REV 21.08.2002

Jonathan Crary: Aufmerksamkeit

Rezensiert von Jutta Voorhoeve

Das wahrnehmende Subjekt ist das erklaerte Spezialgebiet Jonathan
Crarys. Bereits sein Bestseller "Techniques of the Observer" (1990,
dt. 1996) hatte Transgressionen innerhalb des Sehens im Zeitraum von
1800 bis 1850 als subtile historische Wechselwirkung von technischer
Apparatur und sozialer Praxis untersucht. Diese Umstellungen
schreiben sich auch kuenstlerischen Verfahrensweisen ein. Das war und
ist sein kunsthistorischer Ausgangspunkt.

Statt des Sehens steht dieses Mal das an sich nicht sichtbare
Phaenomen der Aufmerksamkeit im Vordergrund. Ziel der Untersuchung
ist es, eine weitere Verschiebung des Wahrnehmens in der zweiten
Haelfte des 19. Jahrhunderts nachzuweisen, bei der der Aufmerksamkeit
laut Crary eine Schluesselrolle zukommt. Der Begriff der
Aufmerksamkeit ist ein psychologischer, spielte aber als Terminus der
Perzeption respektive der Apperzeption bereits innerhalb der
Erkenntnistheorie seit Leibniz und Kant eine Rolle. Diese Doppelrolle
des Begriffs macht sich Crary als Baustein seines Vorhabens zunutze,
da er in erster Linie psychologische und philosophische Diskurse
kurzschliesst. Die ueber 70 Seiten umfassende Einleitung des Buches
dient dann auch dem Nachweis der Relevanz des Begriffs in den beiden
Wissenschaften seit 1850.

Aufmerksamkeit, erlaeutert der Autor in Anschluss an die gaengige
psychologische Definition, ist das Vermoegen, sich auf bestimmte
Gegenstaende innerlicher oder aeusserlicher Natur unter Ausblendung
anderer gleichzeitg vorhandener Dinge auszurichten - Aufmerksamkeit
als ein selektiver Vorgang. Das zentrale Problem der Aufmerksamkeit
und ihrer Steuerung soll auch dazu dienen, festgefahrene
Vorstellungen ueber die Moderne zu ueberdenken. Gilt die Moderne
allgemein als synonym mit Dissoziation, Zersplitterung (Crary bezieht
sich auf Benjamins "Rezeption der Zerstreuung"), so sieht der Autor
in der Zerstreuung nur ein Symptom. Denn diese kann "nur durch ihre
reziproke Beziehung zum Aufkommen bestimmter Normen und Praktiken der
Aufmerksamkeit verstanden werden."

Tatsaechlich erreicht die Auseinandersetzung mit der Aufmerksamkeit
in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts ihren Hoehepunkt (von
Helmholtz, Fechner und Wundt bis zu Ernst Mach). Das koinzidiert fuer
Crary mit dem Zeitpunkt, an dem eine objektive Kohaerenz der Dinge
wie der Wahrnehmung Schiffbruch erleidet. Dieser Schiffbruch ist in
drei Gemaelden repraesentativ gespeichert: in Manets "Wintergarten"
(1879), Seurats "Parade de Cirque" (1888) und Cezannes "Kiefern und
Felsen" (um 1900). Die drei Bilder entsprechen nach Ansicht des
Autors drei verschiedenen Modellen von Aufmerksamkeit. Neben einer
instinktiven unwillkuerlichen Form derselben, die Crary bei Manet am
Werk sieht, und einer automatischen Variante, die sich bei Seurat ins
Bild gesetzt findet, gibt es eine willentlich gesteuerte
Aufmerksamkeit, die das Wahrgenommene aktiv organisiert und die fuer
Cezannes Bildkonzeption nachgewiesen wird. Zwischen diesen drei
Modellen liegt eine scheinbar teleologische Entwicklung vom
desorientierten zum autonomen Sehen.

Obwohl Crary einen paradigmatischen Status fuer alle drei Gemaelde
behauptet, wirkt die Auswahl ausgesprochen willkuerlich. Die Moderne
scheint zudem wieder einmal nur in Frankreich lokalisierbar. Damit
manifestiert der Autor Klischees innerhalb der Kunstgeschichte, an
deren Differenzierung ihm gerade als Wahrnehmungsforscher eigentlich
gelegen sein muesste. Schliesslich gab es Hypnose und Kinetoskope
nicht nur in Paris. Auch die Verwendung des Begriffs der Moderne
irritiert. Mit was fuer einer Moderne hat man es bei Crary eigentlich
zu tun? Die spaete historische Verortung des Bruchs mit der
klassischen Konzeption von Visualitaet (perspektivischer Tiefenraum,
fester Betrachterstandpunkt) und der Emergenz von Massenmedien
verwundert. Spaetestens um 1800, am praegnantesten wohl bei C. D.
Friedrich, geriet das klassische Modell aus den Fugen und in eine
flaechige Multiperspektivik hinein. Auch das Panorama oder die
Literatur des spaeten 18. Jahrhunderts sind nicht nur Massenmedien,
sondern spiegeln signifikant eine Irritation der Wahrnehmung;
Objektivitaet und ganzheitliche Wahrnehmung waren sogesehen viel
fueher ins Wanken geraten.

