Deutsch-französisches Forschungsatelier: „Konkurrenzkultur und Kulturtransfer: Höfische Repräsentationsstrategien im Alten Reich (1650-1800)“
„Herzlich Willkommen im Münsterländischen Versailles!“ So werden bis heute all jene begrüßt, die das eindrucksvolle Barockschloss der Grafen Plettenberg in Nordkirchen südlich von Münster besichtigen. Steckt hinter dieser ehrend gemeinten Benennung mehr als ein tourismusfördernders Klischee, ein kaum mehr hinterfragter Topos der Kunstgeschichte? Handelt es sich um eine retrospektive Projektion, oder entspricht die dezidierte Nachahmung französischer Vorbilder tatsächlich den Intentionen höfischer Repräsentationsstrategien im Alten Reich? Und wie kann man dieses komplexe Gefüge aus Konkurrenz und Aneignung einem breiten Publikum im musealen Kontext vermitteln?
Diesem Themengeflecht widmete sich ein opulentes, fünftägiges deutsch-französisches Forschungsatelier [1], das gemeinsam von der Pariser École Pratique des Hautes Études, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Eva-Bettina Krems) und dem Landschaftsverband Westfalen Lippe-Museumsamt in Münster veranstaltet wurde. Statt der erkrankten Sabine Frommel leiteten Kristina Deutsch (WWU) und Ute Christina Koch (LWL) eine Tagung, die in vorbildlicher Weise Vortragssektionen mit Ortsterminen in Schlössern und Museen der Region verband.
Die einleitende Abendsektion im Festsaal des Erbdrostenhofs, der eindrucksvollen Rekonstruktion des im zweiten Weltkrieg zerstörten bedeutendsten Barockpalais von Münster, beleuchtete die Frage der Rezeption und Vermittlung aus verschiedenen Perspektiven. Kristina Deutsch stellte neben das vermeintliche Versailles-Zitat Nordkirchen ein programmatisches Imitat, Ludwigs II. von Bayern 1878 begonnenes Schloss Herrenchiemsee. Während für den „hochpolitischen Ästhetizismus“ (Christine Tauber) der Ein-Mann-Schlösser des Märchenkönigs das Zeremoniell keine Rolle spielte, war es für die deutschen Barockfürsten essentiell: So war im Unterschied zu Frankreich der Zutritt zu den fürstlichen Appartements streng limitiert und daher Raumnutzungen wie das allmorgendliche Lever des Souveräns keineswegs übertragbar. Ute Christina Koch erläuterte vor einer kurzen Führung durch ihren Dienstsitz, welche Vielfalt unterschiedlicher Schlossmuseen vom LWL betreut werden, und wie stark technischer Standard, didaktisches Konzept und personelle Ausstattung differieren.
Hendrik Ziegler (Philipps-Univ. Marburg) erläuterte den aktuellen Stand der deutsch-französischen Transferforschung an drei Beispielen, welche die Komplexität eines Prozesses belegen, der mit den traditionellen Begriffen „Einfluss“, „Vorbild“ und „Nachahmung“ nicht adäquat zu fassen sei. Stattdessen schlug er die Leitbegriffe Asymmetrie, Hybridität, Analogie und Rückkoppelung vor. Wie auch die aktuellen Postcolonial studies belegen, sei Kulturtransfer alles andere als ein Unterwerfungsakt oder eine Einbahnstraße.
Unter dem Titel „Medien der Macht“ wurde am folgenden Tag eine Vielzahl von Objektgattungen betrachtet. Leonie Drees-Drylie (WWU Münster) widmete sich einer bisher zu wenig beachteten Ikonographie in fürstlichen Appartements, die das Entscheiden als herrscherliche Tugend thematisiert. Die Referentin wählte zwei Beispiele, die den klassischen Topos des „Herkules am Scheideweg“ paraphrasieren. Im Fresko der Sala di Venere, dem ersten Raum der ab 1620 von Pietro da Cortona dekorierten Planetensäle des Florentiner Palazzo Pitti, wird der eher passive junge Fürst von Minerva aus den Armen der Liebesgöttin entführt und so auf den Tugendweg emporgehoben. In Lebruns Allegorisierung der Entscheidung Ludwigs XIV. für den holländischen Krieg votiert dieser trotz der Mahnung Minervas vor den schrecklichen Folgen aus Gerechtigkeitsgefühl für Mars.
Marina Viallon (EPHE, Paris) eröffnete ein viel zu wenig bekanntes Feld adeliger Repräsentation, das der Prunkrüstungen. Hier waren bereits um 1500 nationale Vorlieben ausgebildet, die z. B. von italienischen Handwerkern optional bedient wurden, indem sie Rüstungen „alla tedesca“ oder „alla francese“ fertigten.
