REV 03.05.2003

Reiner Sörries: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur

Rezensiert von Christian Fuhrmeister, Zentralinstitut für Kunstgeschichte
Redaktion: Rainer Donandt

Beinbrecher, Friedhofsschaffner, Lichtmutter? Hochmutsallee, Ouroboros, Percht?

Diese Begriffe dürften selbst ausgewiesenen Kunst- und KulturwissenschaftlerInnen einiges Kopfzerbrechen bereiten. Umso höher ist der Erkenntnisgewinn einzuschätzen, den dieses Speziallexikon bietet. Es richtet sich gleichermaßen an interessierte Laien, denen es die schnelle Begriffsklärung erleichtern und Grundwissen vermitteln will, wie an Fachleute, denen im bibliographischen Anhang der Artikel nicht nur die bekannten Standardwerke, sondern auch rezente Forschungsarbeiten (bis zum Erscheinungsjahr 2001) präsentiert werden.

Beide Aufgaben, die sich der Direktor des Kasseler Zentralinstituts und Museums für Sepulkralkultur gestellt hat, werden überzeugend gelöst. So werden Nicht-Akademiker beispielsweise mit klaren, prägnanten Worten davon in Kenntnis gesetzt, was es mit der Rede vom "Paradigmenwechsel" auf sich hat (S.193 und passim). Unter KunsthistorikerInnen werden insbesondere all jene von diesem Wörterbuch profitieren, die zu Themen der christlichen Ikongraphie, vor allem aber zu Todesdarstellungen, Sepulkralkultur und Memorialarchitektur im engeren und im weiteren Sinne arbeiten. Ihnen ermöglicht der Band in aller Regel den gezielten Zugriff auf genau jene Publikationen (Monographien ebenso wie entlegenere Aufsätze und Artikel in Festschriften und Periodika), die gerade in der Anfangs- oder Orientierungsphase einer Arbeit ausgesprochen hilfreich sind.

Dies gilt auch, ja bisweilen in besonderem Maße für die junge Querschnittsdisziplin der Materialikonographie. So ist angesichts der Praxen der zeitgenössischen Kunst - beispielsweise bei Doris Salcedo - der Eintrag "Haarandenken" (S. 136) eine sinnvolle Ergänzung zum entsprechenden Artikel im "Lexikon des künstlerischen Materials" [1]; sinnvoll deshalb, weil die hier thematisierte Tradition von Haarbildern und Memorialschmuck als Ausdruck individueller Erinnerungskultur jene kulturgeschichtliche Dimension anschaulich werden lässt, die gerade für die gegenwärtige Kunstproduktion bedeutsam erscheint. Ähnliches lässt sich über die Einträge zu "Asche" ("reine Materie", S. 25), "Findling", "Knochen", "Kunstblumen", "Papierblumen", "Schmiedeeisen", "Symbolpflanzen" (mit "Nelke" und "Trauerweide" als eigenen Lemmata) und "Zitrone" sagen, die gelegentlich - wie etwa "Gebein" (S. 106) - auch durch treffend ausgewählte Bildbeispiele illustriert werden.

Gerade diese S/W-Abbildungen verweisen auf eine der großen Stärken des Lexikonprojekts, nämlich auf die institutionelle Verzahnung mit dem Bildarchiv der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (AFD) und mit der Forschungsbibliothek des Kasseler "ZI". Deren reichhaltigen Bestände an Bildmaterial werden hier ausschnittweise greifbar; für das Lexikon wurden offenbar mit Bedacht entlegenere Beispiele ausgesucht, die sowohl die Texte illustrieren als auch ihrerseits neue Hinweise auf den jeweiligen Sachverhalt zu geben vermögen. Auch die technische Ausstattung des solide gebundenen Buches lässt keine Wünsche offen: Von den zwar nur in kleinem Format, aber mit hoher Auflösung reproduzierten Abbildungen über die praktischen Kolumnentitel bis zum kräftig kartonierten Einband ist an alles gedacht, was die dauerhafte Benutzung erleichtert.

Zentrale Begriffe - wie z.B. "Brauchtum", "Friedhof", "Pest" oder "Tod" - werden ihrem Stellenwert entsprechend ausführlich behandelt. Sie erstrecken sich über mehrere Seiten, sind oft mehrfach unterteilt und enthalten chronologisch geordnete Bibliographien, die Anknüpfungspunkte für zahlreiche Disziplinen bieten dürften.

Dabei ist das Bemühen, die komplexen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge in knapper, betont sachlicher Sprache darzustellen, besonders zu würdigen. Umso mehr überrascht im Lemma "Friedhofsbauten" die in einem Nebensatz versteckte Bemerkung, dass die Bauaufgabe Krematorium von Architekten "selten gut gelöst" (S. 95) worden sei. Obwohl der eigene Eintrag zu "Krematorium" (S. 182) die spezifischen Probleme und Hemmnisse plastisch schildert (Anspruch auf Würde versus Erfordernis des Schornsteins, Beziehung der Einäscherung zur Trauerfeier, etc.), bleibt die apodiktische Wertung zumindest diskussionswürdig (man denke etwa an das Wiener Krematorium von Clemens Holzmeister, 1921/1923, oder an den preisgekrönten Bau von Axel Schultes am Baumschulenweg in Berlin- Treptow, 1998 [2]).