Dass das Sehen materiell wird, als Funktion des Koerpers auftaucht,
macht das vielleicht nicht innovative, aber als Umbruchstelle
geeignete Moment in Crarys Geschichte der Wahrnehmung aus. Hegels
intellektuell-kuehler Lieblingssinn findet sich koerperlich
pulsierend wieder. Determiniert von diversen Koerper- und
Nerventaetigkeiten stellt sich mit Recht die Frage, was das moderne
Subjekt eigentlich sieht.

Das Kapitel "Die Befreiung des Sehens" situiert Manets "Im
Wintergarten" als Uebergangsstatus. Die Ambivalenz des Bildes besteht
gerade in der Schwebe zwischen Aufloesung und Bindung des Sehfelds,
was der Doppelnatur der Aufmerksamkeit selbst entspricht. Sie ist
sowohl von aussen regulierbare Instanz sozialer Kontrolle wie
Disziplinierungsmassnahme der Subjektivitaet als auch deren Ausstieg
in die subversive Welt der Trance. Hergeleitet wird das Ganze durch
einen recht assoziativen Parcours durch die neuen Techniken
maschineller Wahrnehmung (vom Kaiserpanorama bis zur
Sequenzfotografie Eadweard Muybridges). Vermisst man haeufig die
Rueckbindung der Exkurse an das Gemaelde, erreicht die Analyse der
malerischen Verfahrensweise eine detailgenaue Auslegung des
unentschiedenen Spiels zwischen buehnenhaftem Bildraum, der gerade in
Hinsicht auf den Tiefenraum und die Lokalisierbarkeit der Dinge nicht
mehr funktionieren will, aber bei diesem Konzept noch Anleihen macht,
und der versuchten radikalen Preisgabe des Raums und einer
gegenstandsdefinierenden Malweise. Die finale These, dass das Zentrum
des Gemaeldes aus einer Leere besteht, die durch die (Nicht-)Blicke
des dargesellten Paars im Wintergarten ausgeloest wird, leuchtet in
diesem Kontext ein.

Im naechsten Kapitel "Illuminationen der Entzauberung" ist mit
Seurats "Parade de Cirque" nicht nur die Schwelle zur Aufloesung des
Bildraums, sondern insbesondere die Aufloesung der individuellen
Subjektivitaet erreicht. Ist es bei Manet noch die Leere einer
Paarbeziehung, wird nun die Leere auf kollektiver Ebene thematisch.
An die Stelle ehemaliger Verbindlichkeiten tritt das Spektakel.
Anhand weitlaeufiger Argumentationsstraenge weist Crary ueber
Helmholtz' physiologische Optik und Ernst Machs mathematische
Erkenntnis, dass die Welt aus permanent sich verschiebenden
Empfindungskomplexen besteht, nach, wie unmittelbare und konsistente
Praesenz von Dingen epistemologisch an ihr Ende gelangt. Anhand von
Le Bons "Psychologie der Massen" (1895) sieht Crary in Seurats
Gemaelde das suspendierte Bewusstsein des modernen Menschen zutage
treten, der sich als Automat innerhalb einer Kultur des Spektakels
unaufmerksam lenken laesst. Die Interpretation des Bildes als
"inkarnierter Versuch, Mythos und Musik als sozialen Ritus zu
verbinden" kann trotz Querverweisen auf Wagner alles andere als
ueberzeugen.

