REV 04.01.2022

Rößler, Johannes: Die Kunst zu sehen

Rezensiert von Claudia Sedlarz, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, CVMA Potsdam
Redaktion: Livia Cárdenas
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Johann Heinrich Meyer, geboren 1760 in Zürich, gestorben 1832 in Jena, ist einer der Akteure des deutschen Klassizismus, die man lange nur als Trabanten im Umkreis des Zentralgestirns Goethe wahrnahm. Meyer haftet der Name „Kunschtmeyer“ an, der in der Forschung des 20. Jahrhunderts meist abschätzig verwendet wurde. Dabei charakterisiert er den Mann sehr gut: das -sch verweist auf den alemannischen Dialekt, vor allem aber wird damit ausgedrückt, dass Meyer sein Leben in umfassender und ziemlich ausschließlicher Weise der Kunst gewidmet hatte: zunächst als Künstler, dann aber vor allem als Kunsttheoretiker und -historiker.

Im damals akademielosen Zürich erhielt er eine Ausbildung bei Johannes Kölla (1740-1778) und im Atelier von Johann Caspar Füssli (1706-1782), bevor er 1784 nach Rom ging, um dort eine künstlerische Laufbahn zu beginnen. Echter Erfolg stellte sich allerdings nicht ein. Dafür wurde er bald für seine präzisen Beobachtungen an den Kunstschätzen Roms geschätzt. Auch Goethe fiel diese Beobachtungs- und Erklärungsgabe auf, als er Meyer in Rom kennenlernte. Er lud den Schweizer ein, der 1791 nach Weimar zog und mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod dort blieb.

In den letzten Jahrzehnten wurde die komplexe Theoriebildung zu Kunst und Ästhetik um 1800 Gegenstand intensiver ideengeschichtlich geprägter Erforschung. Die Ergebnisse sind ergiebig, es wurde deutlich, mit welch hochgespanntem Enthusiasmus die Auseinandersetzung mit Kunst damals betrieben wurde. Winckelmanns Ansatz einer Systematisierung in Stilperioden trat in dieser Phase in den Hintergrund. Die Diskussion bewegte sich auf einem Feld, das einerseits von Kriterien der akademischen Kunstausbildung bestimmt war, andererseits von der ästhetischen und Wahrnehmungstheorie der Zeit. Die 1785 von Karl Philipp Moritz geprägte Formel zur Bezeichnung der Kunstautonomie: Kunstwerke seien „in sich vollendet“, unterlägen also einer Eigengesetzlichkeit und seien nur an dieser zu messen, markiert dabei einen veritablen „turn“, eine Wende im Nachdenken über Kunst. Das zufällige Aufeinandertreffen von Moritz und Goethe im Herbst 1786 in einem Kreis deutschsprachiger Künstler in Rom, zu denen auch Meyer gehörte, führte zu einem äußerst produktiven Austausch vor den Kunstwerken Roms und in Ateliergesprächen. Was um 1800 in den „Propyläen“ und anderen Weimarer Publikationen thematisiert wurde, geht zum größten Teil auf die bereits in Rom diskutierten Fragen zurück, die vor allem jene Eigengesetzlichkeit der Werke betrafen, also bildimmanente Kriterien der Form – und Farbgebung und Auswirkungen der Themenwahl. Zur Bestimmung dieser Kriterien wurde die künstlerische Praxis genau analysiert, deshalb war die Mitarbeit von Künstlern so wichtig. Meyer gab in Weimar seine künstlerische Arbeit keineswegs auf, stellte sie aber mehr und mehr in den Dienst einer Erforschung der Kunst.

Johannes Rößlers 2017 eingereichte, Ende 2020 publizierte Habilitationsschrift leistet zur Einordung der Arbeit Meyers einen ebenso fundierten wie aufschlussreichen Beitrag. Auf der Grundlage einer Sichtung des umfangreichen in Weimar verwahrten zeichnerischen (2500 Zeichnungen) und schriftlichen (über 8000 Blatt) Nachlasses Meyers untersucht Rößler die Prozesse der Theoriebildung und Systematisierung in seinem Werk. Er schreibt ausdrücklich keine Monographie zu Meyer, sondern richtet den Fokus gezielt auf dessen epistemologische Methodik. Für diese verwendet Rößler auch den Terminus „Bildpraxis“ und meint die ganze Bandbreite von Tätigkeiten im Umgang mit Bildwerken, die sich gegenseitig ergänzen: die Autopsie der Werke, das vergleichende Sehen in den Sammlungen, die Anfertigung zeichnerischer Kopien vor Ort, die Anwendung verschiedener Beschreibungstechniken, den Umgang mit Reproduktionsgraphik und den Austausch mit anderen Kunstinteressierten, schließlich die Umsetzung der ausgearbeiteten Thesen in eigene Kunstwerke.

