REV 21.12.2011

Beat Wyss: Bilder von der Globalisierung

Rezensiert von Michael Falser, Heidelberg
Redaktion: Rainer Donandt
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Kein Jubiläum oder Gedenkjahr, keine national motivierte Erinnerungsstrategie à la Pierre Nora, aber auch nicht die Aktualität der parallel zum Erscheinungsjahr des Buches (2010) stattfindenden Weltausstellung in Schanghai motivierten den Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss, Professor des Lehrstuhls für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, zu seinem Buch über die Pariser Weltausstellung von 1889. Ganz allein ein wieder entdecktes Interesse an der Gesamtausgabe des damals die Pariser Ausstellung begleitenden „Journal de l’Exposition universelle“ ließ Wyss eine durchaus originelle Sichtweise auf den an sich wissenschaftlich relativ gut aufgearbeiteten Tatbestand einnehmen: Denn während damals tausende Besucher der Pariser Ausstellung auf den eben dafür errichteten Eiffel-Turm kletterten, um sich aus der Vogelperspektive einen Gesamtüberblick über die raumzeitliche Totalkompression der damals zwischen Trocadero-Palast, Champ de Mars und Esplanade des Invalides ausstellungs- und abbildwürdig erachteten Gesamtwelt von Japan bis Amerika zu verschaffen, nimmt Wyss die „Froschperspektive der Meinungsmacher des Jahres 1889“ (11) mit ihrem Journal ein. Das knapp vor dem breitenwirkamen Aufkommen der Photographie mit hochwertigen Holzstichen gestaltete Journal dient ihm als „Quelle und Kommentar zugleich“, ist ein „kleines Denkmal der Mentalitätengeschichte“ (11). Wyss betreibt also Rezeptionsgeschichte als Basis seiner kulturpolitisch-kunsthistorischen Untersuchung, doch die ebenso reich bebilderten Pendants zum Journal, das „Bulletin Officiel de l’Exposition Universelle“ (Paris 1886-89) und der gigantische 9-bändige „Rapport Général“ von Alfred Picard (Paris 1891) bleiben unerwähnt. Von der generellen Machart und dem speziellen Aufbau der einzelnen Ausgaben des Journals selbst erfahren wir relativ wenig, denn Wyss geht es mit punktuell ausgewählten Aufsätzen und 112 spannenden Abbildungen aus dem Journal darum, mit Themen wie „Indochine: Traumschleier der Gewalt“ (darin jedoch mehrheitlich über China und Japan berichtend), „Vitalismus und Elektrizität“, „Das metropolitane Frankreich, die Republik und die Revolution“, „Primitive und Orientalen: Afrika und der Islam“, „Massenkonsum und populäre Unterhaltung“, „Von der Exotik zur Tracht“ und „Erhabene Technik und schöne Kunst: der Eiffelturm“ seine zentrale These auszubreiten, daß die Weltausstellung von 1889 als „verfrühtes Happy End auf dem Weg zur Globalisierung“ (260) zu deuten ist, als eine „frühe Manifestation der globalen Massen- und Konsumkultur, in der wir heute leben.“ (11)

Der Band ist neben einem Vor- und Nachwort in zehn Kapitel gegliedert, die sich auch relativ unabhängig voneinander lesen lassen – in einem essayistischen Duktus, der locker, sprachgewandt und ohne übertrieben viele Fußnoten das Buch zu einer unterhaltsamen Lektüre macht. Der Vorteil liegt darin, daß sie auch eine breitere Leserschaft ohne Insiderwissen ansprechen kann, der Nachteil für die kunstwissenschaftliche Forschung, daß auf die Diskussion des Forschungsstandes und auf eine Analyse der Primär- und Sekundärquellen weitestgehend verzichtet wird – auch wenn letztere in der Bibliographie natürlich aufgelistet sind, erstere in Form aller Korrespondenz zu Organisation und Durchführung durch das französische Handelministerium komplett in den Archives Nationales in Paris liegen und über die französisch-lastige Historiographie hinaus noch lange nicht kritisch genug ausgewertet sind. Auf jegliches Kartenmaterial wurde leider verzichtet, obwohl gerade die räumlich-relationale Anordnung der verschiedenen Kunst-, Industrie-, Gastländer- und Kolonialrepräsentationen zueinander – in der Tat analysiert Wyss sie auch mehrmals – einen der wichtigsten Hinweise auf die inszenierte Taxonomie der abbildwürdigen Welt liefert.

