungen. Damit veranschaulichen Korallen gegenseitige Abhängigkeiten, die innerhalb der westlich-modernen Ausstellungsarchitektur und Exponat-Anordnung in Naturkundemuseen zumeist bei Seite gelassen werden. Auf Levys Film antwortend, arbeitete der Anthropologe Stefan Helmreich (Cambridge, USA) in seinem fesselnden Videoessay ein Bedeutungsspektrum der Farbe Blau im Spannungsverhältnis von An- und Abwesenheit heraus. Während er Blau dort zu Beginn als Signifikant eines Abwesenden einführt, wird die Simulation blauen Mondlichts in Levys „For the Love of Corals“ zum Symbol des Fortlebens, da hierdurch die Fortpflanzung von Korallen angeregt werden soll. In Helmreichs wie auch Levys Arbeit wurde Sorge vor allem in Hinblick auf diese drohende Abwesenheit behandelt.
Nicole Clouston (Ontario), die mit „Mud (Berlin)“ eine lebendige Skulptur aus langen Prismen zeigte, in denen verschiedene Schlamm-Nährstoff-Kombinationen angeordnet sind, arbeitete überdies mit der Problematisierung des Sorgebegriffs. Mit dem Verweis auf María Puig de la Bellacasas Buch "Matters of Care" erörterte Clouston die Tendenz von Sorgebeziehungen zu paternalistischen, unausgeglichenen Machtverhältnissen.[4] Eine Perspektive, die Tarah Rhoda (New York) mir ihrer Arbeit „Ourglass“ zuweilen unterstreichen konnte.
Helmreich fasste das Panel mit der Feststellung zusammen, dass alle Arbeiten von einer „luminal politics“ durchdrungen seien. Sowohl in Levys Film, Cloustons Skulptur und dem Vortrag von India Mansour (Berlin) über mikrobielle Biosphären werde die Lichtzufuhr als Medium von Sorge betrachtet, das sowohl deren fürsorgliche sowie paternalistische Dimension verdeutliche. Die Korallen in Levys Film werden durch künstliche Tageslichtsimulation zur Fortpflanzung und damit zum Bestehen angeregt; der Schlamm in den plexigläsernen Prismen von Cloustons Arbeit wird rund um die Uhr mit Licht versorgt, um mikrobielles Wachstum zu fördern; und Biosphären als Modelle basieren auf eben der energetischen Licht-Durchlässigkeit abgeschlossener Glas-Sphären.
Beschlossen wurde das Symposium mit dem Panel „M/others and Future Humans“, das mit dem Vortrag des Anthropologen Eben Kirksey (Melbourne) noch einmal die vorangegangenen Beiträge und Diskussionen unter dem Stichwort der reproduktiven Biotechnologien neu zusammenfasste. Darin wies Kirksey vor allem auf die konkret existierende Subjektivitätsproduktion in einer patriarchal-rassistischen Gesellschaft und die Fabulation von anderen Formen der Subjektivität, Sorge und Bewusstsein hin. Weitere „missing keywords“ konnten hier in Bezug auf queer-, trans- und „crippledness“ gesetzt und das Potenzial von biotechnisch erweiterbaren „gender-becomings“ abseits dominanter heteronormativer Kreisläufe, herausgestellt werden.
Mit facettenreichen Beiträgen brachte das Symposium eine Vielzahl dieser „missing keywords“ zu Tage, die sich fortlaufend sammelten und den Fokus beständig umlagerten. Insgesamt verknüpften sich die gezeigten Arbeiten und Beiträge in immer wieder ungeahnten Konstellationen und konnten somit auch formal dem Anspruch der Tagung, symbiotische Geflechte zu untersuchen, gerecht werden. Besonders prägnant war dabei die intensive Auseinandersetzung mit den gezeigten Kunstwerken, mit denen die theoretische Diskussion zugleich Fokus und Situiertheit gewann. In diesem Sinne hat das Symposium an die Geschichten von Camille angeschlossen, die – so Haraway – sich nach einem dichteren Gewebe sehnen, dessen Muster stets offen für kommende Geschichten bleibt.[5]
Eine Videoaufzeichnung des Symposiums ist unter: https://youtu.be/9VAIXGHwj0k zu finden.
Anmerkungen
[1] Donna Haraway: Staying With The Trouble. Durham/London: Duke University Press 2016, S. 134–168.
[2] Gruppenausstellung “The Camille Diaries. New Artistic Positions on M/otherhood, Life and Care” (28. August – 4. Oktober 2020), http://www.artlaboratory-berlin.org/html/de-Camille-Diaries.htm
[3] Astrida Neimanis: Bodies of Water. Sydney: Bloomsbury Publishing 2017.
[4] Maria María Puig de la Bellacasa: Matters of Care: Speculative Ethics in More than Human Worlds, Minneapolis: University of Minnesota Press 2017.
[5] Haraway 2016, S. 144.
Empfohlene Zitation:
Hannah Schmedes: [Tagungsbericht zu:] The Camille Diaries (Art Laboratory Berlin, 26.09.2020). In: ArtHist.net, 08.01.2021. Letzter Zugriff 11.12.2024. <https://arthist.net/reviews/24220>.
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