Mit diesem ersten Teil des zweiten Bandes setzt das Koelner Schnuetgen- Museum sein Projekt fort, seine umfangreichen Bestaende mittelalterlicher Skulptur wissenschaftlich zu erschliessen, das mit dem ungeteilten ersten Band fuer die Werke bis 1400 begonnen worden war. [1] Erfreulicherweise wurde das Konzept beibehalten, der kunsthistorischen Einordnung die kunsttechnologische Analyse beizugesellen, und die an den einzelnen Stuecken gewonnenen Erkenntnisse in zusammenfassenden Darstellungen in ihren kunsthistorischen, -technologischen und historischen Kontext ein- zubinden.
Reinhard Karrenbrock hat den Part des Kunsthistorikers uebernommen und fasst die Einzelergebnisse unter dem Titel zusammen: "Koelner Bild-schnitzerwerkstaetten des spaeten Mittelalters (1400-1540), Zum Forschungs- stand". Tatsaechlich geht der Aufsatz (S. 9-79) weit ueber diesen hinaus, wobei der Autor seine breite Kenntnis und bis in die letzten Winkel einmalig in Versteigerungskatalogen erwaehnter und verschollener Skulpturen reichende Uebersicht erweist. Diese ermoeglicht ihm, die Skulpturen des Schnuetgen-Museums in groesseren Zusammenhaengen zu sehen und ihre Ver- wandten zu benennen. Das Ergebnis sind meist anonyme Werkgruppen, in welche die Skulpturen einzuordnen sind. Leider scheut sich Reinhard Karrenbrock, Notnamen zu vergeben, die - zugegebenermassen - mitunter kurios wirken, ohne die aber beispielsweise die zeitgleiche Koelner Tafelmalerei ein grosses Durcheinander waere. Man kann doch nicht immer gleich alle Werke nennen, um ein stilkritisch fundiertes OEuvre zu bezeichnen!
Eine groessere Gruppe von Holzskulpturen (S. 14-21) wird mit dem 1469 verstorbenen Dombaumeister Konrad Kuyn verbunden, diesem aber nicht direkt zugeschrieben, weil er nur in Stein gearbeitet haben wird (vgl. S. 29, 121-123). Seine Art zu gestalten, uns heute bekannt durch das 1461 von ihm gelieferte Sakramentshaus der Propsteikirche in Kempen (archivalisch gesichert) und weitere Zuschreibungen, hat die fuer die genannte, um eine Madonna in der Koelner Andreaskirche beschriebene Werkgruppe verantwort- lichen Holzbildhauer nachhaltig beeinflusst. Hier wird nicht an Abbildungen gespart, was die Verstaendlichkeit der Ausfuehrungen foerdert und wenig oder gar nicht bekannte Werke ins Bewusstsein rueckt. Weitere Komplexe werden beschrieben, darunter einer, den Peter Bloch anhand einiger kleinformatiger Skulpturen in die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeordnet hatte. [2] Nicht zuletzt durch die technologischen Untersuchungen, aber auch durch eine stilkritische Ausweitung der Gruppe, konnten die Skulpturen doch wieder als Werke der Zeit um 1500 gewuerdigt werden (S. 24-28).
Einen breiten Raum nimmt die Darstellung der Produktion aus der wohl recht grossen Werkstatt des Koelner Meisters Tilman ein (S. 28-53), illustriert unter anderen dankenswerterweise durch Abbildungen von dem Mittelrelief (New York) und den Fluegeln (Enschede) seines Marien- retabels. Nicht ganz ueberzeugt hat mich die Annahme, der von Carben- Meister sei aus der Werkstatt Meister Tilmans hervorgegangen, in der er zu Beginn des 16. Jahrhunderts mitgearbeitet habe (S. 51f, 56f). Dieser Bildhauer hat seinen Notnamen von der durch den konvertierten Juden Viktor von Carben gestifteten Skulpturengruppe im Koelner Dom, welche durch die vermutete Lehrzeit oder Mitarbeit in Tilmans Werkstatt im beginnenden 16. Jahrhundert fuer mein Gefuehl sehr spaet "zwischen 1505 und 1510" (S. 52) zu datieren waere. Fuer diese Annahme spraeche aber die Identifizierung des Notnamen-Meisters mit dem in Koelner Quellen zwischen 1506 und 1538 (?) genannten Bildschnitzer Wilhelm von Arborch (S. 128f), die Reinhard Karrenbrock in seinem zweiten zusammenfassenden Aufsatz "Bildschnitzer und Bildhauer im spaetmittelalterlichen Koeln. Archivalische Quellen, historische Befunde und Fragestellungen" (S. 121- 136) vorschlaegt. Hier werden nicht nur die einzelne Bildschnitzer be- treffenden Archivalien thematisiert, sondern auch die Aufteilung der verschiedenen Berufe auf die 22 "Gaffeln" (Gilden, Zuenfte) der Stadt und die Rohstoffmaerkte. Ein Exkurs gilt den archivalischen Nachrichten ueber die in Koeln ansaessigen Fassmaler (S. 129-131).
