REV 17.03.2003

Maurizio Lazzarato: Videophilosophie

Rezensiert von Bettina Klix
Redaktion: Claudia Sedlarz

Waere eine ausserirdische Revolutionaerin in unseren Raum und unsere Zeit herein transportiert worden, muesste „Empire“ von Toni Negri und Michael Hardt ihre Pflichtlektuere fuer unterwegs gewesen sein. Dadurch haette sie schon ein falsches Bild vom revolutionaeren Potential bekommen, das sie auf der Erde erwartet. In ihrem Hotelzimmer faende sie eine Handbibliothek vor, und sie wuerde glauben, sich anhand von Lazzaratos „Videophilosophie“ ueber die neuen Medien unterrichten zu koennen. Zusammen mit dem Eindruck, den sie etwa ueber das Fernsehen, den „Aufseher der Zeit“, von ihrer neuen Umgebung bekaeme, haette sie das Gefuehl, alles sei schon im Gange, alles sei neu, oder dabei, sich zu veraendern. Innovation, Erneuerung, Ueberholung, Revolution , - so die Auskunft der Werbung. Was davon Selbstbeschreibung des Kapitalismus waere, koennte sie nicht einschaetzen.

Sie wuerde dem Autor folgen, wenn er Henri Bergons „Materie und Gedaechtnis“ heranzieht, um zu zeigen, auf welch bahnbrechende Weise darin die Zeitlichkeit des bewegten Bildes erforscht wird. Die Vision des russischen Filmrevolutionaers Dziga Vertov, wuerde sie als noch nicht eingeloest begreifen. „Das ‚Kinoauge: die Faehigkeit, das Unsichtbare sichtbar zu machen...fuer die kommunistische Entzifferung der Welt.“ Seine Anstrengungen, die Arbeitsteilung des Kinos von innen heraus zu sprengen. Seine Hoffnung, sehen zu lehren: „Das Kinoauge oeffnet die Augen.“ Aber nicht indem eine vorher bekannte Lektion weitergegeben wird. Was er von seiner Produktion erhoffte war, dass damit allmaehlich die sichtbare Welt zu entdecken waere. “Millionen von Arbeitern werden, wenn sie einmal den Blick zurueckerobert haben, die Notwendigkeit anzweifeln, dass die buergerliche Struktur der Welt gestuetzt werden muesse.“

Die Arbeit und die Theorien von Kuenstlern wie Nam June Paik oder Angela Melitopoulos kaemen ihr als eine Bekanntschaft mit der Andersartigkeit des Videobildes und seiner Moeglichkeit, die Zeit angemessener zu behandeln, gelegen. „Die Videotechnologie enthuellt nicht nur die Bewegungen und die unendliche Variation der Bilder, sondern auch die ‚Zeitmaterie‘, aus der die Bilder (die elektromagnetischen Wellen) gemacht sind.“ Die Entwicklung vom Foto ueber den Film bis zum Video erweist sich als gerichtet auf die Erfassung der Bewegung selbst. Mit den letzten Worten des Buches, einem Zitat von Benjamin,wuerde die Ausserirdische, bevor sie das Zimmer verlaesst, weil sie ihre Aufgabe schon laengst erfuellt glaubt, in ihren Kommunikator sprechen: „Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzufuehren. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen....“Die Auftraggeber auf ihrem Heimatplaneten wuerden sie dann wahrscheinlich abschreiben oder zurueck beordern. Schade. Wie konnte das passieren?

„Problem: Wo sind die neuen Barbaren des 20. Jahrhunderts? Offenbar werden sie erst nach ungeheuren sozialistischen Krisen sichtbar werden und sich kristallisieren.“ Mit diesem Motto von Nietzsche, das uns entgeistert fragen laesst, ob dieser den Zusammenbruch des Kommunismus vorhergesehen hat, eroeffnet Maurizio Lazzarato seine Studie zur „Zeitwahrnehmung im Postfordismus.“ Das Buch untersucht die elektronischen und digitalen Technologien „in ihrer Funktion als ‚Kristallisationen‘ (Synthesen) von Zeit“, dabei will es weder eine Kunstphilosophie noch Medientheorie sein. Der Autor nimmt zu den postfordistischen Bedingungen eine Haltung ein, die ihn die Chancen von Dissidenz und Selbstorganisation im Kapitalismus ueberschaetzen lassen.

