REV 11.03.2009

Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks

Rezensiert von von Müller Achatz
Redaktion: Livia Cárdenas
Click to enlarge

Seit Edward Saids berühmtem gleichnamigen Buch geistert der „Orientalismus“ (1978) durch die kulturellen Diskurse. Der Westen, so Saids furiose Bilanz, gestehe dem Orient zwar seine eigene kulturelle Farbenpracht zu, stigmatisiere ihn aber damit zugleich als „unterlegen“. Dahinter verberge sich zwar eine geheime Furcht vor den gewaltigen demographischen, geologischen und verschütteten kulturellen Ressourcen des Orients, aber mit komplexen Strategien der Okzidentalisierung, ökonomischen, technologischen und kulturellen Repressionen sei es dem Westen gelungen, die orientalischen Gesellschaften sich selbst zu entfremden, politisch heimatlos zu machen. Symbol dieses Prozesses sei das Schicksal der Palästinenser.
Längst hat Saids These Widerspruch, Differenzierung und Historisierung erfahren. Aber der Diskurs ist in der Welt. Und auch Hans Belting schreibt sich mit seinem Versuch einer kultur-theoretischen Analyse des orientalischen Blicks und seiner Bedeutung für das okzidentale Bild in diesen Diskurs ein. Beltings These ist nicht ganz leicht zu fassen. Er bewegt sie wie eine Echternacher Springprozession durch sein weit angelegtes Buch. Sie besteht vor allem darin, in der mathematischen Begründung des Raums durch die arabische hochmittelalterliche Naturwissenschaft und die geometrische Konstruktion des Blicks auf diesen Raum die entscheidende Voraussetzung für die Konstruktion des modernen westlichen Bildes aus dem Geist der symbolischen Form der Perspektive gefunden zu haben. Dabei sind einige Kontexte sogleich mitzudenken: Panofskys Symboltheorie, die Belting auf ihre ursprüngliche Fassung bei Ernst Cassirer zurückprojiziert, ebenso wie die verschlungenen Wege der Wanderung arabischer Mathematik durch die okzidentalen Kulturen. Hier geht es Belting vor allem um die simultane Konstruktion von „Null“ und „Fluchtpunkt“ im Kontext der perspektivischen Bildtheorie bei L.B. Alberti sowie insbesondere die auf den arabischen Mathematiker Alhazen (gest. ca. 1040) zurückgreifende Theorie des räumlichen Blicks Biagio Pelacanis (gest. 1416), die sich bei diesem in eine objektivierbare Wahrnehmungsordnung verwandelt.
Warum aber findet der Orient nicht zum Bild, sondern „begnügt“ sich mit der Mathematik des Blicks? Und umgekehrt: In welcher Weise schiebt sich im Okzident das Bild zwischen Blick, Wahrnehmung und Wahrgenommenem? Für Belting hat Alhazens Mathematisierung der Optik alle Voraussetzungen zum Blick in die Welt gelöst, kehrt diesen aber kurz vor dem Ziel der Außenwelt um, lenkt ihn zurück zur Imagination des Betrachters. Der menschliche Blick erscheint als Derivat des Blicks Gottes, der als einziger die Wirklichkeit zu erkennen vermag. Und so ist dieser Derivatsblick zwar mathematisierbar und als geometrisches Bild von „Sehstrahlen“ vorstellbar, aber die genuine Einsicht in das Gesehene erfolgt durch die Übersetzung des allein wirklich Geschauten: des Lichts. Somit transponiert der „arabische Blick“ das geschaute Licht in mehrschichtige und mehrfarbige Muster, die seine Ordnung reflektieren und zugleich den Blick Gottes „von oben“ imitieren.
Dem Westen sind solche „platonische“ Konzepte nicht unbekannt. Belting selbst weist auf die entschiedene Kritik Wilhelm von Ockhams an jedweder Fähigkeit des „Augensinns“ zur Erkenntnis hin. Zugleich aber setzt er ihn damit von Roger Bacon (gest. 1292) ab, dem er den entscheidenden (theologischen) Durchbruch zur Bindung der Erkenntnisfähigkeit an den Augensinn attestiert. Bacon habe die revolutionäre Übertragung von Alhazens Formbegriff – jedes Objekt erzeugt eine spezifische Sehform („species“) – auf die Analogisierung von „Bild und Ähnlichkeit“ vorgenommen.
