Mit ungeniert, weit gespreizten Beinen sitzt der überlebensgroß dargestellte Sir Richard Arkwright (Privatbesitz, England) mit halb geöffneter Weste auf einem schlichten Stuhl, die eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere zur Faust geballt auf dem Tisch neben dem Modell einer Spinnmaschine liegend. Er blickt mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein und überlegen lächelnd über den Betrachter hinweg in die Ferne. Die kristalline realistische Malweise Joseph Wrights of Derby, die sogar die Warze im Gesicht, die Triefaugen und die Hängebacken Arkwrights erbarmungslos genau wiedergibt, verleiht dem feisten, englischen Unternehmer eine erschreckende Unmittelbarkeit. Als einziges Attribut verweist das Modell der Spinnmaschine auf seine Erfindung, die die englische Baumwollindustrie grundlegend revolutionierte und ihn im 18. Jahrhundert aus einfachsten gesellschaftlichen Verhältnissen zum reichsten Unternehmer Englands und Vorreiter der industriellen Revolution aufsteigen ließ. Daß Arkwright hier nicht nur in der Pose eines absolutistischen Fürsten dargestellt ist, sondern das Gemälde auch von seinem Format her an die monumentalen Königsbildnisse Hyacinthe Rigauds anknüpft, entwickelt Beyer aus einer genauen Bildanalyse heraus, die sich nicht damit zufrieden gibt, das Bildnis zu benennen und die Ähnlichkeit mit dem Dargestellten festzustellen, sondern das historische und gesellschaftliche Umfeld des Porträtierten zum Schwerpunkt der Untersuchung macht – keine Selbstverständlichkeit für die Porträtforschung, die häufig verkennt, dass der Porträtierte nicht allein als Individuum, sondern vielmehr als Bestandteil einer zunehmend normierten Gesellschaft zu verstehen ist.
Diese Beobachtungen von Andreas Beyer sind programmatisch für den theoretischen Aufbau und das Konzept des Buches, das pointierte Einzelanalysen der ausgewählten Porträts mit den jeweiligen ideen-, geistes-, mediengeschichtlichen und politischen Hintergründen zu einem dichten Monumentalessay verwebt. Mit diesem Band legt er einen kenntnisreichen Überblick über die Geschichte des Porträts vor. Beyer präsentiert auf mehr als vierhundert Seiten „ein Museum der Gesichter und Gestalten“ mit dem Anspruch, eine „ebenso verläßliche wie facettenreiche Pinakothek einer der vitalsten Gattungen der Kunstgeschichte einzurichten“. Da es Beyer um einen Überblick von der Antike bis zur Moderne geht, kann und will er keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
Die übersichtliche Gliederung folgt einer chronologischen Kapitelordnung nach Jahrhunderten. Beyer entwickelt die Geschichte des Porträts mit einer Einleitung über das Erbe der Antike, ausgehend von der bei Plinius überlieferten Butades-Legende vom Schattenriß als Ursprungsmythos des Porträts und zugleich der Erfindung der Malerei. Anschaulich erklärt er die religiösen und gesellschaftlichen Funktionen der antiken griechischen Bildnisse, die keine nach Wiedererkennbarkeit strebenden Porträts waren, sondern Weihegeschenke. Eine Identifizierung erfolgte zumeist durch Inschriften. In römischer Zeit gewann das Bildnis zunehmend die Qualität einer Effigie, die neben der Memorialfunktion bei Grabporträts zugleich auch den gesellschaftlich-politischen Ambitionen der Familie diente. Aber selbst in der vermeintlich schonungslosen Wiedergabe des Alters ist kein früher empirischer Verismus zu sehen, sondern eine typisierende Nobilitierung der gerontokratischen Oberschicht.
