„Prisms of Silence“
Symposium organisiert von Margaret Tali und Ieva Astahovska in Zusammenarbeit mit der Estonian Academy of Arts und dem Latvian Centre for Contemporary Art
Tallinn, das so gut wie keine Spuren der sowjetischen, sozialistischen Ära mehr aufweist, wie die weißrussische Referentin Elisabeth Kovtiak bemerkte, und fast wie ein „non-site of memory“ dieses Teils der Vergangenheit erscheint, erweist sich vielleicht deshalb als besonders geeignet für ein Symposium über die Prismen des Schweigens und Verschweigens. Mit den Worten von Ieva Astahovska: „Silence about (also forgetting or not-remembering) the past has largely characterized the post-soviet condition for many years.”[1] Durch dieses Schweigen entgeht man strategisch Fragen der Schuld aber auch einer differenzierteren Sicht, die nicht der oft vereinfachenden Opfer-Täter-Dichotomie folgt und sich der Komplexität der sozialistischen Vergangenheit stellt. Das Symposium „Prisms of Silence“ spannte eine Taxonomie des Schweigens und Verschweigens auf. In diesem Klassifikationsschema, das nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhob, kristallisierten sich zwei Kategorien als hauptsächliche Formen des Schweigens oder Verschweigens heraus: Verschweigen als Strategie in der Konstruktion von Geschichte in Ost-Mittel- und Südosteuropa sowie Schweigen als Ausdruck von Traumata, die bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreichen. Dabei wirkt diese Unfähigkeit, über einen Teil der Vergangenheit zu sprechen und ihn zu benennen, sich konstitutiv auf die Geschichtskonstruktion aus, denn dieser Teil der Geschichte bleibt ungeschrieben. Letztendlich wurde die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart adressiert und deren Auswirkungen auf die Gegenwart, jedoch auch, wie Geschichtsschreibung den Ansprüchen der Gegenwart angepasst wird und eine Konstruktion aus der Jetztzeit heraus ist.
Das Symposium stellte die Konstruktion von Geschichte der Nachkriegs- und der postsowjetischen bzw. postsozialistischen Zeit selbst auf den Prüfstand. Die verschiedenen Vorträge verdeutlichten, wie strategisches Aussparen und Unterschlagen von historischen Ereignissen und Fakten die Geschichtsschreibung manipuliert. Viele dieser vergessenen Vergangenheiten leben nur noch in den Erinnerungen und Erzählungen Einzelner fort und konfrontieren eine Oral History mit offizieller Geschichtsschreibung, die diese nicht berücksichtigt – eine Konfrontation, die bereits Aleida Assmann beschreibt und auszusöhnen versucht.[2] Die persönlichen Geschichten bzw. das kollektive Gedächtnis einzelner Gruppen aber auch die offizielle Historiographie sind identitäts- und sinnstiftend, so dass verschiedene Identitätsmodelle in Konkurrenz treten, wobei besonders die offizielle Geschichtsschreibung der von Eric Hobsbawm beschriebenen Strategie der „inventing tradition“ folgt und die Geschichte den politischen und ideologischen Konzepten der Nachkriegs- aber auch der postsozialistischen Zeit anpasst.[3]
Das Schweigen über Deportationen und Vertreibungen in der sowjetischen Nachkriegs-Ära aber auch über den Holocaust in den ehemaligen Ostblockstaaten wurde vor allem als Artikulation eines unaufgearbeiteten Traumas verhandelt, das sich unbewusst über Generationen bis in die Gegenwart zieht und die Handlungen und psychische Verfasstheit von sozialen Gruppen prägt und bestimmt. Diese Techniken und Gesten der Alltagsbewältigung sind jedoch nicht einfach auf vergangene, erlebte Traumata zurückzuführen, da sie zudem in aktuelle Diskurse integriert werden. In der dritten Generation brechen diese Traumata wieder hervor und werden virulent, auch wenn die Ursache nicht leicht zu eruieren ist, da sie weit zurückliegt und die dritte Generation nie direkt betroffen war.
Der Vortrag von Lia Dostlieva thematisierte die Schuldgefühle, die es verbieten, Essen wegzuwerfen oder zu verschwenden, da sie immer noch die Alltagshandlungen einer Generation junger Menschen in der Ukraine formen, die selbst nie Hunger leiden musste und diese nachkriegszeitliche Not nur aus Geschichten der Großmutter in ihrer frühen Kindheit vage kennen. Dieser bewusste Konsum, der den Alltag durch Wiederverwertungspraktiken und Wegwerfvermeidungsstrategien strukturiert, vermischt sich in der Gegenwart mit Kapitalismus- und Kritik am Klimawandel. Das familiäre Schweigen über Deportationen und somit die Traumata der Entwurzelung der Großelterngeneration und über die dadurch ausgelösten Suizide stellte Margaret Tali als Mechanismen der Scham angesichts der Ohnmacht vor, diese Ereignisse aufarbeiten und in die eigene familiäre Geschichte integrieren zu können. Das Schweigen soll vor der Erinnerung an die grausame Vergangenheit bewahren und erneut auftretende Suizide verhindern, um endlich ein normales Familienleben zu ermöglichen. Schweigen wird aber, so Katrina Black, nicht nur als Konsequenz von Traumata nach brutalen und auslöschenden Erlebnissen wie dem Holocaust, sondern auch als von Filmemachern wie Chantal Akerman als bewusst eingesetztes Mittel der Artikulation – die eine Leerstelle des Unsagbaren besetzt – als Agency und Ermächtigung verstanden.