Die Ergebnisse der kunsttechnologischen Untersuchungen durch Patricia Langen und zu einem kleineren Anteil von Sabine Hermes sind sehr de- tailliert und werden im Katalog den kunsthistorischen Wuerdigungen durch Reinhard Karrenbrock vorangestellt. Patricia Langen fasst sie zusammen unter dem Titel "Zur Werkgeschichte und technologischen Entwicklung der Koelner Holzskulpturen 1400-1540" (S. 81-120). Unter dem mir bis dahin unbekannten, aber treffenden Begriff 'Werkgeschichte' werden alle Veraenderungen an den Skulpturen erfasst. Sehr bedeutsam sind die Ergebnisse zu Materialgebrauch und Arbeitsweisen. In Koeln gab es offensichtlich keine Vorschriften ueber die zu verwendenden Holzarten wie beispielsweise in Antwerpen oder Bruessel. Die Vorliebe fuer Nussbaumholz im 14. Jahr- hundert geht im 15. Jahrhundert zurueck, Lindenholz wird zum bevorzugten Rohstoff der Bildschnitzer, die aber offenbar alles benutzt haben (S. 86f). Zirbelkiefer als Ergebnis der holzbiologischen Untersuchung durch Peter Klein wuerde mich allerdings bezueglich der Einordnung nach Koeln doch misstrauisch machen (Kat. 18, S. 187f), zumal das fragliche Stueck aus dem Kunsthandel kommt. Der wohl vom noerdlichen Niederrhein nach Koeln gekommene Meister Tilman hat fast ausschliesslich in Eiche gearbeitet.
Patricia Langen bringt die technologischen Beobachtungen mit den Ergebnissen der kunsthistorischen Einordnung zusammen, wodurch sie der Kunstgeschichte neue, fuer die Stilkritik sehr geeignete Kriterien zur Verfuegung stellt. Bei der Anlage der rueckwaertigen Aushoehlung (S. 88-91) duerften ein Individuum oder eine Werkstattgemeinschaft ihren Gewohnheiten freien Lauf gelassen haben, waehrend bei der Gestal- tung des Werks z.B. anderswo gesehene Motive den persoenlichen Stil eines Meisters zurueckdraengen koennen. Auch bei so nebensaechlich erscheinenden Oberflaechengestaltungen wie Tremolierungen sind unver- faelschte Merkmale zu erwarten.
Wenn Patricia Langen die "Darstellung von Haaren" (S. 95-97) thematisiert, bleibt sie stets nah an der hoelzernen Substanz der Werke. Von der Frage- stellung 'Wie ist das gemacht worden?' kommt sie zu dem in einer Werkstatt verwendeten Set von Werkzeugen, deren Gebrauch sie nachweisen kann. Bei der Darstellung von Gesichtern und Koerperformen (S. 97-100) problemati- siert sie das Spannungsfeld zwischen Stilisierung und Naturbeobachtung, wobei der Ausdruck 'Realitaetsnaehe' bei letztlich doch immer Typen reproduzierenden Kunstwerken unangemessen erscheint. Auch zur Darstellung von Textilien (S. 100-102) bringt sie eine Fuelle von Detailbeobachtungen, die verdeutlichen, wie Stoffqualitaeten differenziert werden, und welche Mittel die Bildschnitzer dazu einsetzten. Zu diesen nuetzlichen Beschrei- bungen kommen sehr gute Detailabbildungen. Die Verbindung von Text und Bild ist gelungen und aeusserst instruktiv.
Obwohl die originalen Fassungen durch Verluste und Veraenderungen erheb- lich dezimiert sind, gibt es doch einiges ueber Gewohnheiten, Materialien und Techniken zu berichten (S. 104-111). Alle diese Beobachtungen werden unter dem Titel "Zum Verhaeltnis zwischen Bildschnitzerarbeit und Fassung" abschliessend gewuerdigt, wodurch sich der Wert derartig nah am Werk bleibender Beobachtungen in groesseren Zusammenhaengen erweist.
Es ist zu vernehmen, dass auch weitere Bestaende spaetmittelalterlicher Skulptur im Schnuetgen-Museum schon recht weit bearbeitet seien. So bleibt zu hoffen, dass sie recht bald auf diesem erfreulichen Niveau publiziert werden.
Karrenbrock, Reinhard; Langen, Patricia; Meier, Wolfgang F.; Westermann-Angerhau (Hrsg.): Die Holzskulpturen des Mittelalters II. 1400 bis 1540. Bestandskatalog des Museum Schnütgen, Teil 1: Köln, Westfalen, Norddeutschland (= Sammlungen des Museum Schnütgen; 5), Köln: Selbstverlag 2001
ISBN-10: 3-932800-04-4, 510 S.
Empfohlene Zitation:
Ulrich Schaefer: [Rezension zu:] Karrenbrock, Reinhard; Langen, Patricia; Meier, Wolfgang F.; Westermann-Angerhau (Hrsg.): Die Holzskulpturen des Mittelalters II. 1400 bis 1540. Bestandskatalog des Museum Schnütgen, Teil 1: Köln, Westfalen, Norddeutschland (= Sammlungen des Museum Schnütgen; 5), Köln 2001. In: ArtHist.net, 18.03.2002. Letzter Zugriff 28.12.2024. <https://arthist.net/reviews/219>.
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