REV Apr 12, 2020

Rathe, Clemens: Die Philosophie der Oberfläche

Reviewed by Stefan Schulz, Berlin
Editor: Livia Cárdenas
Click to enlarge

In den Kunst-, Kultur- und Medientheorien werden Oberflächen schon lange beschrieben, verglichen oder kritisiert. Dennoch gibt es keine konkrete Theorie der Oberfläche. Dies möchte Clemens Rathe mit seiner „Philosophie der Oberfläche“ ändern. Bereits mit dem Titel macht Rathe ernst, weist dieser auf eine erste Diskrepanz hin. Philosophie und Oberfläche waren sich lange fremd, steht ersteres doch für Wahrheit und Tiefe, Oberfläche hingegen für Trug und Schein (S. 10-14).

Der Gang durch die Begriffsgeschichte und den Forschungsstand zeigt die Herkunft des negativen Images der Oberfläche auf, die durch eine Gleichzeitigkeit von Interesse und Ignoranz gekennzeichnet ist. Rathe beginnt daraufhin Vorschläge für eine philosophische Annäherung zu machen, indem er sich im ersten, theoretischen Teil der Arbeit zunächst allgemein mit Wesen und Bedeutung von Erscheinung auseinandersetzt, um dann anschließend den Bogen zur Art und Weise der Wahrnehmung von Oberflächen zu schlagen. Im Kern drehen sich Rathes Thesen um medientheoretische, insbesondere phänomenologische Versuche, sich dem umstrittenen Medienbegriff zu stellen. [1] Damit schafft er es zum einem die Ambivalenz des Oberflächenbegriffs in den Blick zu bekommen und zum anderen eine Perspektive jenseits der gängigen Einschätzungen einzunehmen.

Da sich für Rathe die Oberfläche vordergründig als ein Vermittlungssprozess zwischen Innen und Außen auszeichnet, ist die Dialektik Hegels eine erste Ressource, sich der Oberfläche theoretisch zu nähern. Zentral ist Hegels dreigliedriger Erscheinungsbegriff, der sich durch ein anfänglich verhülltes Wesen (Innen) auszeichnet, welches uns allmählich erscheint, um dann Wirklichkeit zu werden (Außen). Mit Martin Heidegger und dem Kunst- und Medienphilosophen Boris Groys weitergedacht, bleibt dieser Prozess jedoch immer durch Unsicherheit, durch eine Ununterscheidbarkeit und Uneindeutigkeit gekennzeichnet, deren Auflösung nie zu einem Ende kommt. Groys fand dafür den Begriff des Verdachts, dem jedes (medien-)ästhetische Objekt anhaftet und aus diesem ein streitbares macht (S. 59f.).

Ein etwas nachgeschoben wirkendes Kapitel geht daraufhin knapp auf die naturwissenschaftlichen Thesen des Psychologen James J. Gibson ein (S. 61-68). Dieser erklärt die Oberfläche zum entscheidenden Medium in der Umweltbezogenheit des Menschen, indem sie uns als Schnittstelle, Schwelle, Grenze, Träger von Präsenz und Sinn u.ä. zum Weltverstehen und zur Welterzeugung anleitet. Es stellt sich hier die Frage, ob Gibson, und damit auch Rathe, den Menschen nicht zu stark nur als Flaneur und Augenmenschen begreift, der die Welt vor sich stellt, reliefartig erkundet und zusammensetzt. Rathe selbst gibt später am Anfang des sechsten Kapitels zu bedenken, dass Oberflächen keinesfalls nur visuelle Erscheinungsformen und Wirkungen beinhalten. Er legitimiert aber seine Entscheidung, die Visualität in den Vordergrund zu stellen lediglich damit, dass Oberflächen doch einen überwiegend optischen Charakter haben und der visuelle Sinn des Menschen ein „Leitsinn“ ist (S. 91). Es wären Überlegungen zu dem Rathe stark beeinflussenden ‚visual turn‘ angebracht gewesen, die diesen offen thematisiert und kritisch eingeordnet hätten. Damit ist das Thema keineswegs obsolet geworden, sondern eine weitere Dimension gewonnen. So hätte man etwa die stille, unbewusste Präsenz von Oberflächen in den Ästhetik-Theorien spätestens seit der Postmoderne und die Herrschaft „flacher Diskurse“ in geistes- und kulturwissenschaftlichen Debatten als eine Form impliziten Wissens oder einer unbewussten Theoriepolitik sichtbar und verstehbar machen können.[2]