In den drei Teilen des Buches werden verschiedene Aspekte dieser komplexen Arbeitsprozesse vorgestellt: Der erste Teil handelt von verschiedenen Formen der Bildbetrachtung und deren Auswirkungen auf die Theoriebildung. Untersucht wird zunächst die Betrachtung antiker Skulpturen bei Fackelschein, die um die Mitte der 1780er Jahre in Rom aufkam. Rößler bringt das Verfahren überzeugend mit der gleichzeitig entstehenden Autonomieästhetik in Zusammenhang: das Kunstwerk wird mit der beweglichen Lichtquelle in einer Abfolge von Detailwahrnehmungen erkundet, die sich auf den Nachvollzug seiner Organisation konzentrieren. Auch in Meyers nach der „Seydelmannschen Manier“ mit fein abgestuften Schattierungen ausgearbeiteten Sepia-Zeichnungen nach Antiken, die er als Brotarbeit während seines ersten Romaufenthalts anfertigte, erkennt Rößler ein stilkritisch analytisches Moment.

Das längste Kapitel des ersten Teils widmet Rößler den Aufzeichnungen, die Meyer während eines zweiten Italienaufenthalts 1795-1797 anlegte. Die minutiös vorbereitete Reise diente dem Zweck, eine breite Materialsammlung als Basis für geplante kunsthistorische Ausarbeitungen anzulegen. Meyer nahm systematisch Werke in allen wichtigen Sammlungen in Rom und Florenz auf. Rößler beschreibt die sich ergänzenden Aufschreibetechniken, die Meyer verwendete. Parallel zu den an der jeweiligen Hängung der Sammlungen orientierten Beschreibungen verfasste er auch detailliertere Notate, die nach dem Kategorienschema (also nach Gegenstand, Erfindung, Anordnung, Ausdruck, Kolorit etc.) geordnet waren. Zusätzlich fertigte er Zeichnungen nach den betrachteten Werken an. Die Kombination dieser Aufzeichnungen gab Anstoß zu Überprüfungen und Korrekturen erster Beobachtungen und zu vertiefenden Überlegungen: die Rubrikentabelle wird von Rößler gar als „Denkraum“ bezeichnet (S. 286).

Im zweiten Teil des Buches wendet sich Rößler Meyers Studien zur Farbe und zum Kolorit zu. Er zeigt, wie fundamental Meyer durch seine maltechnischen Kenntnisse und seine Studien zum Kolorit in der Malereigeschichte zu Goethes Farbenlehre beitrug. Während seines zweiten Romaufenthalts fertigte er eine Aquarellkopie der „Aldobrandinischen Hochzeit“ an, also eines im frühen 17. Jahrhundert entdeckten Freskos aus Augusteischer Zeit, das sich lange im Besitz der Familie Aldobrandini befand. Meyer sah in der Farbverwendung auf diesem Fresko eine Bestätigung der von Goethe formulierten Theorie der „apparenten Farben“. Da die geplante Fortführung seiner Reise in die Vesuvstädte durch Kriegsereignisse verhindert wurde, musste das römische Fresko pars pro toto für die Farbverwendung der Antike einstehen. Entsprechend sorgsam wurde die 1:1-Kopie in einem mehrwöchigen Malprozess vor Ort angefertigt und später in Goethes Wohnräumen aufgehängt. Sie wurde durch eine umfangreiche, direkt vor dem Original verfasste schriftliche Bestandsaufnahme ergänzt. Wieder stellt Rößler die Kombination von Nachzeichnung, kontrollierender Verschriftlichung, ergänzenden Detailzeichnungen und Abgleichen mit anderen Kopien als wichtigen Bestandteil eines Theoriebildungsprozesses dar, aus dem sich bis zum Erscheinen der Schrift „Zur Farbenlehre“ 1810 eine differenzierte Farbästhetik entwickelte.