Miriam Schefzyk (WWU Münster) erläuterte die Schlüsselrolle spezialisierter Pariser Händler für Luxusgüter, der sog. Marchand-Merciers, für die europaweite Verbreitung französischer Möbel am Ende des Ancien régime. Hierbei stellte sie zwei verschiedene Objektgruppen gegenüber: Edle, rokokohaft zierliche Schreibmöbel aus dem Katalog, und Einzelanfertigungen wie das in München erhaltene, frühklassizistische Prunkbett des Herzogs von Pfalz-Zweibrücken. Hierbei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen offizieller Repräsentation und „privatem“ bon goût.
Raphaël Tassin (EPHE, Paris) beschäftigte sich mit den Porträts der herzoglichen Familie von Lothringen zwischen 1690 und 1737, die auf ihre gefährdete Mittelstellung zwischen Frankreich und dem Reich mit einer hochdifferenzierten Bildnispolitik reagierten. Während für Paris gefertigte Porträts auf den rotgefütterten Hermelin des Herrschers verzichteten, wurden für Wien der Titel eines „Königs von Jerusalem“ und der Vliesorden hervorgehoben.
Sara Bernert, Volontärin bei den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württembergs, entführte ein weiteres Mal nach Weikersheim. Ludwig Friedrich Karl ließ ein Appartement im Renaissance-Stammsitz des vielfach geteilten Grafenhauses Hohenlohe ab 1765 mit geringem Aufwand durch zarten Rokokostuck modernisieren, um, so vermutete die Referentin, hierdurch seine Bewerbung für die Führung des wiedervereinigten Gesamthauses zu unterstreichen.
Thomas Wilke (FH Aachen) zeigte an einem bedeutenden Pariser Baudenkmal der Régence-Zeit (nach 1715), der von François-Antoine Vassé entworfenen sog. Galerie dorée im Hôtel de Toulouse, die direkten Auswirkungen des Ringens des Auftraggebers, eines illegitimen Sohnes des Sonnenkönigs, um seinen Platz in der Erbfolge und die Modifikationen, die diese Konkurrenz im Ausstattungsprogramm hinterließ.
Im Anschluss an den Vortrag von Elisabeth Burk (WWU Münster) über die Kunstpatronage des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel wurde exemplarisch ein Kernproblem dieses Forschungsateliers diskutiert: Inwieweit wird die Fokussierung der Frage nach höfischer Konkurrenz und Kulturtransfer um 1700 auf das Verhältnis Deutschland-Frankreich der überaus komplexen Realität der Epoche gerecht? Der Erbauer der Herkules-Kaskaden war zeitlebens ein reichstreuer, entschiedener Gegner des Sonnenkönigs, strebte nach der schwedischen Königswürde, ließ sein Bergschloss von einem Italiener entwerfen und korrespondierte in den ihn persönlich interessierenden naturwissenschaftlichen Fragen mit Newton. Insofern steht der kritische Blick auf die Bedeutung des „Vorbilds Frankreich“ nur pars pro toto für die Relektüre eines weit umfangreicheren, hochdifferenzierten Systems von Kulturbeziehungen.
In der anschließenden Podiumsdiskussion stellten sich Museumsexperten aus Kassel, Passau-Oberhaus, Paderborn-Neuhaus und Düsseldorf-Benrath die Frage, wie die komplexen Phänomene höfischer Repräsentation einem zusehends divergenten Schlossbesucherpublikum vermittelt werden können Einig waren sich alle in dem Bemühen, unbedingt jene bisher wenig hochkulturaffinen, z.B. migrantischen Gruppen für den Schlossbesuch gewinnen zu wollen, die die Anlagen bisher vor allem als Location ihrer Hochzeitsfotos nutzen.
Das Konzept eines Forschungsateliers wurde besonders deutlich im Vortrag von Florian Dölle (Marburg), der seine Methode vorstellte, mit der er die Reiseberichte deutscher Architektursachverständiger in Paris um 1700 analysiert. Hierbei zeigte sich, dass rhetorische und praktische Konventionen dieser meist nicht zur Publikation bestimmten Manuskripte oft bestimmender waren als das persönliche Kunsturteil.
Shubhangi Prolingheuer (WWU Münster) wandte sich einem Klassiker der Schlossbauforschung zu, nämlich jenen monumentalen Treppenhäusern, die in Frankreich gemäß dem Ideal der Bienséance die Ausnahme, in Deutschland dagegen ab 1700 die Regel bildeten. Am Beispiel der Münchner Residenz wies die Referentin nach, dass nicht etwa ein hochmodernes, von Cuvilliés ab 1731 realisiertes und 1764 wieder abgerissenes Treppenhaus in der Nähe der sog. Reichen Zimmer, sondern die wenig eindrucksvolle, altertümliche sog. Breite Treppe für die offiziellen Audienzen genutzt wurde. Ein Beleg dafür, dass der auf architektonische Innovationen fixierte kunsthistorische Rückblick andere Prioritäten als die Zeitgenossen setzt.