Positiv fällt des weiteren die Einbeziehung der historischen, wie auch der forschungsgeschichtlichen Ebene auf, d.h. die Schilderung der wechselnden Perspektiven auf den jeweiligen Gegenstand oder Vorgang. Dies beinhaltet zuweilen auch den deutlichen Hinweis auf Forschungsdesiderate (z.B. Berufsgeschichte der auf Grabmale spezialisierten Steinmetzen, S. 289). Grundsätzlich gilt: Wer Informationen zur "intrauterinen Taufe" oder zur "Mazeration", zur "Tödin" oder zum "Zimmerdenkmal" braucht, wird hier ebenso fündig wie Kultur- oder Sozialwissenschaftlerinnen, die wissen wollen oder müssen, seit wann es den "Volkstrauertag" gibt und an welchen Tagen er seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschlands verschiedenen politischen Systemen begangen wurde.

Die wenigen kritikwürdigen Punkte fallen gegenüber der beindruckenden Syntheseleistung des Herausgebers kaum ins Gewicht. So enthält der Artikel "Ewigkeit" einen Verweis auf "Dinzelbacher 2000", ohne dass dieses Kürzel in der Bibliographie der zitierten Literatur (S. 393 - 403) aufgelöst wird. So fehlt bei den Lemmata "Friedhofsordnung" bzw. "Friedhofsrecht" der Hinweis auf die einschlägige Dissertation von Tade Spranger [3], ebenso im Eintrag zu "Ahnenfriedhof/Ahnenstätten" der fundamentale Aufsatz von Joachim Wolschke-Bulmahn [4].

Auch in inhaltlicher Hinsicht sind nur Kleinigkeiten zu bedauern. So berücksichtigt der Artikel "Hochkreuz" (S. 144 - 145) nicht die massenhafte Verwendung dieses Symbols im Rahmen der Gefallenenbestattung im 20. Jahrhundert; dieses Standardelement von Soldatenfriedhöfen und Denkmälern (u. a. Tannenberg-Nationaldenkmal, 1927 [5]; Schlageter- Denkmal Düsseldorf, 1931 [6]; Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, Bonner Nordfriedhof, 1980, etc.) wird auch in den Einträgen "Kreuz" und "Soldatenfriedhof" nicht thematisiert oder problematisiert. Der Artikel "Kriegerdenkmal" besteht einzig aus Querverweisen; hier ist die konzise Darstellung von Meinhold Lurz in der Theologischen Realenzyklopädie vorzuziehen. [7] Der Eintrag "Mohn" verweist nicht auf die bis heute außerordentliche Bedeutung dieser Blume für den britischen Gefallenenkult [8], und auch das Phänomen "Heiliger Hain" wird leider nicht berücksichtigt. [9]

Unklar bleibt, warum der Architekt Wilhelm Kreis durchgehend (S. 65, 184, 324) mit 2-s (Kreiss) geschrieben wird. Terminologisch nicht korrekt ist die Darstellung im Lemma "Totenburg" (S. 323 - 324), Kreis habe im Nationalsozialismus einen "Ring von Totenburgen" um Großdeutschland geplant; seine Entwürfe von Ehrenmalen sind erst in der Nachkriegszeit (fälschlicherweise) als "Totenburgen" bezeichnet worden [10].

Diese Marginalien schmälern jedoch keineswegs das positive Urteil des Rezensenten, zumal der vorliegende Band ausdrücklich primär die volkskundlich- kulturgeschichtliche Dimension von Bestattungs- und Friedhofskultur präsentiert. Die punktuellen Monita mögen vielmehr die bewundernswerte Breite des Wörterbuchs andeuten, das nach eigener Aussage eine "auf das Wesentliche verdichtete Darstellung der Sepulkralkultur" (Klappentext) anstrebt.

Deshalb darf zugleich der angekündigte zweite Band, der sich der archäologisch-kunsthistorischen Perspektive auf den Gegenstandsbereich widmet, mit Spannung erwartet werden. Band 3 soll "praktisch-aktuelle" Fragestellungen behandeln, Band 4 die musikkundlich-literaturgeschichtlichen Aspekte erläutern, Band 5 das Lexikon mit einem biografisch-personenkundlichen Teil komplettieren.

Es ist zu wünschen, dass dieses anspruchsvolle, weit gespannte Programm von einem Gesamtregister der geplanten fünf Bände gekrönt wird. Doch schon jetzt kann die Anschaffung dieses wichtigen Nachschlagewerks uneingeschränkt empfohlen werden.

