REV-CONF 08.02.2020

Geschichte der Architekturgeschichte

Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 03.07.2019

Bericht von Alexandra Axtmann und Manuela Klauser, Karlsruhe und München
Redaktion: Steffen Haug

[Tagungsbericht im Auftrag der Veranstalter]

Geschichte der Architekturgeschichte. Die Genese einer wissenschaftlichen Disziplin im Spannungsfeld von nationalen Perspektiven und europäischen Maßstäben

Konzeption: Prof. Dr. Sabine Frommel, École Pratique des Hautes Études, Paris (Université PSL), HISTARA EA-7347 und Prof. Dr. Henrik Karge, Technische Universität Dresden, Institut für Kunst- und Musikwissenschaft, Professur für Kunstgeschichte

Der im Juli 2019 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München abgehaltene Workshop behandelte das Thema der Genese der Architekturgeschichte als europäisches Phänomen im 19. Jh. und deren Beitrag zur Entstehung nationaler Identitäten und Stereotypen. Mit Blick auf aktuelle Diskussionen um größere Bauvorhaben, Pflege und Erhalt von kulturellem Erbe sowie die Situation des Faches an den Hochschulen stellten die Initiatoren Sabine Frommel und Henrik Karge zunächst die Ziele und Perspektiven des Workshops in einer thematischen und inhaltlichen Einführung vor.

Henrik Karge machte anhand der deutschen Forschungshistorie zur Architekturgeschichte deutlich, welche Defizite die Erforschung der Etablierung des Faches im 19. Jh. charakterisieren und welche Protagonisten, beispielsweise Franz Kugler (1808–1858) oder Carl Schnaase (1798–1875), hierbei von Interesse sind. Sabine Frommel legte mit ihrem Einblick in die französische Forschung zum Thema dar, welche weiteren Perspektiven – neben der kulturellen und nationalen – in der Betrachtung eine größere Rolle spielen sollen. So nahm etwa die französische Architekturgeschichte aufgrund der in Frankreich etablierten institutionellen Anbindung des Fachs an die Ecoles des Beaux-Arts besonderen Einfluss auf die Entwurfsprozesse und Diskurse der Architekten. Demgegenüber entstammten die Vertreter in Deutschland hauptsächlich dem universitären Betrieb der Kunstgeschichte und übernahmen oftmals zugleich die architekturgeschichtliche Lehre. Die (poly-)technischen Hochschulen entwickelten daher erst im weiteren Verlauf eine eigenständige, von der forschungsorientierten und retrospektiven Kunstgeschichte der universitären Lehrstühle zu differenzierende, lehr- und gegenwartsbezogene Architekturgeschichte. Dort, wo die Lehrkörper nicht miteinander in Verbindung standen, verhinderte die organisatorische Trennung beider Hochschultypen alsbald den fachlich notwendigen Austausch und Abgleich mit dem neuesten Forschungsstand, wobei der Hang der Kunstgeschichte des späten 19. Jh., lückenhafte Faktenlagen narrativ aufzufüllen, auf beiden Seiten zu immer deutlicher voneinander zu trennenden Methoden und Präferenzen führte. Sowohl Frommel als auch Karge stellten den Einfluss eines europazentrierten, mitunter nationalistischen Narrativs von Architekturgeschichte und einer damit verbundenen Architekturgenese im 19. Jh. in Frage. Architekturgeschichte als politisches und kulturell relevantes Themenfeld ist daher in seiner Historizität, seiner Entwicklung als Wissenschaftsdisziplin und seiner Diversität in den verschiedenen europäischen Ländern umfassender als bisher zu untersuchen. Eine adäquate Erforschung einer europäischen Geschichte der Architekturgeschichte sieht sich also vor der Herausforderung, neben den architekturtheoretischen und -geschichtlichen Inhalten, auch deren besondere Wechselwirkungen zu anderen historischen Wissenschaften, sowie in Entwurf und Bau die jeweilige kulturelle Bedingtheit und national-ideologische Ausrichtung miteinzubeziehen und dabei die etablierten und standardisierten Entwicklungsmodelle europäischer Baustile im Ländervergleich zu hinterfragen. Zu beachten sind dabei die unterschiedlichen Methoden und Auffassungen der Disziplin in den verschiedenen europäischen Ländern sowie das derzeitige Fehlen komparatistischer Studien.