Im dritten Teil des Buches wird schließlich die von Weimar aus betriebene Kunstpolitik thematisiert. Bekanntlich hatten die programmatischen Aufsätze in den „Propyläen“ und die dort veröffentlichten Preisaufgaben das Ziel, aktiv auf die künstlerische Produktion in Deutschland Einfluss zu nehmen. Neben der Gegenstandslehre und der Farbästhetik wurde auch die Kategorie des Hell-Dunkel wichtig für die in Weimar propagierte klassische Kunstdoktrin. An der Malerei der Romantik lehnten die Kunstfreunde sowohl die Bevorzugung von reinen Lokalfarben ab als auch die Vernachlässigung von Plastizität und Raumtiefe. Meyer hielt beides für Zeichen des Niedergangs der Kunst. Rößler zeigt, wie intensiv sich der Schweizer mit dem Chiaroscuro beschäftigte und wie diese Beschäftigung sich auch auf seine Überlegungen zur Reproduktionsgraphik und seine Bevorzugung der Lithographie auswirkte. Selbst die teilweise von ihm geleitete Ausstattung des Weimarer Schlosses wurde davon berührt.

Eine besondere Pointe bietet der Bericht über Meyers einzigen Besuch der Sammlung Boisserée in Heidelberg. Anders als erwartet, öffnete sich Meyer für die Boisseréesche These von der „Prävalenz“, der Überlegenheit der altniederländischen gegenüber der italienischen Malerei des 15. Jahrhunderts. Seine Beobachtungen in der Sammlung ließen die Argumentation seiner bereits fast fertig gestellten „Geschichte der Kunst“ obsolet erscheinen, die er dann nicht mehr veröffentlichte. Eine starke Verunsicherung stellte sich ein, die Meyer aber nicht daran hinderte, mit seinem trainierten Blick bestimmte von Boisserée aufgestellte, auch von Goethe geteilte, Annahmen zu Datierungen und Entwicklungslinien – zu Recht – in Frage zu stellen.

Die Leistung Rößlers besteht nicht zuletzt darin, das große Quellenkonvolut durch eine klare Fragestellung und durchdachte Struktur, vor allem aber durch seine umfassende Kenntnis der behandelten Positionen souverän gebändigt zu haben. Konzise Einführungen und Zusammenfassungen zu jedem Kapitel erleichtern die Lektüre, die dennoch durch die kleinteilige Darstellung der Arbeitsarchitektur Meyers viel Geduld erfordert. Je mehr man sich indessen auf die dichte Argumentation einlässt, desto größere Faszination stellt sich ein. Sie gilt nicht so sehr der Ehrenrettung Meyers, der als eigenständig arbeitender Experte und unbestechlicher Beiträger zum Weimarer think tank gewürdigt wird − sie gilt vielmehr den behandelten Kategorien selbst, deren Durchdringung Meyer zu seinem Lebensinhalt machte: das Rubrikenschema wurde durch die Neusetzung der Autonomieästhetik, die das einzelne Kunstwerk als eigenständigen Organismus begreifen wollte, zum Ausgangspunkt einer umfassenden Methodologie der künstlerischen Praxis von der Themenfindung bis zu Fragen der geeigneten Reproduktion, die auch ganz losgelöst von aller klassizistischen Doktrin einen hohen Erkenntniswert besitzt.

Rößler, Johannes: Die Kunst zu sehen. Johann Heinrich Meyer und die Bildpraktiken des Klassizismus (= Ars et Scientia; 22), Berlin, Boston: De Gruyter 2020
ISBN-13: 978-3-11-058806-4, 496 S., EUR 59.95, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Claudia Sedlarz: [Rezension zu:] Rößler, Johannes: Die Kunst zu sehen. Johann Heinrich Meyer und die Bildpraktiken des Klassizismus (= Ars et Scientia; 22), Berlin, Boston 2020. In: ArtHist.net, 04.01.2022. Letzter Zugriff 27.04.2024. <https://arthist.net/reviews/24139>.

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