Beyer legt im Gegensatz dazu den Schwerpunkt auf die Geschichte des „autonomen Porträts“, das mit der Durchsetzung der individuellen Physiognomie gegenüber der Typisierung seinen Anfang nimmt. Unter dieser Prämisse setzt er den Beginn des autonomen Porträts mit Simone Martinis Bildnis des Heiligen Ludwig von Toulouse (Neapel, um 1317), auf dem der Stifter des Gemäldes, Robert von Anjou als individualisierte Herrschergestalt zu identifizieren ist, sowie dem Stifterbildnis Jacopo Gaetano Stefaneschi auf Giotto zugeschriebenen Stefaneschi-Altar (Vatikan, um 1320) an. Warum die individuelle Physiognomie in der Porträtkunst erst ab Anfang des 14. Jahrhunderts einsetzt, bleibt leider unerörtert.
Innerhalb der folgenden Kapitel, die jeweils ein Jahrhundert umfassen, werden die verschiedenen Gattungen und Funktionen des Porträts schwerpunktmäßig behandelt wie beispielsweise für das 16. Jahrhundert das Gelehrtenporträt des Humanismus und die päpstliche Bildpolitik der Hochrenaissance oder für das 17. Jahrhundert das holländische Gruppenporträt. Eine erhöhte Faszination übt die Geschichte des Selbstporträts aus, die Beyer konzis und kurzweilig darstellt. Erst in der Renaissance erfolgte eine Rückbesinnung auf die antike Tradition des Künstlerselbstbildnisses als Ausdruck des eigenen Ruhmes. Auch die von der übrigen Bildhandlung unabhängigen Selbstdarstellungen, etwa als Assistenzfiguren oder mit dem Gestus des aus dem Bild blickenden Malers wie das Selbstporträt Filippino Lippis im Freskenzyklus der Cappella Brancacci in Florenz, sind zwar als Signaturen zu verstehen. Zugleich stehen sie aber, so Beyer, in der noch mittelalterlichen Tradition als Ausdruck persönlicher Heilserwartung. Als exemlarisches „autonomes Selbstporträt“, das den Maler nicht „in Assistenz“ wiedergibt, führt Beyer Jan van Eycks Londoner „Bildnis eines Mannes mit rotem Turban“ an, das von dessen seit Vollendung des Genter Altars erreichten Wohlstand und künstlerischem Selbstbewußtsein zeugt. Seine gefestigte soziale Stellung betont die oft fälschlich als Turban bezeichnete rote Sendelbinde oder Chaperon, die damals zur höfischen Mode zählte. Diesem Porträt stellt Beyer das Brügger Bildnis Margarete van Eycks auf einer Doppelseite als Pendant gegenüber, das, anders als es die Reproduktion suggeriert, erheblich größer als das Selbstbildnis Jan van Eycks ist. Wenn das kleinere Selbstporträt tatsächlich das fehlende Gegenstück zu dem einstmals in der Brügger Malergilde verwahrten Bildnispaar von Jan und Margarete van Eyck sein soll — wie Beyer behauptet —, wäre interessant gewesen zu erörtern, warum van Eyck damit von der zu jener Zeit üblichen, bedeutungsgemäßen Relationierung der Eheleute, den Ehemann größer als seine Gattin darzustellen, die Beyer kurz zuvor an dem Londoner Doppelporträt Robert Campins aufzeigt, abgewichen ist.
Dieser immer wiederkehrende Nachteil von großformatigen Bildbänden, deren hochauflösende, ganzseitige Abbildungen das Problem der Größenverhältnisse von Original und Reproduktion verschleiern, kehrt sich zugleich in einen Vorteil um, wenn sie zu fokussierten Ausschnitten werden, die mit chirurgischer Präzision das Detail und die Pinselführung erfahrbar machen. Die mikroskopische Malweise und überragende Akribie van Eycks wird durch eine ganzseitige Detailvergrößerung der im Hohlspiegel der sogenannten „Arnolfini-Hochzeit“ gezeigten Trauzeugen dem Leser vor Augen geführt. Ob es sich bei der dargestellten Szene tatsächlich um ein Eheversprechen handelt, hätte hier angesichts der Ergebnisse der neueren Forschung (Lorne Campbell 1998) problematisiert werden müssen, da die Frau wie auf dem Bildnis Margarete van Eycks bereits den Kopfschmuck einer verheirateten Frau trägt.