[1] Alexandra Köhring, Petra Lange-Berndt, Dietmar Rübel: Haare, in: Monika Wagner, Dietmar Rübel, Sebastian Hackenschmidt (Hrsg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn. München: C. H. Beck, 2002, S. 136 - 140.

[2] Vgl. http://www.verlagbt.de/fwbau/pdf/2-2001-05-02.pdf

[3] Tade Matthias Spranger: Die Beschränkungen des kommunalen Satzunggebers beim Erlaß von Vorschriften zur Grabgestaltung (Diss. Universität Bonn 1997). Berlin: Duncker & Humblot, 1999 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 782).

[4] Joachim Wolschke-Bulmahn: The nationalization of nature and the naturalization of the German nation: "teutonic" trends in early twentieth- century landscape design, in: ders. (Hrsg.): Nature and ideology. Natural garden design in the twentieth century (Dumbarton Oaks Colloquium on the History of Landscape Architecture XVIII). Washington, D.C.: Dumbarton Oaks Research Library and Collection, 1997, S. 187 - 219; ders.: Findlinge, Landschaftsgestaltung und die völkische Suche nach nationaler Identität im frühen 20. Jahrhundert, in: Gert Gröning, Uwe Schneider (Hrsg.): Gartenkultur und nationale Identität. Strategien nationaler und regionaler Identitätsstiftung in der deutschen Gartenkultur. Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft, 2001, S. 76 - 93.

[5] Jürgen Tietz: Das Tannenberg-Nationaldenkmal. Architektur, Geschichte, Kontext (Diss. TU Berlin 1997). Berlin: Verlag Bauwesen, 1999.

[6] Kathrin Hoffmann-Curtius: Das Kreuz als Nationaldenkmal, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 48, 1985, S. 77 - 100; vgl. zum Thema "Hochkreuz" auch Christian Fuhrmeister, "Es entwickelte sich in Minden ein kleiner Religionskrieg": Das Schlageter-Denkmal an der Porta Westfalica (1933/34), ein Fallbeispiel für den Symbolkampf zwischen Christenkreuz und Hakenkreuz in den ersten Jahren des Nationalsozialismus, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde, Bd. 77, 1999, S. 350 - 379, bes. S. 372 - 376.

[7] Meinhold Lurz: Kriegerdenkmal, in: TRE, Band XX, Berlin & New York: Walter de Gruyter, 1990, S. 55 - 61.

[8] Vgl. Christian Fuhrmeister: Klatschmohn und Ochsenblut. Zur Ikonographie der Kriegsgräberstätten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, in: Gröning/Schneider 2001 (wie [4]), S. 119 - 134, hier S. 126 - 127.

[9] Vgl. Stadt Neumünster, Hauptamt-Pressestelle (Hrsg.), Heinz Lindner (Bearb.): Geschichte des Heldenhains der Stadt Neumünster. Masch. Manuskript, 1977 (Stabi Berlin: 6 B 1964); Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Band 3: Erster Weltkrieg. Heidelberg: Esprint Verlag, 1985, S. 98 - 108; Band 4: Weimarer Republik. Heidelberg: Esprint Verlag, 1985, S. 197 - 198; Gert Gröning, Uwe Schneider: Naturmystifizierung und Germanische Mythologie - Die Heldenhaine, ein nationalistisches Denkmalskonzept aus dem Ersten Weltkrieg, in: Gröning/Schneider 2001 (wie [4]), S. 94 - 118.

[10] Vgl. Gunnar Brands: Bekenntnisse eines Angepassten. Der Architekt Wilhelm Kreis als Generalbaurat für die Gestaltung der Deutschen Kriegerfriedhöfe, in: Ulrich Kuder (Hrsg.): Architektur und Ingenieurwesen zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933 - 1945. Berlin: Gebr. Mann Verlag, 1997, S. 124 - 156, hier Anm. 19, 30 und 31 (an anderen Stellen dieses Aufsatzes spricht allerdings auch Brands missverständlich von Kreis' "Totenburgen"); ders.: From World War I cemeteries to the Nazi "Fortresses of the dead". Architecture, heroic landscape, and the quest for national identity in Germany, in: Joachim Wolschke-Bulmahn (Hrsg.): Places of commemoration. Search for identity and landscape design (Dumbarton Oaks Colloquium on the History of Landscape Architecture, XIX). Washington, DC : Dumbarton Oaks Research Library and Collection, 2001, S. 215 - 256; Christian Fuhrmeister: Die >>unsterbliche Landschaft<<, der Raum des Reiches und die Toten der Nation. Die Totenburgen Bitoli (1936) und Quero (1939) als strategische Memorialarchitektur, in: kritische berichte, Heft 2/2001, S. 56 - 70.

Sörries, Reiner: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, Braunschweig: Thalacker Medien
ISBN-10: 3-87815-173-X

Empfohlene Zitation:
Christian Fuhrmeister: [Rezension zu:] Sörries, Reiner: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, Braunschweig. In: ArtHist.net, 03.05.2003. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/227>.

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