Mit dem Bild des „Barbaren“, verbindet Lazzarato Hoffnungen fuer einen Neuanfang. Doch koennen sich Franzosen oder Italiener einen sorgloseren Gebrauch von Nietzsche und dem Wort „Barbar“ erlauben als Deutsche. Da befand sich Walter Benjamin, auf den Lazzarato in seinem Buch auch zurueckgeht, noch in einer unverfaenglicheren Lage in der Zwischenkriegszeit, als er in seinem Text „Erfahrung und Armut“ „eine neue Art von Barbarentum“ ausmachte und positiv besetzte. Lazzarato findet beim Oekonomen Robert Fegel die veraenderte Funktion der Zeit auf den Punkt gebracht: „Das technisch-industrielle System ist von nun an nicht mehr um Materie oder Energie herum organisiert, sondern um die Strukturierung der Zeit.“

Im Kapitel „Oekonomie und affektive Kraefte“ analysiert Lazzarato die technischen Umwaelzungen der letzten Jahrzehnte, vor allem anhand der Arbeiten von Deleuze und Guattari. „Der Kapitalismus beutet nicht mehr nur die ‚Arbeitszeit‘ aus, sondern die Lebenszeit.“ Individualitaet und Lebensstil bilden sich anders aus als in den vergangenen industriellen Phasen, wo Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum noch klar voneinander zu unterscheiden waren. Ein typischer Fall extremer Verschraenkung ist die Lebensform von Medienarbeiter/innen, die immer auf dem Quivive zu sein haben, egal was sie gerade tun, sonst werden sie abgehaengt, sind nicht mehr „in tune“. Der Uebergang zu einer „Informationsoekonomie“ fuehrt aber bei allen Menschen zu einer Verstaerkung dieser Art von Bereitschaft, sich „mit der Zeit“ zu bewegen, unter Zwang. Lazzarato findet Félix Guattaris Analysen aus den 1970er Jahren, also noch aus den Zeiten der Vollbeschaeftigung, bestaetigt, dass nicht nur die Arbeit, sondern die ganze Gesellschaft ausgebeutet wird: „Der Begriff des kapitalistischen Unternehmens muss um die Gemeinschaftseinrichtungen, um die staatlichen Institutionen, die medialen Apparate, die Arbeitsplaetze und um die Mehrzahl der nicht bezahlten Aktivitaeten erweitert werden. In gewisser Weise nimmt der Konsument im Supermarkt einen Arbeitsplatz ein, der Fernsehzuschauer vor seinem Schirm.“(Guattari)

Wir haben es mit dem Uebergang zur Informationsoekonomie als dem Uebergang zu einer „nicht standardisierten Produktionsweise“ zu tun. Der Alltag ist nicht mehr von „Tradition“ und „Gesetz“ bestimmt, sondern von der „Norm“. „Das Objekt der Norm ist nicht mehr dazu da, unsere Handlungen zu stabilisieren, sondern, im Gegenteil dazu, die Schwankungen und Abweichungen in unserem Verhalten zu verstaerken.“ (Bernard Cache) Lazzarato macht die Mode als „das Paradigma der neuen Produktionsweise“ aus. Wer den Sprachgebrauch der „Vogue“ einmal daraufhin untersucht, wie das „Neue“ immer als ganz neu, mehr als neu, ins Spiel gebracht wird, findet das bestaetigt: „Revolution“, „Revolte“, „Schock“- kleinere Muenzen gibt es nicht. Und auch die Adjektive greifen nicht mehr, wurde vor 50 Jahren in einer Modezeitschrift ein Kleid „bezaubernd“, und ein Detail „neuartig“ genannt, sind heute „dynamisch, „provokant“ oder „absolut“ gaengig. Anders laesst sich der Druck der Erneuerung, nicht weitergeben, das „Jetzt!“ nicht mehr markieren. Und damit die Aufforderung zum Konsumieren. Lazzarato kuemmert sich in seiner Arbeit kaum um die Konsumentenseite, und schon gar nicht um das Problem der Passivitaet, sondern hauptsaechlich um die Produzentenseite, in einer Weise als koenne jeder jederzeit zum Produzenten von Neuheit werden.

Die ausserirdische Abgesandte waere jedenfalls irritiert, weil sie nicht mehr verstehen koennte, worin die Befreiung bestehen soll und wer oder was diese verhindert? „Videophilosophie“ vertraut auf die vom Kapitalismus freigesetzten Erneuerungskraefte, kann aber nicht sagen, wie und von wem diese Kraefte anders als gemaess den Gesetzen des Marktes zur Geltung gebracht werden koennen.

Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, Berlin: b-books 2002
ISBN-10: 3-933557-23-2, 187 S

Empfohlene Zitation:
Bettina Klix: [Rezension zu:] Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, Berlin 2002. In: ArtHist.net, 17.03.2003. Letzter Zugriff 23.10.2024. <https://arthist.net/reviews/225>.

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