Schweigen ist einerseits, wie Asja Mandić analysierte, Ohnmacht oder Unfähigkeit traumatische und traumatisierende Teile der Vergangenheit aufgrund ihrer grausamen Geschehnisse zu benennen. Verschweigen ist allerdings andererseits in postsozialistischen Staaten oft ein Repressionsmittel sozialistischer Narrative zur Gestaltung der Identität einer neuen Gesellschaft, in der kein Platz mehr für die Erinnerung an Partisanen ist, die im ehemaligen Jugoslawien als Volksbefreiungskampf alljährlich zelebriert wurde. Die visuelle Repräsentation in Bildern und Feiern dieser Vergangenheit wurde mit dem Jugoslawienkrieg aus den offiziellen Institutionen verbannt und die Funktion dieser Institutionen umgeschrieben, wie die Umbenennung des früheren Museums der Revolution Bosnien-Herzegowinas in Geschichtsmuseum zeigt. Dass aber selbst in der offiziellen Geschichtsschreibung der antifaschistischen Opposition des Zweiten Weltkriegs die Aktivitäten von Minderheiten wie Frauen einem dominierenden männlichem Narrativ untergeordnet und diesem einverleibt wurden, wies Zuzanna Hertzberg nach. Die Diversität von antifaschistischen Taten wurde nivelliert.
Im Kontext der Ost-West-Spaltungen, die sich in den letzten Jahren vertieften und zu massiven Spannungen und Unzufriedenheit vieler Ostdeutschen führten, die in populistischen Bewegungen wie Pegida in Dresden vehement und aggressiv zum Ausdruck kamen, eröffnete das Symposium neue Perspektiven der Analyse, Auseinandersetzung und des Umgangs mit dem Erbe der DDR. Natürlich ist die Situation in Ostdeutschland durch die Teilung Deutschlands und die nach der Wende erfolgte Wiedervereinigung mit keinem anderen Land des ehemaligen Ostblocks zu vergleichen. Dennoch steht das geeinte Deutschland vor der Herausforderung der postsozialistischen Transformationsprozesse und deren Integration in eine gesamtdeutsche Geschichtsschreibung. 2017 entflammte der sogenannte Bilderstreit in Dresden an der Ausstellungspolitik des Albertinum erneut, den der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg bereits 2013 in seinem Sammelband als Stellvertreterstreit bezeichnete, der den Konflikt der Wiedervereinigung repräsentiert.[4] Einmal mehr zeigten die Einträge der Besucherbücher, dass auch diese Differenzen viel weiter reichen und auf tiefsitzende Kränkungen in der Nachwendezeit, gebrochene Biographien und das Schweigen über einen Teil der deutschen Vergangenheit bzw. eine einseitige oder von Geringschätzung geprägte Auseinandersetzung mit dieser verweisen. Die Vehemenz und Aggressivität, mit denen dieser Streit in den deutschen Feuilletons und sozialen Medien ausgetragen wurde, erklären sich vor allem durch eine populistische Instrumentalisierung dieser Vergangenheit, die die gesellschaftliche Spaltung zwischen Ost und West vertieft hat.
Auch die verschiedenen Referenten des Symposiums „Prisms of Silence“ stellten Kunst und Kultur nicht nur als Austragungsort der Auseinandersetzung mit dem Verschweigen von Teilen der Vergangenheit dar, sondern zeigten auch die wichtige Rolle der Kunst bei der Aussöhnung auf: Kunst auch als Ort der Artikulation der abgespaltenen Vergangenheit und Traumata.
Künstler können in ihren Arbeiten der unausgesprochenen Vergangenheit einen Ort geben und das Unausgesprochene, Nichtsagbare benennen, um es in die Sprache aufzunehmen und um ihm einen Platz in der Geschichte zu zuweisen. In Filmen von Jūratė und Vilma Samulionytė („Liebe Oma Guten Tag. What we leave behind“, 2017) oder von Jonathan Durand („Memory is our Homeland“, 2018) wird durch das Sprechen mit Familienmitgliedern über das Trauma eine Erinnerungsarbeit und eine Trauerarbeit als Sprechkur geleistet, wie sie Freud in einem dreier Schritt bereits beschrieb: Sich erinnern, wiederholen, durcharbeiten – so Margaret Tali.[5] Deshalb präsentierten Künstler ihre Werke, in denen sie eine Visualität für eine Vergangenheit erschufen, von der keine Bilder in Form von Fotos, Drucken oder anderen Archivmaterialien überliefert sind, um ihr eine sinnliche Gestalt und einen Ort der Erinnerung zu geben (Assel Kadyrkhanova, Aslan Gaisum).
Das Symposium „Prisms of Silence“ gab nicht nur zahlreiche Impulse für die Artikulation des Schweigens oder von Verschwiegenen traumatischen oder dramatischen Teilen der Vergangenheit Ost-Mittel- und Südosteuropas, es machte die Sprache und die Begrifflichkeiten zur Artikulation selbst zum Thema. In den sich an jeden Vortrag anschließenden Diskussionen wurden immer wieder Begriffe debattiert, verworfen oder nach geeigneteren gesucht, um diesen vergessenen Versatzstücken der Vergangenheit eine differenzierte, sie kritisch analysierende Sprache zu verleihen.
Anmerkungen
[1] Zitat aus dem Vortrag von Ieva Astahovska „On Collaborations, Silences and Lustration“.
[2] Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2018.
[3] Eric Hobsbawm (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1999.
[4] Karl-Siegbert Rehberg und Paul Kaiser (Hrsg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Berlin, Kassel 2013.
[5] Siehe hierzu Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 2011.
Empfohlene Zitation:
Constanze Fritzsch: [Tagungsbericht zu:] Prisms of Silence (Estonian Academy of Arts, Tallinn, 21.–22.02.2020). In: ArtHist.net, 31.05.2020. Letzter Zugriff 21.11.2024. <https://arthist.net/reviews/23132>.
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