REV 04.03.2021

Kuhn, Léa: Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Malerei um 1800

Rezensiert von Kerstin Maria Pahl, Max Planck Institute for Human Development
Redaktion: Henry Kaap
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Die biografische und historiografische Durchdringung der Kunst, im Porträt und jenseits davon, war lange ein zum Klischee geronnenes Untersuchungsfeld. Es lauerten überkommene Ideen eines Zeitgeistes, der Genieästhetik oder der holzschnittartigen Sozialgeschichte, die den Untersuchungsgegenstand vom Bild auf den, illustrierten, Kontext verschiebt. Der Zugang zum Individuellen im Werk ist jedoch, glücklicherweise, nicht verschwunden, sondern erhält durch einen institutionellen und praxeologischen Zugriff, der vom Bild ausgeht und mit Erfahrungs-, Mikro- und Wissen(schaft)sgeschichte angereichert wird, regelmäßig fruchtbare Impulse [1].

Hier setzt Léa Kuhns an der Ludwig-Maximilians-Universität München vorgelegte und 2020 bei Wilhelm Fink erschienene Promotionsschrift Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Kunst um 1800 an. Leichtgängig und prägnant geht sie der Frage nach, ob sich Kunstgeschichte denn auch nicht-schriftlich ausdrücken lasse. Das Fazit ist zwar wenig überraschend, aber der Weg dahin lesenswert. Kuhns Ansatz zielt dabei weder auf Vergleichbarkeit von Schrift und Bild noch auf Allegorien von Geschichte, sondern auf eine Neubewertung der Funktion des Werks, gepaart mit Sensibilität für dessen Logik: Bildproduktion im Kunstbetrieb richtet sich nicht nur an das insbesondere bildungsbürgerliche Publikum, sondern entwickelt auch eine dezidiert kunsthistorische Programmatik. Das Bild stellt „ein Erklärungsmodell“ (62) für künstlerische Innovation bereit. Künstler:innen entwerfen Kunstgeschichte, nicht indem sie Historienbilder schaffen, sondern indem sie mit den bildlichen Mitteln der Gegenwart ihre eigene Geschichtlichkeit diskutieren und alternative Narrative für die Zukunft anbieten.

Kuhn präsentiert drei Fallstudien. Den Auftakt macht der Deutsche Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829), der sich vom großen Schatten seiner berühmten Künstlerfamilie emanzipieren will. Im Doppelbildnis mit seinem Bruder Heinrich Jacob, Einer den andern gemahlt von 1782 (Goethe-Museum, Frankfurt am Main) spiegele sich ein Generationenkonflikt: jugendlich-idealistisches Streben nach wahrer Kunst gegen das einträgliche Porträtgeschäft der Verwandten. Wie Diogenes, der philosophische Sonderling, der im Doppelporträt als Bild-im-Bild dargestellt ist, bricht Tischbein mit der Tradition. Er will Historie malen. Die im Gemälde an der Wand angebrachten Porträts der Schweizer Bodmer, Lavater und Gessner verweisen auf Zürich, den Ort, an dem Tischbein neue Impulse für sein Schaffen erhielt. Ganz ohne Wort geht es aber doch nicht ganz: Sicherheitshalber legt er Goethe (erfolgreich) die eigene Originalität schriftlich nahe. Dennoch biete das Gemälde für das weitere Schaffen Tischbeins eine Deutung an, die einer kunstgeschichtlichen Abhandlung zuvorkomme: Es kontextualisiert sich selbst.