Eine erhöhte Brisanz kommt den Porträts zu, wenn sie als Spiegel politischer Strukturen zu Staatsporträts werden. Die Pionierrolle des Papstporträts erkennt Beyer in diesem Zusammenhang vollkommen korrekt, wenngleich seine Deutungen nicht darunter leiden würden, wenn er den aktuellen Forschungsstand berücksichtigt hätte. Seit Melozzo da Forlis Porträt von Sixtus IV. im Kreise seiner Nepoten wurden Papstbildnisse regelmäßig als Staatsporträts und Manifeste dynastischer Interessen und des politischen Kalküls eingesetzt. Das „Gruppenbild mit Papst“ wurde zu einer neuen Bildgattung bis hin zu Raffael und Tizian und zum Austragungsort des Machtkampfes zwischen echten und falschen Nepoten, der Tote auf der Bildfläche wiederauferstehen und Lebende verschwinden lassen konnte. Hier zeigt sich eine der großen Stärken Beyers, der aus der Porträtanalyse heraus feinsinnig und plastisch den gesellschaftlichen Stand und das soziale Umfeld der Porträtierten, die politischen Rahmenbedingungen, ihre Veränderungen entwickelt und so die Funktion des Porträts entschlüsselt. Umso verwunderlicher, wenn er bei Raffaels Gemälde Julius’ II. von einem hypothetischen Wechselverhältnis von Bildnis und Individuum ausgeht und den Papst als „ganz selbstbezogen und in sich versunken“ deutet. Der fehlende Blickkontakt mit dem Betrachter dürfte hier vielmehr im Zusammenhang mit der päpstlichen Bekleidung des Papstes zu verstehen sein: Julius II. trägt eine Mozzetta und einen Camauro. Wenn es sich tatsächlich um eine Audienzszene handelt, was die Kleidungsstücke suggerieren, dann reagierte Raffael damit vermutlich auf die Hofsitten des 16. Jahrhunderts, nach denen der Bittsteller den Blickkontakt bei einer Audienz als Ausdruck der Devotion gegenüber dem Papst zu meiden hatte. In einem Porträt mußte sich folglich der Blick des Papstes abwenden, um nicht dem des Betrachters zu begegnen. Ähnliches gilt für Raffaels Gemälde Leos X. Alle Einzelheiten deuten auf eine Privataudienz am Schreibtisch des Papstes hin wie etwa die Handglocke auf dem Tisch, die über ihre Symbolhaftigkeit hinaus auch und insbesondere eine Audienzglocke ist, mit der der Papst den nächsten Besucher hereinzurufen pflegte, wie beispielsweise Montaignes Audienzschilderung für das 16. Jahrhundert belegt.
Eine herausragende Bedeutung für die Entwicklung des Porträts mißt Beyer den Gelehrtenbildnissen des Humanismus bei. Als eigener Typus innerhalb der altdeutschen Porträts prägten sie seines Erachtens die spätere Genese des bürgerlichen Porträts bis in das 18. und 19. Jahrhundert. Anders als den bürgerlichen oder höfischen Auftraggebern sei es den Humanisten jedoch nicht um die Legitimation einer dynastischen oder familiären Tradition beziehungsweise Repräsentation gegangen, sondern sie definierten sich durch ihre geistigen Werke. Mit dem Gelehrtenbildnis stößt das Porträt also auch an ein „humanistisches Dilemma“ und die Grenzen seiner Übersetzungsleistung. Das Bewußtsein der Uneinholbarkeit des Geistes durch die Malerei belegt Beyer mit Albrecht Dürers berühmten Kupferstich des Philipp Melanchton, dem die Inschrift beigegeben ist, daß selbst die „kunstgeübte (docta) Hand den Geist nicht malen konnte“, sondern nur das, was der Körper als dessen Hülle davon preisgibt. Daß viele dieser Bildnisse als Graphiken verbreitet wurden, liegt Beyer zufolge nicht allein am höheren Verbreitungsgrad dieses Mediums, sondern vereint das Bild auch auf der medialen Ebene mit den Schriften der Porträtierten. Während Luther die immense Bildproduktion, die ihn als Prototyp des evangelischen Pastors zeigte — fast jede protestantische Kirche wollte zu Propagandazwecken ein Porträt von ihm —, gelassen hingenommen haben soll, setzte Erasmus von Rotterdam seine Bildnisse auch strategisch ein, um sie seinen Förderern und Philosophenfreunden als Effigie zu senden.