Bei der Beschreibung kulturellen Austauschs wird gerne das Bild der „Drehscheibe“ bemüht: Inwieweit der Mannheimer Hof um 1750 diese Bezeichnung verdiente, verdeutlichte Mechthild Fischer (Univ. Mannheim) in ihrem Beitrag: Während kurpfälzische Verlage teilweise französischsprachige Bücher druckten, die im Reich der Bourbonen nicht hätten erscheinen dürfen, konkurrierten Comédie française, Opera seria und deutsches Nationaltheater um die Gunst der höfischen Eliten. Als Exportschlager Richtung Westen erwies sich dagegen die europaweit berühmte Orchester- und Kompositionskultur der „Mannheimer Schule.“ Hier bestätigte sich erneut, dass Kulturtransfer im 18. Jh. nicht nur eine Richtung kannte und durch aktive Adaptions- und Rezeptionsbereitschaft, Angebot und Nachfrage in ihrer Wirksamkeit determiniert wurde.
Das kulturelle Wechselspiel über den Rhein hinweg dokumentierte auch der abschließende theaterwissenschaftliche Vortrag von Dominique Lauvernier (EPHE, Paris): Er verglich zwei Uraufführungen Voltaires in Versailles und Schwetzingen, wobei die französische (La Princesse de Navarre, 1745) den Dichter enttäuschte, weil Rameaus Musik zu viel Aufmerksamkeit auf sich zog, während Olympie 1762 zu seiner völligen Zufriedenheit am Kurpfälzischen Hof inszeniert werden konnte. Der Boden diesseits des Rheins erwies sich ganz im Sinne von Voltaires westfälischem Helden Candide als fruchtbarer, „um seinen Garten zu bestellen.“
Die Schlussdiskussion führte zu dem überraschenden Befund, dass ein so breit untersuchtes Thema wie die höfische Repräsentation um 1700 in mancher Beziehung einem noch weitgehend unbestellten Feld gleicht. Erst durch die Einbeziehung vielfältiger Objektgattungen und Quellen, z.B. der vielfach bisher nicht edierten Reiseberichte, und das Ernstnehmen der zeitgenössischen, deutlich (selbst-) bewussteren Perspektive der damaligen Rezipienten nähert man sich einem zutreffenderen Bild komplexer höfischer Transferprozesse. Zugleich zeigte sich, dass die Fokussierung auf den deutsch-französischen Austausch der souveränen multiperspektivischen Denkweise der Epoche keinesfalls gerecht wird. Schließlich wurde deutlich, dass man zwischen der hochpolitisierten, oft konfliktbeladenen Situation zu Lebzeiten des Sonnenkönigs und dem deutlich entspannteren, eher am „bon“ als dem „grand goût“ orientierten Rezeptionsverhalten nach dem renversement des alliances ab ca. 1750 unterscheiden sollte.
Eine besondere Qualität des Forschungsateliers lag darin, dass man es nicht beim Austausch von Thesen im Hörsaal beließ, sondern die heutige museale Präsentation höfischer Kultur in den Schlossmuseen der Region in gemeinsamen Augenschein nahm: So wurden in Münster das LWL-Landesmuseum, das Stadtmuseum und die Universität (ehem. Residenzschloss), im Umland die Wasserburg Vischering, die Schlösser Anholt und Nordkirchen sowie das Jagdschloss Clemenswerth besichtigt.
Als Fazit sei das Format Forschungsatelier dringend zur Nachahmung empfohlen, wenn auch fünf Tage eine Herausforderung an die gut gefüllten Kalender potentieller InteressentInnen darstellen: Das Zusammenführen von deutschen und französischen WissenschaftlerInnen von der Professorin bis zum Doktoranden, verbunden mit Diskussionen und zahlreichen Ortsterminen, der Dialog von Universitäts- und Museumsforschenden erlaubt einen weitaus intensiveren Austausch über ein vielschichtiges Thema, als es die übliche Donnerstag-bis-Samstag-Strecke im abgedunkelten Vortragsraum ermöglicht.
Anmerkung:
[1] Vergl. das vollständige Programm der Tagung unter <https://arthist.net/archive/21450>.
Empfohlene Zitation:
Meinrad von Engelberg: [Tagungsbericht zu:] Konkurrenzkultur und Kulturtransfer (Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 30.09.–04.10.2019). In: ArtHist.net, 12.11.2019. Letzter Zugriff 18.12.2024. <https://arthist.net/reviews/21650>.
Dieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.