Aus der Sicht einer globalen, transkulturell ausgerichteten Architekturgeschichte (sie liegt im zentralen Interesse des Rezensenten am Heidelberger Chair for Global Art History) hat das Buch neben bekannteren Themenbereichen (ihre Überschriften siehe oben) den spannendsten Moment erreicht, wenn Wyss drei zentrale Kapitel durchläuft, die hier kurz diskutiert werden sollen:

„Alter Ego: Lateinamerikas Republiken“ – Kein anderer Kontinent auf der Expo 1889 war so vollständig vertreten wie Lateinamerika: mit alleine 15 Ländern, denn die wichtigsten Monarchien Europas (wie z.B. Großbritannien) bestreikten mit ihrer hoch diplomatischen Abwesenheit die Exposition, die unter dem Motto „100 Jahre Französische Revolution“ stand. Folgerichtig nimmt Wyss dann auch eben diesen temporären Gebäudebestand im Schatten des Eiffelturms unter die Lupe. Anders als eine europäische Kolonialmacht wie Frankreich mit seiner kompletten Kolonialsektion an der Esplanade des Invalides mit exotischen Tempeln und Pagoden aus Indochina, Afrika bis in die Karibik, ‚Handwerker-live‘-Buden und Schaudörfern für Senegalesen, Kanaken und andere ‚Wilde‘, hatten die neuen, dekolonisierten und sich als ‚modern‘ gerierenden Republiken Süd- und Mittelamerikas gerade kein Bedürfnis nach dem „Exotismus ethnischer Dörfer, von denen man sich [als weiße, minderheitliche Führungsschicht] in der Heimat bedroht fühlte“ (105). Die jeweiligen Ausstellungsarchitekturen werden in Wyss‘ Analyse als geeigneter Ort nationaler Identitätskonstruktion ausgewiesen. Während sich also manche Länder modern-westlich – id est ‚beaux-arts-orientalistisch‘ – aufstellten, präsentierten sich andere in Baukubatur und Fassadenschmuck als eindeutige Erben einer im eigenen Land untergegangenen, doch oftmals durch rezente archäologische Forschung wiederentdeckten und erneut angeeigneten Hochkultur. Der Pavillon von Bolivien (das eigentliche Kernland des einstigen Inka-Reichs) zum Beispiel versuchte im kolonisierenden Gestus des französischen Orientalismus-Stils europäische Anleger für seine mineralischen Vorräte anzulocken; der Ecuador-Pavillon hingegen (finanziert von privaten französischen Anlegern und entworfen vom französischen Architekten Chedame) legte sich ein „vollständig ethnographisches Kostüm“ (119) an: unmittelbar neben einem Eisenfuß des Eiffel-Turms erstand er als stilisierter Inka-Tempel und wurde sogar mit archäologischen Originalstücken aus der benachbarten Trocadero-Sammlung und zeitgenössischem Kunsthandwerk ausgestattet. Gerade an dieser Gegenüberstellung wäre dem Leser eine genaue Klärung der stilistischen Bezugssysteme ‚modern‘ (zeitgenössisch, national und/oder europäisch?), ‚traditionell‘ (regional und/oder kolonial?), archäologisch (untergegangene oder weitergelebte Hochkultur) und ‚ethnographisch‘ (indigen, primitiv oder pittoresk-verklärend) hilfreich. Von hohem Interesse wären auch die jeweiligen Architekten-Biographien, denn ‚französisch‘ könnte hier (Typ a) ein Architekt mit exotischem Musterbuch als Hauptquelle ohne echtes Lokalwissen oder (Typ b) ein aus Frankreich nach Lateinamerika ausgewanderter Architekt mit dortiger (Städte-)Bau- oder archäologischer bzw. denkmalpflegerischer Forschungspraxis sein. Ein Vergleich aus eigener Forschung: Der Architekt der Pagode d’Angkor für die französisch-indochinesische Sektion der Expo 1889 war der Beaux-Arts-geschulte Franzose Daniel Fabre, der als Chef du service des travaux publics in Phnom Penh (der Hauptstadt Kambodschas) gleichzeitig ebendort mit seiner persönlicher Kenntnis von Angkor ein modernes Franzosenviertel mit einer ‘Stadtmöblierung à la Angkor’ plante und damit modernen Städtebau mit direkter Kulturerbe-Rezeption verband (Typ b) – während der französische Beaux-Arts-Architekt Alexandre Marcel zwar für das kambodschanische Ensemble der 1900er-Weltausstellung in Paris ohne Fach- und Lokalwissen einen ganzen Klosterberg Phnom Penhs nachbaute, sonst aber auch ganz andere orientalisierende (z.B. ägyptisierte) Bauten für private Auftraggeber ausführte (Typ a), also das Kulturerbe aus Angkor nur als Kulissendekor heranzog.

„Die Azteken: das totemisierte Subjekt“ – Hier behandelt Wyss den damals schon umstrittenen mexikanischen Pavillon, der als Aztekentempel dem europäischen Exotismus entgegenkam, gleichzeitig aber die mexikanische Nation in gelebter Tradition jenes indianischen Erbes präsentieren wollte, das zeitgleich tatsächlich archäologisch-wissenschaftlich erschlossen worden war. Für Wyss war die Aufführung dieses Baus das „Symbol für den Prozeß der Totemisierung“ als (nach Freuds Abhandlung ‚Totem und Tabu‘) ein „Akt kollektiver Reue nach dem gemeinschaftlich begangenen Verbrechen [der Ausrottung der aztekischen Kultur als Ausgangspunkt der modernen Nation Mexikos]“ (127).