Da Architekturen in ihrer Wirkung als identitätsstiftende Faktoren, mit denen innerhalb der politischen Systeme weltweit unterschiedlich umgegangen wird, heute kritischer untersucht werden, erscheinen die Fragestellungen um so relevanter. Wie funktionieren kulturspezifische Narrative über Architektur und deren Geschichte? Welche ideologischen Implikationen werden innerstaatlich und von außen bewusst oder unbewusst damit verbunden? Wie war und ist die Sprache in den jeweiligen Fachkulturen und der Austausch untereinander? Wie wurde und wird Architekturgeschichte gelehrt und welchen Stellenwert hat sie innerhalb des Fächerkanons? Lassen sich internationale Wechselwirkungen der Länder, ihrer akademischen Institutionen und ihrer spezifischen Wissenschaftstraditionen im Vergleich mit einem im Verlauf des 19. Jh. herausgebildeten, weitgehend standardisierten Entwicklungsmodell europäischer Baustile erfassen?

In sechs Beiträgen zu den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz, Kroatien, Katalonien und Großbritannien wurden Fallstudien vorgetragen und dabei Fragen nach den jeweiligen methodischen und theoretischen Traditionen gestellt. Petra Brouwer (Amsterdam) befasste sich in ihrem Vortrag „A second Golden Age? Dutch architectural culture in the 19th century“ mit der Entstehung des Fachs im frühen 19. Jh. und seiner Einflussnahme auf die architektonische Entwicklung der Niederlande bis ins frühe 20. Jh. Thematisiert wurde der Einfluss des niederländischen, neogotisch geprägten Denkmalpflegers und Architekten Pierre Cuypers (1827–1921), dessen Schwerpunkt den niederländischen Kirchenbau über Jahrzehnte dominierte. Die zweite Hälfte des 19. Jh. ließ – parallel zum oder infolge des sich etablierenden Fachs der Architekturgeschichte – ein Bewusstsein für nationalspezifische Eigenleistungen erwachen, woraus eine weitere Generation von Historisten eine besondere Richtung der niederländischen Neorenaissance synthetisierte. Brouwer spannte den Bogen weiter bis in das beginnende 20. Jh. und einen mit dem Namen H. P. Berlage (1856–1934) als Lehrer und als Architekt verknüpften Paradigmenwechsel. In der ihm nachfolgenden Genese einer auch im Erscheinungsbild rational geprägten Architektur ist deutlich die enge Verflechtung der gebauten Form mit der gelehrten Architekturgeschichte erkennbar.

Im Anschluss erläuterte Javier Girón Sierra (Madrid) in seinem Vortrag „A very French World History of Architecture: Auguste Choisy’s ‚Histoire de l’architecture‘ (1899) in the context of the emergence of a discipline“ den nicht zu unterschätzenden Einfluss des Ingenieurs und Architekturhistorikers Auguste Choisy (1841–1909) auf die Verfestigung eines architekturgeschichtlichen Kanons um 1900 mit speziellem Fokus auf Frankreich sowie weiteren (west-)europäischen Nationen. Sierra gab den kritisch-methodischen Hinweis auf die von Choisy in seiner „Histoire de l’Architecture“ genutzten grafischen Darstellungen der Ausweitung der Pilgerwege von und nach Santiago de Compostela als eine scheinbar objektive Untermauerung von subjektiv erarbeiteten Narrativen. Dieser Methodik sei besondere Aufmerksamkeit zu widmen, wie auch Karge in seiner Einführung bemerkt hatte.

Welchen Stellenwert das Thema in der schweizerischen Architektenausbildung des 19. Jh. bekleidete, betrachtete Sonja Hildebrand (Mendrisio) am Beispiel der „Architekturgeschichte am Eidgenössischen Polytechnikum: Gottfried Semper und sein Umfeld“ näher. Die Schweiz stellt aufgrund ihrer geografischen wie bevölkerungsspezifischen Lage ein kulturelles Transitland dar, das schwerpunktmäßig Einflüssen der führenden Kulturnationen des 19. Jh. ausgesetzt war. Das Züricher Polytechnikum war dabei organisatorisch deutlich stärker mit der Universität verbunden, als in anderen Nationen üblich. Die aus dieser Konstellation bedingte, praxis- wie forschungsorientierte Architekturlehre konnte sich schule-machend etablieren und alsbald von der reinen Historie auf vormalige Randphänomene wie die Architekturästhetik ausgeweitet werden. In der Nachfolge Sempers widmeten sich weitere Lehrer dem Ausbau des Fachs unter Berücksichtigung nationalspezifischer Traditionen, etwa dem Holzbau. Im Fokus standen die Lehrer Carl Ferdinand von Ehrenberg (1806–1841), Ferdinand Stadler (1813–1870) und Ernst Gladbach (1812–1896) mit ihrem besonderen Anteil an der Herausbildung einer Schweizer Nationalarchitektur, deren kulturspezifischer Bedeutungsgehalt mitunter stark ausgeschmückt wurde.