Beyers Porträtdeutungen sind meist sehr treffend und es ist zudem besonders anregend, daß sie über die Einzelbetrachtung hinausgehen, indem sie den Werken ihren Stellenwert in der Porträtgenese immer wieder beimessen. So betont Beyer beispielsweise den nachhaltigen Einfluß von Hyacinthe Rigauds berühmten Pariser Porträt Ludwig XIV. auf die Bildnisse des 18. Jahrhunderts: Für das heute im Prado verwahrte Staatsporträt des erst neunjährigen Königs von Neapel, Ferdinand IV., zitierte Anton Raffael Mengs sowohl die Haltung wie auch Teile des Bildraums. Doch auch für bürgerliche Porträts wurden Rigauds Bildformeln prägend, wie etwa die Betonung der Drapierung und stofflichen Behandlung des Mantels bei Anton von Marons Weimarer Bildnis Johann Joachim Winckelmanns. Einen ähnlich erheblichen Einfluß übte — Beyer zufolge das bürgerliche Pendant zu Rigauds Gemälde — Jean Auguste Dominique Ingres Bildnis Louis François Bertins aus. Edouard Manet charakterisierte dieses Porträt des einflußreichsten französischen Verlegers zwischen Revolution und Restauration als das eines „satten, wohlhabenden, triumphierenden Buddhas der Bourgeoisie“. In Haltung und Farbigkeit gleicht ihm Getrude Stein auf Picassos Porträt. Steins Äußerung, daß dies Bildnis das einzige sei, das ihr Ich getreu widerspiegele, kann in diesem Zusammenhang auch auf ihr eigenes Rollenverständnis bezogen werden.
Das Buch meistert den Spagat zwischen einem wissenschaftlichen Überblickswerk und einem auch für den interessierten Laien verständlichen Bildband. Beyer benutzt die überwiegend ganzseitigen Abbildungen zudem häufig wie für eine Doppelprojektion, indem er die Werke oder Details so gegenüberstellt, daß der Leser auch eigene Vergleiche anstellen und Parallelen suchen kann. Auf hohem Niveau setzt das Buch dennoch keine umfangreichen Vorkenntnisse voraus, auch werden kunsthistorische Begriffe im Text regelmäßig in Parenthese erläutert. Gewünscht hätte man sich ein Glossar der wichtigsten Fachbegriffe. Der durchgehend flüssig geschriebene, teilweise sehr dichte Text erinnert in seiner lebendigen Sprache und seinem knappen schnörkellosen Stil an eine imaginäre Museumsführung. Der Verzicht auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat kommt dem ungehinderten Lesefluß zugute und läßt sich angesichts eines umfangreichen bibliographischen Anhangs zu jedem der besprochenen Werke verschmerzen. Ein ausführliches Register erleichtert das Auffinden der Werke und Künstler. Bei allen Unzulänglichkeiten, die eine Publikation zu einem derart vielschichtigen Thema zwangsläufig mit sich bringt, ist Beyers Porträtbuch ein Gewinn. Denn es erweitert jedem Leser den Horizont, indem durch den mutigen Überblick die Grenzen der Porträtgattungen überbrückt und neue, erfrischende Perspektiven geschaffen werden.
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei, München: Hirmer Verlag 2002
ISBN-10: 3-7774-9490-9, 413 S
Empfohlene Zitation:
Lucas Elmenhorst: [Rezension zu:] Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei, München 2002. In: ArtHist.net, 30.05.2003. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/reviews/230>.
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