Es folgt der US-Amerikaner William Dunlap (1766–1839), der sich von der genieästhetischen „Meisterkunstgeschichte“ (155) verabschiedet. Das Kapitel ist besonders gelungen. Der New Yorker Maler, Schriftsteller und Übersetzer erfährt als Künstler und nicht nur als Literat Anerkennung. Und erweist sich als Anhänger eines historischen Materialismus avant la lettre. Im Malen wie im Schreiben erteile Dunlap der „Möglichkeit geniehafter Neuschöpfung aus sich selbst heraus“ – sehr en vogue im ausgehenden 18. Jahrhundert – eine Absage, indem er Werke als Ausdruck der „strukturelle[n] Verfügbarkeit von Ressourcen“ in den Vordergrund stellt (151). Das heißt: Wenn US-amerikanische Maler:innen anhand von Stichen lernen müssen, bleibt das Auge ungeschult im Farbenspiel. Wenn das Porträtstudio in einer geographischen Peripherie wie Nordamerika liegt, tun sich Künstler:innen schwerer als in den Kunstmetropolen Rom, Paris oder London. Ein Selbstporträt mit Bild-im-Bild wird zum Statement: Dunlap zeigt sich, wie er seiner Familie ein Gemälde mit einer Illustration zu Shakespeares Hamlet präsentiert (New York Historical Society). Die Einbettung des englischen Dichters, der für ‚das Genie‘ als solches steht, in eine Familienszene verdeutlicht die Kontextgebundenheit eines jeden schöpferischen Werks.

Die Französin Marie-Gabrielle Capet (1761–1818) ist die Dritte im Bunde. Im Paris vor und nach der Revolution malt sie gegen ein Umfeld an, das eine zunehmend biologisierte, und damit segregierende Sicht auf die Kunst entwickelt. Historie als Disziplin, Bild und Erzählung sei, so meinen Zeitgenossen, der Frauen Sache nicht [2]. Capet sieht das anders. Ihre Atelierszene von 1808 (Neue Pinakothek, München) halte „ein Plädoyer für die Geschlechtsunabhängigkeit malerischen Könnens und des (nicht geschlechtlich determinierten) Tradierungsvermögens von Künstlerinnen“ (218). Das Kapitel, und insbesondere der Exkurs zu Jacques-Louis David (1748–1825), ist zwar etwas länglich, untermauert aber gen Ende des Buches noch einmal die wissens- und nicht nur wissenschaftsgeschichtliche Ausrichtung der Studie. Kuhn bespricht hier jene Bilder, auf denen Porträts der Schüler eines Ateliers auf einer Leinwand zusammengefasst sind. Eine solche „Bilddiagrammatik“ (250) [3] stehe gegen den zeitgleich aufkommenden chronologischen Gang durch ‚die‘ Kunstgeschichte und entfalte eine mit Abstrichen, egalitäre Ordnung, in der auch Minderheitenpositionen ihren Platz haben. Es geht um Alternativen zum vorherrschenden Narrativ. Capets Kunstgeschichte sei „gerade nicht textförmig, aber darauf ausgerichtet, in der Zukunft eine veränderte schriftliche Kunstgeschichte hervorzubringen“ (252).

Kuhn lässt den Werken ein „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) angedeihen. Das trägt dem Einfluss der vielen Faktoren auf die „Geformtheit“ des Bildes Rechnung: Thema, Ikonographie, Genre, institutioneller Zusammenhang, Ausstellungspraxis, zeitgenössische Diskurse und Korrespondenzen finden Berücksichtigung. Zugleich eröffnet es einen Blick auf die Porträts als Debattenbeiträge in einem entstehenden kunsthistorischen Diskurs.
Durch die „allmähliche Fixierung der akademischen Kunstgeschichte auf ihre rein historische Zuständigkeit“ (XV) entsteht eine Schwelle zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die zwar durchlässig ist, beispielsweise durch Vorbilder, zugleich jedoch Tradition nicht als etwas sieht, das entsteht, sondern immer schon da ist. Die gemalte Programmatik diene daher zwei, auf den ersten Blick gegensätzlichen Anliegen: Einerseits gehöre die Gegenwart zum geschichtlichen Verlauf. Andererseits solle sie von dessen erdrückender Normativität befreit werden, nicht zuletzt zugunsten eines freieren Zukunftsentwurfs. Genealogie wird von Kuhn treffenderweise vieldeutig verwandt und umfasst Darstellungstraditionen, Malschulen, Familienabstammungen und Wahlverwandtschaften.