Jasenka Gudelj (Zagreb) nahm in ihrem Beitrag „History of architecture of historical Croatian lands vs. History of architecture in Croatia“ die Problematik einer nationalen Architekturgeschichte auf, die aufgrund der mehrfach durch Kriege veränderten territorialen Grenzsetzungen schwer in generalistischen Überblicken und Bewertungen fassbar ist. Aus kulturhistorischen Traditionen heraus sah sich Kroatien territorial lange in der Erbfolge italienischer wie griechischer Hochkultur und bemühte sich, diesen Anspruch an die eigene Nationalität in der Architektur sichtbar und aktuell zu halten. Somit orientierte man sich auch in der Lehre am Kanon italienischer Kunstgeschichtsschreibung und favorisierte vor allem die Epochen des 15. bis 18. Jh. In der methodischen Ausbildung des Fachs ist zudem der Einfluss des Habsburger Regimes zu bedenken, so dass kroatische Geisteswissenschaften heute sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Didaktik eigene Impulse zu entwickeln bestrebt sind.

Wie schwierig es ist, eine unabhängige Wissenschaft und manch vernachlässigte Baustilforschung in ideologisch festgefahrenen, politischen Systemen zu betreiben, erörterte der Beitrag von Joan Molet Petit (Barcelona) unter dem Titel „Wertungen und Umwertungen. Der Eklektizismus in der Architekturgeschichte Kataloniens“. Ausgehend von der Etablierung einer Idealvorstellung nationaler Architektur Spaniens im 19. Jh. legte Molet Petit dar, wie selbst noch im 20. Jh. verfasste Handbücher zur Architekturgeschichte nationalistische Bewertungen präferieren und regionalspezifische Entwicklungen, beispielsweise Kataloniens, fast vollständig ausblenden bzw. allenfalls als Randphänome thematisieren. Über den methodischen Weg der Eklektizismus-Forschung argumentierend, näherte Molet Petit sich der selbst innerhalb der eigenständigen Architekturgeschichte Kataloniens kritisch zu bewertenden Gaudì-Forschung, da Antonì Gaudìs Werk noch zu wenig als Teil eines inner-katalanischen Architekturdiskurses begriffen wird. Molet Petit wies darauf hin, dass sich um den Begriff des Eklektizismus bereits gegen Ende des 19. Jh. im Land ein intensiver Disput entwickelte, der diese besondere Form der Architekturgenese als Gegenpol zur ‚Stildebatte‘ als innovationsfähig und kreativ nachzuweisen suchte. Eine wissenschaftliche Erforschung des 19. Jh. und seiner ihm eigenen Leistungen in der Kunst und Architektur ist aber erst dann zu erwarten, wenn die heutige Architekturgeschichte ihren mitunter noch immer vorhandenen Hang zu klischeebelasteten Narrativen abzulegen bereit ist.

Der den Workshop-Tag abschließende Vortrag von Richard J. Williams (Edinburgh) über „British architectural history and its discontents: popular culture, social class and reaction, from the 1950s to now“ wandte ebenfalls den Blick auf die Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jh. Williams fokussierte eine politische, zugleich sozialgeschichtliche Betrachtung von Kunst und Architektur an Beispielen von Timothy J. Clarks „The Painting of Modern Life“ (1985), der Person des Architekturkritikers Reyner Banham (1922–1988) und der medialen Wirkmacht von Fotografien Julius Shulmans (1910–2009). Damit wurde der Bogen zu aktuellen Fragestellungen der Architektur als identitätsstiftender Faktor oder der ideologischen Vereinnahmung beziehungsweise Zerstörung von Kulturgut geschlagen.

Im Nachgang des organisatorisch von Matteo Burrioni (München) unterstützten Workshops fand eine Besprechung aller Vortragenden und Interessierten statt, in der weitere Möglichkeiten wissenschaftlicher Vernetzung und des Austauschs zur internationalen Erforschung des Themas besprochen wurden. Als zeitnah umsetzbare Ziele wurden Fachtagungen und weitere Workshops in anderen Gastgeberländern, eine Publikation sowie die mittelfristige Einrichtung einer Webseiten-Präsenz vereinbart. Der nächste wissenschaftliche Austausch wird am 12./13. Mai 2020 in der Accademia di San Luca in Rom stattfinden. Ein separates CFP ist gerade veröffentlicht worden: https://arthist.net/archive/22356.

Empfohlene Zitation:
Alexandra Axtmann und Manuela Klauser: [Tagungsbericht zu:] Geschichte der Architekturgeschichte (Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 03.07.2019). In: ArtHist.net, 08.02.2020. Letzter Zugriff 29.11.2024. <https://arthist.net/reviews/22586>.

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