Wozu Kunst?
Angesichts knapper Haushaltskassen von Bund, Laendern und Gemeinden wird das Geld fuer meist kostspielige Kunstausstellungen immer mehr gekuerzt, Fragen nach der Legitimation fuer die hohen Aufwendungen werden laut: Was rechtfertigt die Ausgabe von Steuergeldern fuer die Foerderung von Kunst? Und wozu braucht der Mensch eigentlich Kunst? Ein Antwort auf diese Fragen zu suchen wird den meisten Kuenstlern und den im Kunstbereich Taetigen arg widerstreben, wird doch eben durch Zweckfreiheit und Autonomie der Wert der Kunst seit dem Beginn der Moderne begruendet. Gerade deutschsprachige Philosophen wie Kant, Schlegel und Adorno haben in ihren Schriften die unmittelbare Zweckfreiheit von Kunst immer wieder postuliert und bestaerkt. Das Buch "Wozu Kunst"? stellt sich ohne "autonomieaesthetische Voreingenommenheit" der Frage nach den Funktionen der Kunst und versucht in den Beitraegen von zehn Autorinnen und Autoren, die alle aus dem Fachgebiet der Philosophie kommen, verschiedene Antworten zu finden. Die Beitraege wurden im Sommer 2001 in einer Vorlesungsreihe an der Universitaet Hamburg im Warburg-Haus und auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vorgetragen. Im folgenden werden fuenf Aufsaetze aus dem Buch herausgegriffen und vorgestellt.
Reinold Schmuecker versucht im ersten Beitrag die im 20. Jahrhundert immer wieder formulierte Autonomiethese zu widerlegen. Irrigerweise setzt er dabei Autonomie mit voelliger Funktionslosigkeit gleich. Dass auch von Vertretern der Autonomiethese der Kunst "sekundaere Zwecke" zugestanden wurden, fuehrt er als Beweis des Vorhandenseins unmittelbarer Funktionen von Kunst an. Der von ihm aufgestellte Funktionskatalog, innerhalb dessen er generelle und potentielle Funktionen unterscheidet, bildet dennoch eine gute Uebersicht ueber die Wirkungsmoeglichkeiten von Kunst. Unser Urteil ueber ein Kunstwerk bemisst sich nach Schmuecker nicht allein an aesthetischer Qualitaet, sondern haengt auch von einer Bewertung verschiedener Funktionen (z.B. der sozialen, dekorativen oder kommunikativen Funktion) ab, die von jedem Betrachter unterschiedlich gewichtet wuerden. Verschiedene Meinungen ueber den Wert eines Kunstwerkes resultierten aus der individuell unterschiedlichen Hierarchisierung der Funktionen. Solche Dissense liessen sich nicht auf kunsttheoretischer Ebene loesen, sondern hoechstens durch ethische Argumentation. Schmuecker selbst bleibt hier bei der deskriptiven Funktionsbeschreibung stehen und entzieht sich einer kritischen Bewertung der einzelnen Funktionen.
Die folgenden Beitraege des Buches konzentrieren sich auf die Erkenntnisfunktion von Kunst. Oliver R. Scholz z.B. beschreibt plausibel, wie Kunst unsere kognitiven und emotionalen Faehigkeiten verfeinern und neue Erkenntnisse bis hin zu neuen Wahrheiten vermitteln kann, auch oder gerade durch emotionales Erleben von Kunst, das mit der rein aesthetischen Wahrnehmung verknuepft ist. Erkenntnis moechte er hier nicht im herkoemmlichen Sinne mit der blossen Vermehrung von Wissen auf rein theoretisch-abstrakter Ebene verstanden wissen, sondern auch in der Schulung emotionaler Faehigkeiten und moralischen Urteilsvermoegens. Unsere durch Begriffe beschriebenen Erkenntnisse erweitern sich durch die anderen (zumeist nonverbalen) Darstellungsmoeglichkeiten von Kunst erheblich. Scholz streitet hier daher in seiner Argumentation fuer eine Ausweitung des Erkenntnisbegriffes in den herkoemmlichen Erkenntnis- theorien.
In Bernd Kleinmanns Beitrag stehen nicht einzelne Funktionen der Kunst im Vordergrund, sondern die Bestimmung der Beschaffenheit des Reizes, der von Kunstwerken ausgeht. Er beschreibt verschiedene Problematiken in vorangegangenen Theorien, (so geht er z.B. auf Kants Theorie des interessenlosen Wohlgefallens explizit ein), findet neue, passendere Begrifflichkeiten, und kommt zu dem Schluss, das der Reiz eines Kunstwerks in der moeglichen Erfuellung des Beduerfnisses nach Erfahrungsreflexion besteht. Letztlich schreibt also auch er der Kunst eine Form der Erkenntnismoeglichkeit zu, die er kurzerhand zu ihrer Funktion erklaert.