Etwas tiefergehende methodologische Überlegungen und – dem Thema entsprechend – historiografische Metareflexionen hätte die Rezensentin gerne gelesen. Ob die untersuchten Fälle, wie die Zusammenfassung nahelegt, ein „eminent kritisches Potenzial der Kommentierung von Kunstgeschichte in Gemälden“ bieten (262) oder doch eher Bestandteil einer durchaus pluralistischen und oft erst rückblickend als erstarrt wahrgenommenen Disziplin sind, kann man diskutieren. Der populäre mikrohistorische Ansatz, über typische und zugleich besondere Einzelindividuen die Meso- und Makrostrukturen sichtbar werden zu lassen, geht meist gut auf, stößt aber auch an Grenzen. Während sich Dunlap und Capet als sehr fruchtbar erweisen, eröffnet sich im Fall Tischbein ein Paradox von Form und Inhalt. Seine, in Kuhns Buch, herausgehobene Stellung vis-à-vis seiner Familie scheint zu beweisen, wie er sich selbst konzipierte: anders und besonders.
Da sich drei der Unvermeidlichen, Michel Foucault, Francis Haskell und Hayden White, im Literaturverzeichnis finden (aber warum erscheint Geertz nur im Index?), hätte manche Überlegung von größerer Sensibilität gegenüber der Doppelbödigkeit von Selbstinszenierung und (Kunst-)Geschichtsschreibung profitiert. Das wäre aus gegenwartskritischer Sicht interessant gewesen. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in den Geschichtswissenschaften lässt sich fragen, wieviel Nachdenken über das eigene Fach noch anstehen kann, bevor es in der reinen Selbstbeschäftigung mündet.

Neben der Inhalts- gibt es etwas Formkritik. Die Buchseite ist regelmäßig paritätisch zwischen Haupt- und Fußnotentext aufgeteilt, die den Nebenargumenten in den Anmerkungen, auch visuell, zu viel Raum einräumt. Vieles liest sich flüssig, doch ein letzter stilistischer Schliff hätte dem eleganten Thema gutgetan. Fünf Mal lernt die Leserin auf den Seiten 8 bis 10 was die Studie so alles machen, zeigen, darlegen „soll“. An anderer Stelle heißt es, „die Inskription“ lege etwas durch „die Betonung des Moments der Reziprozität“ dar; „innerbildlich“ wird zu „intrapiktural“. Ankündigungen, Nominalisierungen, Fremdwörter – welche höhere Macht hält eigentlich das Lektorat deutscher Wissenschaftsverlage davon ab, die manchmal holprige Prosa von Qualifikationsarbeiten zu glätten?
Das soll den guten Gesamteindruck der Arbeit aber nicht schmälern, denn wie sie „Fälle kunsthistorischen Handelns innerhalb von Gemälden“ (261) darlegt, ist in weiten Teilen fein gedacht und angenehm pointiert.

Anmerkungen:
[1] Stellvertretend für die Geschichte des Lesens, der Buchgeschichte und der Institutionen: Élisabeth Décultot, Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert (Ruhpolding: Philipp Franz Rutzen, 2004) und Ingrid Vermeulen, Picturing Art History. The Rise of the Illustrated History of Art in the Eighteenth Century (Amsterdam: Amsterdam University Press, 2010); Hannah Williams, Académie Royale. A History in Portraits (Oxford und New York, Routledge, 2016 [2015]).
[2] Siehe hierzu v.a. Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900 (Göttingen: Wallstein, 2015).
[3] Siehe bspw. Wolfgang Cortjaens und Karsten Heck, Hg., Stil-Linien diagrammatischer Kunstgeschichte (München: Deutscher Kunstverlag, 2014).

Kuhn, Léa: Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Malerei um 1800, Paderborn: Fink 2020
ISBN-13: 978-3-7705-6453-8, 333 Seiten, 69,00 EUR, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Kerstin Maria Pahl: [Rezension zu:] Kuhn, Léa: Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Malerei um 1800, Paderborn 2020. In: ArtHist.net, 04.03.2021. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/23781>.

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