In "Die Neuerfindung der Synthese", dem in sich schluessigsten
Kapitel des Buchs, geht es dem Autor darum, wie unter veraenderten
Vorzeichen eine aktive Praesenz des wahrnehmenden Auges wie des
wahrgenommenen Gegenstands reorganisiert wurde. Die bei Seurat
automatisierte Wahrnehmung verwandelt sich bei Cezanne wieder zur
bewussten Taetigkeit. Die Aufmerksamkeit wird selbstreflexiv. Mit
Wilhelm Wundts "Grundzuege der physiologischen Psychologie" (1874)
erlaeutert Crary das Verhaeltnis des Blickfelds zum Blickpunkt, von
deutlich konturiertem, optischen Zentrum und unscharfer Peripherie.
Eine dialektische Konstellation, die fuer das Panorama, das
Stereoskop, die wissenschaftliche Apparatur des Tachistoskops wie
fuer Cezannes "Kiefern und Felsen" gleichermassen konstitutiv ist.
Nach Crary gelangt Cezanne parallel zur zeitgenoessischen Forschung
(Charles Scott Sherrington) zu der Erkenntnis, dass Wahrnehmung und
physische Bewegung aufs engste miteinander verbunden sind.
Wahrnehmung ist eine permanente Transformation, die bewusst
wahrgenommen werden kann und zum zum kuenstlerischen Material
generiert. Statik wird von Dynamik abgeloest, und die Dynamisierung
des Bildraums ist in "Kiefern und Felsen" evident. Allerdings blendet
Crarys Entdeckung der selbstreflexiven Aufmerksamkeit bei Cezanne
aus, dass die unendliche Reflexion der deutschen Romantiker (F.
Schlegel) zwar eine andere Begrifflichkeit benutzt, unterm Strich
jedoch Vergleichbares meint. Der Beobachter zweiter Ordnung ist keine
Erfindung um 1900.

Der "Epilog" findet in Rom statt. Ein Brief Freuds an seine Familie
aus dem Jahr 1907, selbst eher eine wissenschaftliche Miszelle, dient
Crary nicht nur als Shift in die Klassische Moderne, sondern als
Beweis der besiegelten Statusveraenderung des Betrachters. Der
bewusst-aufmerksame Freud laesst sich auf der Piazza Colonna naemlich
nicht von den Kinoprojektionen verwirren. "Freuds Modernitaet
[besteht] nicht zuletzt darin, dass er eine Technik fuer den Umgang
mit einem Informationsstrom bereitstellt, der keine erkennbare
Struktur oder Kohaerenz besitzt." Mit konstanter Aufmerksamkeit
verfolgt der Psychoanalytiker das Geschehen.

Die Intention des Buchs, eine Verschiebung innerhalb der modernen
Subjektivitaet in der Wechselwirkung mit der Emergenz neuer
Technologien zu beschreiben, gelingt. Allerdings fragt man sich, ob
nicht auch andere Phaenomene als das der Aufmerksamkeit dazu geeignet
gewesen waeren. Der nicht unbedingt leserfreundliche essayistische
Stil laesst haeufig stringente Argumentationsfuehrungen vermissen.
Auch der Begriff der Aufmerksamkeit, in den Kognitionswissenschaften
lange als voellig unscharf diskreditiert, bereitet Schwierigkeiten,
die Crary aber geschickt umgeht. Durch den lapidaren Hinweis, dass
Aufmerksamkeit nicht mit Bewusstsein gleichzusetzen waere, schliesst
er schwierige Problemkonstellationen, wie denn beispielsweise
Sinnesdaten ueberhaupt in Bewusstseinsdaten uebergehen, einfach aus.
Eine naehere Differenzierung der Aufmerksamkeit in Abgrenzung zu
unwillkuerlichen Empfindungen und willensabhaengigen Vorstellungen
liegt somit auch nicht vor, weswegen Crary seinen Hauptbegriff je
nach Argumentationslage in die eine oder andere Richtung oszillieren
lassen kann. Obwohl immer wieder von der Interdependenz der neuen
Wahrnehmungsmodelle mit den Produktionsbedingungen des Kapitalismus
die Rede ist, bleibt es bei kurzen, sich ideologiekritisch gebenden
Statements, die zwar durch das gesamte Buch maeandern, aber hoechsten
dem Anspruch des Populaermarxismus genuegen.

Crary hat aber eine unglaubliche Materialfuelle verarbeitet, die er
vor dem methodischen Crossover von Medientheorie und Diskursanalyse
neu zusammendenkt. Interessant ist bei der Menge an bibliographischen
Verweisen, dass nun gerade Georg Francks "Oekonomien der
Aufmerksamkeit. Ein Entwurf" von 1998, die eine aehnliche Dreiteilung
des Phaenomens vornehmen, fehlen. Doch im Gegensatz zur mangelhaften
Uebersetzung der "Techniken des Betrachters", die aus diesem Grund
nach kuerzester Zeit verramscht werden mussten, ist die teilweise
etwas blumige Uebersetzung von Heinz Jatho zitierfaehig.

Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2002
ISBN-13: 978-3-518-58321-0, 408 S, EUR 39.90

Empfohlene Zitation:
Jutta Voorhoeve: [Rezension zu:] Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002. In: ArtHist.net, 21.08.2002. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/199>.

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