Marcus Duewell fragt in seinem Aufsatz nach dem Verhaeltnis von aesthetischen und moralischen bzw. ethischen Prinzipien. Duewell erkennt wie schon einige Autoren vor ihm in der aesthetischen Erfahrung einen spielerischen und distanzierten Umgang mit der Realitaet, in der eine ethische Reflexion stattfinden und moralische Handlungsmoeglichkeiten erschlossen werden koennen. Mit Hilfe eines nur sehr knapp erklaerten und daher schwer nachzuvollziehbaren Ansatzes des amerikanischen Philosophen Alan Gewirth erklaert Duewell diese potentielle Erweiterung unserer Handlungsmoeglichkeiten als ein moralisch wertvolles und daher schuetzenswertes Gut.
Christian Thies geht es in seinem Beitrag ebenfalls um das Verhaeltnis von Aesthetik und Moral. Anfangs nennt er knapp die schon bekannten Positionen, ordnet sie den einzelnen Traditionen zu und schafft damit einen guten Ueberblick ueber verschiedene Autoren sowie den aktuellen Diskussionsstand. Genauer geht er auf die Ansaetze ein, die Kritik an der Autonomie der Kunst ueben, die eine Verschmelzung von Kunst und Leben fordern oder das Leben ueberhaupt unter das Primat des Aesthetischen stellen wollen und Aesthetik mit Ethik gleichsetzten. Thies lehnt diese "Aesthetisierung normativ-praktischer Probleme" ab, und begruendet, warum in einer so ausdifferenzierten Welt wie der heutigen das Aesthetische das Moralische nicht ersetzen kann, bzw. wo und warum moralische und aesthetische Kategorien auseinanderfallen. Bei einer Aufhebung der Kunst im Leben naehme nach Thies sowohl das Leben selbst als auch die Kunst Schaden - es bliebe letztlich nur ein Leben ohne Kunst. Demnach ver- kommen laut Thies auch die Werke solcher Kunstrichtungen - als Beispiel nennt er die Pop Art - die eben diese Vereinigung suchen, schnell zu Waren einer Kulturindustrie, denen er jegliche relevante aesthetische Erfahrungens- moeglichkeiten abspricht. So streitet Thies fuer eine Autonomie der Kunst sowohl aus normativ-praktischen als auch aus aesthetischen Gruenden. Im letzten Teil seines Beitrages erlaeutert er sein Verstaendnis von Autonomie, das sich z. B. von dem Reinhold Schmueckers erheblich unterscheidet.
Das Buch ist das spannende Unternehmen, ueber alternative Funktionen der Kunst neben einer rein aesthetischen zu sprechen. Aeltere Positionen der Kunst- und Aesthetiktheorie werden dazu immer wieder aufgegriffen, beleuchtet und neu verarbeitet; statt einer eindeutigen und endgueltigen Antwort auf die Frage "Wozu Kunst" werden so verschiedene Denkanstoesse geliefert. Innerhalb des Buches wiederholen sich allerdings die Argumente oft und einzelne Autoren verlieren sich in fuer die Fragestellungen nicht unmittelbar relevanten Details. Haeufig wird zudem darauf verzichtet, die einmal bestimmten moeglichen Kunstfunktionen auch zu bewerten - ein blosses Vorhandensein einer Funktion sagt noch laengst nichts ueber die Existenzberechtigung von Kunst aus, schliesslich gibt es manchmal auch andere Mittel, um die ein oder andere genannte Funktion zu erfuellen. Was aber ist die existentielle Bedeutung von Kunst? Die Frage bleibt offener, als sie es muesste, die Lektuere des Buches insgesamt faellt damit nicht ganz zufriedenstellend aus.
Dennoch: Fuer alle, die ueber Sinn und Zweck (nicht nur) zeitgenoessischer Kunst nachdenken, bietet das Buch hilfreiche Anregungen und Argumente, die fuer die Kunst und damit indirekt auch fuer die Notwendigkeit von Kunstfoerderung sprechen. Man moechte dem Buch insbesondere die groessten Zweifler als aufmerksame Leser wuenschen.
Kleimann, Bernd; Schmücker, Reinold (Hrsg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001
ISBN-10: 3-534-15142-9, 218 S
Recommended Citation:
Schröter Kathleen: [Review of:] Kleimann, Bernd; Schmücker, Reinold (Hrsg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001. In: ArtHist.net, May 8, 2002 (accessed Dec 26, 2024), <https://arthist.net/reviews/191>.
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