„Anthropologie als Herrschaftswissen“ – Hier analysiert Wyss jene 44 Modellgebäude der Expo 1889, mit denen der Architekt Charles Garnier (Erbauer der Pariser Oper und Mitunterzeichner einer erfolglosen Petition gegen den Eisenturm seines Konkurrenten Gustave Eiffel) versuchte mit dem Projekt Histoire de l’habitation humaine den „genetischen Kode der Weltkultur“ zu knacken und den Besucher auf die Reise ihrer „ästhetischen Kolonisierung“ (138) zu schicken. Neben der afrikanischen Hütte der „Wilden“, dem „Rothaut-Zelt“, minderwertigen Holzbauten in Asien und/oder isolierten/untergegangenen/nicht-europäischen Hochkulturen (neben Indern und Chinesen schon wieder Inka- und Azteken-Bauten) war nur die Architektur der weißen Rasse bis in die Gegenwart ableitbar, also geschichtsfähig. Über die damalige Kritik der professionellen Archäologie und Anthropologie hinweg versucht Wyss, seiner Methodik „Wissensgeschichte als Mentalitätengeschichte“ folgend, Garniers Weltentwurf als „epistemische Schnittstelle zwischen Gemeinplatz, Vorurteilen und exakter Lehrmeinung“ (148) zu dekonstruieren. Interessant darin seine Untersuchung der Rolle der Ethnographie in diesem Kontext – jener Disziplin, über die auch fast alle baukünstlerischen Exponate aus Fernost (etwa die Gipsabgüsse ganzer Tempelpartien von Angkor) ihre Karriere auf dem europäischen Festland antraten.

Beat Wyss beleuchtet in seinem Buch die Pariser Weltausstellung von 1889 ganz zu Recht als temporären Spielort der einsetzenden Globalisierung. Im Falle der Architekturgeschichte geht er mit spannenden Fallbeispielen darauf ein, wie und von wem welche Bauten aus Nicht-Europa in Paris präsentiert, instrumentalisiert und rezipiert wurden.

Welt- und Kolonialausstellungen von 1851 bis heute waren Kristallisationspunkte eines großen Übersetzungsprojekts zwischen den Kulturen, Aushandlungsorte von Transferprozessen, die aber, wenn man genauer hinsieht, auch immer schon in beiden Richtungen wirkten: Das Konzept von Kulturerbe z.B. stellt sich in dieser Perspektive immer als trans-kulturell dar [1]. Europa importierte das fremde Nicht-Europa aus der ästhetisch-ideologischen Perspektive des Orientalismus, präsentierte aber auch sein eigenes Selbstbild (gespiegelt in den selbst erfundenen Repräsentationsformen des Anderen) der nicht-europäischen Welt. Die Rezeptionsgeschichte europäischer Welt- und Kolonialausstellungen aus der Sicht von Nicht-Europa (z.B. Asien) ist bis heute ein wissenschaftliches Desideratum geblieben. Auch der Ansatz einer globalen Kunstgeschichte, die versucht, die kolonialen Schauplätze (z.B. Indochina) selbst als hoch kreative Laboratorien sui generis zu begreifen, die ihrerseits Trends in Europa aktiv vorbereiteten und nicht nur passiv rezipierten, müßte noch deutlicher in den Mittelpunkt der Forschung rücken. Beat Wyss liefert im Kapitel „Von der Exotik zur Tracht“ dazu eine wichtige Beobachtung: Die exotisierte Rezeption von ‚primitivem‘ Brauchtum und ‚traditionell-regionaler‘ Baukunst in den europäischen Kolonien wie Indochina oder Afrika vor 1900 trug maßgeblich dazu bei, in den Ausstellungen nach 1900 vermehrt die eigene kulturelle Europa-Exotik in Form von Folklore zu entdecken und ihrerseits auszustellen: Das Titelbild des Buches von Beat Wyss zeigt einen „Kanakentanz“ von 1889 – er ist nicht weit entfernt von den bretonischen, normannischen und anderen ‚regionalistisch‘ inszenierten Volkstänzen, mit denen sich Frankreich im sogenannten Centre Régional der Internationalen Expo von 1937 umbaut von eigenen holzlastigen (jetzt gar nicht mehr primitiven, vgl. Garnier) Provinzpavillons selbst-exotisierte. Zu diesem Zeitpunkt war das Kolonialprojekt bereits weitgehend passé und die rückgeschrumpften Kolonialpavillons Frankreichs schamvoll auf eine Insel in der Seine verbannt.

Anmerkung:
[1] Siehe hierzu das Forschungsprojekt „Heritage as a Transcultural Concept“ des Rezensenten am Chair of Global Art History am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“ an der Universität Heidelberg: http://www.asia-europe.uni-heidelberg.de/en/research/d-historicities-heritage/d12.html

Wyss, Beat: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889, Berlin: Insel Verlag 2010
ISBN-13: 978-3-458-17485-1, 285 S., ca. EUR 34.90, ca. EUR 35.90

Empfohlene Zitation:
Michael Falser: [Rezension zu:] Wyss, Beat: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889, Berlin 2010. In: ArtHist.net, 21.12.2011. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/2078>.

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