Rathe schließt daran das fünfte Kapitel an, in dem er die verwickelten Interdependenzen zwischen Produktion und Rezeption sowie von Oberflächen zwischen Zeigen und Un-/Sichtbarmachung zu begreifen, als auch deren ‚Sinnlichkeit‘ und ‚Sinnhaftigkeit‘ vorzustellen versucht. Dazu widmet er sich den in den Medientheorien vorherrschenden wahrnehmungstheoretischen sowie semiotischen Ansätzen. Deutlich wird dabei, dass und wie die Oberfläche als Grund, inskribierte Fläche, Screen, Membran, kurzum als Kippfigur zwischen Innen und Außen, wie auch zwischen Objekt und Subjekt, Sinn transportiert, Rezeption ermöglicht oder verhindert, Präsenz stiftet, unsere Wahrnehmung mit diszipliniert, affiziert, irritiert. Indem sie zu Gunsten des zu Vermittelnden selbst zurücktritt oder ihre Materialität bzw. Stofflichkeit bei der Vermittlung zeigt, kann sie den Austauschprozess herstellen, stören, potenzieren bzw. heimsuchen.

Nach dem Gang durch eine Vielzahl von Theoriebezügen, widmet sich Rathe im zweiten Teil der Arbeit praktischen Beispielen. Dabei wählt er die Hülle als operativen Begriff (S. 135-141), über den die Oberflächeneffekte in der Mode und in der Architektur nachgegangen und mittels Gottfried Sempers berüchtigtem Bekleidungstheorem miteinander verknüpft vorgestellt werden. Hierbei kehren die im theoretischen Teil gewonnenen Ergebnisse in den Beschreibungen wieder. So wird die Spannung von „Entbergen“ und „Verbergen“ (Nacktheit und Bekleidung), die einander bedingenden und somit erst den Verdacht hervorbringenden Verhältnisse von Innen und Außen (Hülle und Blöße) sowie die Unmöglichkeit oder Enttäuschung einer irgendwie erhofften Auflösung in der bzw. durch die Tiefe deutlich. Ebenso wird nochmals die These Gibsons, dass Flächen zentrales Scharnier unserer (visuellen und nun eben auch räumlichen) Wahrnehmung sind, durch das Beispiel der in der Moderne eingeführten Flächenarchitektur unterstützt. Der von Rathe angeführte Umgang mit dem Ornament im Jugendstil, in der Moderne und in der Postmoderne unterstreicht den genannten Zusammenhang von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit von Oberflächen bzw. macht deren ästhetische und kommunikative Funktion klar. Die Irritation aufgrund einer gewissen Ununterscheidbarkeit oder Vermischung von Oberflächen (Haut und Kleidung, Wand und Ornament) und der damit einhergehende Moment des Verdachts, lässt einen an die im ersten Teil gemachte Bemerkung denken, dass hinter jeder Oberfläche doch nur eine weitere folgt.

Clemens Rathe hat sich der Oberfläche in seiner Studie hauptsächlich über die Auseinandersetzung mit medienphilosophischen und kulturgeschichtlichen Aspekten genährt und ihr damit die theoretische Aufmerksamkeit gewidmet, die der Oberflächenbegriff verdient hat. Seine „Philosophie der Oberfläche“ will zunächst ein Umdenken erzeugen und stellt einen ersten Vorschlag für einen ernsthaften Umgang mit ihr dar. Seine Arbeit leistet darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zum transdisziplinären Forschungsfeld der Visual Studies, dass in den letzten zehn Jahren von der Diskussion um Bilder dominiert war. Rathe lässt den Bildbegriff hinter sich und macht stattdessen den der Oberfläche als eine „Figur des Dritten“ stark. [3] Vor allem überzeugt das im ersten Teil Schritt für Schritt entfaltete Modell, welches von Spannungsverhältnissen (semiotisch – materiell, Durchsicht – Ansicht, rational – sinnlich, Innen – Außen, aktiv – passiv etc.) geprägt ist.

Eine Fokussierung auf zentrale Theorien, die Zurückhaltung in der Ausbeutung der Fülle des Theoriematerials und der Anführung von Beispielen aus der Literatur hätte jedoch der gesamten Arbeit gut getan, wirken insbesondere letztere aufgrund ihrer knappen Behandlung nicht selten nur nachgeschoben und anekdotenhaft. Im zweiten Teil ist der Anteil mit stellenweise nur basalen Informationen augenfällig, wie die sehr allgemeinen und antiquierten Feststellungen von John Carl Flügel über die Schutzfunktion der Kleidung aus dem Jahr 1930 (S. 144-153). Leider hat sich Rathe im zweiten Teil auch dagegen entschieden über die im ersten Teil gemachten Erkenntnisse hinaus zu gehen. So hätte er etwa die Auseinandersetzung mit dem als Raum- und Denkmodell vorgestellten Barcelona-Pavillons Mies van der Rohes zum Anlass nehmen können, um seine Oberflächentheorie mit körper-, macht- und geschlechtsspezifischen Beobachtungen weiter zu führen (S. 213-223). Dazu hat etwa Irene Nierhaus am Beispiel von Haus Tugendhat des gleichen Architekten erste Ideen vorgezeichnet, indem sie topologisch Oberflächen und Blickregimen nachgeht und der Oberflächenthematik somit den Rahmen eines Dispositivs verleiht. [4]