An dieser Stelle kommt nun wieder Ernst Cassirer ins Spiel. Belting folgt ihm, insofern er Cassirers Kontextualisierung von Kunst und „symbolischer Form“ benötigt, um überhaupt Bild und Blick aufeinander beziehen zu können. Das neuzeitliche perspektivische Bild wird ihm nur deswegen zum spezifischen Träger dieses Zusammenhangs, als es am konsequentesten den von Bacon begründeten Weg zur Realisierung des Zusammenhangs von Blick in die Außenwelt, Bild und Ähnlichkeit abschreitet. Belting folgt somit Panofskys Entdeckung der „Perspektive als symbolischer Form“ nur scheinbar. Alle Kunst ist symbolische Form, auch das orientalische Ornament als Repräsentant der orientalischen Lichtwahrnehmung. Die Perspektive schaltet sich als Konzept zur Mathematisierung des Raums und Geometrisierung des Bildes sowie mit Hilfe der optischen Erkenntnisfähigkeit im Sinne Bacons und Biagio Pelacanis als Konstrukt des Wirklichen in die Fähigkeit der Kunst symbolische Form zu sein ein. Pointierte Träger dieser Intervention des perspektivischen Bildes sind nach Belting Spiegel und Fenster. Mit Spiegelbild und Fensterblick, so Belting, konditioniert sich die westliche Kultur, fast ist man geneigt zu schreiben: überredet sie sich, zur Entfaltung des perspektivischen Bildes als genuiner Form der Kunst.
Belting liefert hübsche Beispiele für die soziale und heuristische Leistungsfähigkeit dieser Form. So zeigt er an den berühmten Paradeperspektiven idealer Stadtpanoramen für Federico da Montefeltro, wie entschieden der Fürst mit der Perspektive, sich selbst aus dem engen Raum der real beherrschten Stadt in den imaginären Raum von Idealherrschaft hinausprojizierte, die Idealperspektive somit im Namen der Wirklichkeit als trompe-l’oeil politischer Imagination einsetzte. Klug und pointiert auch seine Beobachtung zu Piero della Francescas umstrittener „Geißelung“. Wie entschieden der Maler hier mit der Perspektive als Narrativ und historischem Ordnungsmuster zugleich umgeht, vermag er in prägnanter Kürze anzusprechen und zugleich die Fähigkeit der Perspektive zu erläutern, sich als Blick in Raum und Zeit zugleich zu konstellieren.
Beltings Buch bietet viel: Blick-, Bild- und Erkenntnistheorie in Orient und Okzident, Differenz und Kommunikation zwischen Ost- und Westkultur, die spezifische Ordnung des perspektivischen Blicks, die Mathematisierung des Raums und last but not least die Rolle des Bildes als symbolische Form. Manches läßt sich dennoch hinterfragen. Spiegel und Fenster können eben doch nicht ganz als Blickordnung für die Errichtung des perspektivischen Bildes überzeugen. Allzu sehr ist Belting vom Fensterblick nach außen fasziniert und vernachlässigt die symbolische Ordnung des Fensters als Blick von außen nach innen. Der literarisch versierte Leser vermißt die Mimesis-Funktion des Wortes in gleichzeitigen Theoriediskursen des 13. bis 16. Jahrhunderts, und der Mediävist einen Reflex der Lichtästhetik Sugers von St. Denis, die Orient und Okzident näher noch beieinander zeigen könnte, als wir bei Belting lesen.
Und ob Belting wirklich einen „Blickwechsel“ zwischen Orient und Okzident als „Wechsel des Blicks“ von West nach Ost vornimmt, mag jeder Leser selbst beantworten. Edward Said wenigstens zählte zu den klassischen „orientalistischen“ Vorurteilen des Westens die Hochschätzung der frühen arabischen Wissenschaften. Aber lassen wir die Kirche und meinetwegen auch die Moschee im Dorf: es ist ein kluges, ein gutes Buch.

Belting, Hans: Florenz und Bagdad. eine westöstliche Geschichte des Blicks, München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 2008
ISBN-13: 978-3-406-57092-6, 318 S., 29,20 Euro

Empfohlene Zitation:
von Müller Achatz: [Rezension zu:] Belting, Hans: Florenz und Bagdad. eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008. In: ArtHist.net, 11.03.2009. Letzter Zugriff 24.10.2024. <https://arthist.net/reviews/238>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^