Rathe schließt im Fazit mit der Erkenntnis, dass die Oberfläche wesentlich tiefer liegt, als bisher angenommen (S. 259). Doch wie weiter? Ein Weiterdenken kann nicht wieder nur zurück zur Oberfläche oder zu denen, die einer wahrhaften Tiefe nachtrauern, führen. Das Nachdenken über die Oberfläche führt zu einer Leerstelle, die tatsächlich nicht zu füllen ist. Rathe markiert in seiner Arbeit den Umstand, dass das (oberflächliche) Spiel der von Bedeutung und Referenz abgelösten Signifikanten, an die Stelle der semantischen Tiefe tritt. Dieses medienästhetische Spiel als das der Oberfläche zu beschreiben ist richtig, stellt aber nur die eine Seite der Medaille dar. Der dispositive und hybride Charakter von Medien, und hierzu stellt nun dank Rathes Studie die Oberfläche eine zentrale Verstehensfigur dar, sichert sich den Status eines ambivalenten Rahmens, in dem das ‚Sein‘ und ‚Mitsein‘ auf die Probe gestellt ist und ständig neu verhandelt wird. Medien markieren eine nicht aufhebbare „Zäsur“ im Anthropologischen, wie der Medientheoretiker Georg Christoph Tholen feststellt: „Medien sind indifferent gegenüber dem, was sie speichern, übertragen und verarbeiten. Eben diese Gleichgültigkeit oder Indifferenz gegenüber dem Sinn der Botschaft ist vielleicht auch als In-Differenz lesbar, d.h. als Dazwischenkunft der uns teilenden und dadurch verbindenden Medien, mithin als das, was uns vorausgeht bzw. den anthropologischen Fixpunkt dieses ‚Uns‘ oder ‚Wir‘ dezentriert.“ [5] Was Rathes Flaneur also in Atem hält, ist die Frage nach dem Menschen. Diese kann nach Tholen nur als die Frage nach der Möglichkeit der Bedingungen medientechnischer sowie -ästhetischer Dispositive gestellt werden, in, über und mit denen wir ‚uns‘ mit-teilen, Tholen: „Daß der Mensch nicht ganz im Menschen ist, […] bedeutet, daß die ‚Zäsur‘ der Medien selbst ‚unaufhebbar‘ bleibt.“ [6] Wir haben das Gewissen eines oberflächlichen Zeitalters.

[1] Auch Rathe tendiert dazu den Medienbegriff überzustrapazieren, wenn er die Oberfläche als Medium bezeichnet, aber mit ihr doch eher intermediale Prozesse und Akte beschreibt. Vgl. auch kritisch Wiesing, Lambert: „Was ist ein Medium?“, in ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. Main 2005, S. 149-162.
[2] Erste Versuche hat die ebenso von Rathe oft zitierte Sybille Krämer mit ihrer Diagrammatologie angestellt, in denen sie jedoch noch zu sehr das Schrift-Paradigma und Linien-Primat, statt das der Fläche bevorzugt behandelt, siehe Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016. Zur Begrifflichkeit siehe Gumbrecht, Hans-Ulrich: „Flache Diskurse“, in: Materialität der Kommunikation, hrsg. von dems. u.a., Frankfurt a. Main 1988, S. 914-923.
[3] Zu einigen Ansätzen den literaturwissenschaftlichen Begriff auch für kultur- und sozialwissenschaftliche Diskurse fruchtbar zu machen siehe etwa: Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, hrsg. v. Thomas Bedorf, Joachim Fischer, Gesa Lindemann, München 2010.
[4] Nierhaus, Irene: „WAND/SCHIRM/BILD. Zur Bildräumlichkeit in der Moderne“, in: Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code, hrsg. v. Susanne von Falkenhausen u.a., Marburg 2004, S.122-132.
[5] Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. Main 2002, hier S. 18.
[6] Ebd., S. 8f.

Rathe, Clemens: Die Philosophie der Oberfläche. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung (= Edition Medienwissenschaft; 71), Bielefeld: transcript Verlag 2020
ISBN-13: 978-3-8376-5084-6, 286 S., 39,99 EUR, Inhaltsverzeichnis

Recommended Citation:
Stefan Schulz: [Review of:] Rathe, Clemens: Die Philosophie der Oberfläche. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung (= Edition Medienwissenschaft; 71), Bielefeld 2020. In: ArtHist.net, Apr 12, 2020 (accessed Oct 15, 2024), <https://arthist.net/reviews/22961>.

Creative Commons BY-NC-NDThis work is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International License. For the conditions under which you may distribute, copy and transmit the work, please go to https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

^